Zu hohe Facebook-Nutzerzahlen Die mysteriösen Millionen

Der Fall klingt kurios: Eine australische Webseite wirft Facebook vor, in vielen Regionen angeblich mehr Nutzer zu haben, als dort Einwohner leben. Auch viele deutsche Medien haben den Vorwurf aufgegriffen. Was ist dran?

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Der Konzern berechnet die Preise für werbetreibende Unternehmen unter anderem nach der Zahl der erreichten Nutzer. Doch oft passt die angegebene Reichweite nicht mit der Realität zusammen. Quelle: dpa

Düsseldorf Die Zahlen klingen zu schön, um wahr zu sein: Wer eine Werbeanzeige bei Facebook schaltet, kann damit in Deutschland rund zwölf Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren erreichen, so die Schätzung des Unternehmens. Die sogenannten Millennials gelten in Werbekreisen als die Kaufkraft von morgen – entsprechend begehrt sind Werbeplätze, mit denen man genau diese Zielgruppe erreicht. Das Problem: Es gibt in Deutschland nur rund 9,2 Millionen Personen, die dieser Altersgruppe angehören. Die Nutzerzahlen von Facebook können also nicht stimmen. Oder?

Das australische Werbebranchen-Portal „Adnews“ hat diesen Test in zwölf Ländern durchgeführt und so deutlich übertriebene Millennial-Reichweiten in neun Ländern gefunden. Im Heimatmarkt USA beispielsweise werbe Facebook mit einer geschätzten Reichweite von 65 Millionen Nutzern im Alter zwischen 20 und 29 Jahren, so die Autoren. Dort leben allerdings nur 46 Millionen Menschen in diesem Alter. Die Differenz beträgt mehr als 40 Prozent. Ähnlich stellt sich die Situation laut Studie in Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, Brasilien und Australien dar – während die Facebook-Schätzungen in Japan, Südafrika und Russland moderater ausfallen.

Viele Medien haben die „Adnews“-Studie aufgegriffen und werfen den Betreibern nun vor, ihr Netzwerk größer zu machen, als es ist. Tatsächlich stimmen die Zahlen von „Adnews“ – das „Handelsblatt“ konnte die Ergebnisse in mehreren Versuchen wiederholen. Doch wie so oft gilt: Es gibt verschiedene Wege, die Zahlen zu interpretieren.

Wie Facebook selbst mitteilt, wird die geschätzte Reichweite von vielen Faktoren beeinflusst, darunter Nutzerverhalten, Nutzerdemographie und Standortdaten. In den zwölf Millionen 20- bis 29-Jährigen in Deutschland sind demnach alle Personen enthalten, die sich derzeit in Deutschland aufhalten, und nicht nur diejenigen, die in Deutschland wohnen. Grenzt man die Suche auf deutschsprachige Nutzer ein, schätzt Facebook die Reichweite nur noch auf 9,2 Millionen Personen. Und liegt damit ziemlich exakt bei den offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamts.

Der Grund für die Diskrepanz liegt in der Messmethodik von Facebook: Weil sich der Konzern bei seinen Reichweitenschätzungen auf Standortdaten verlässt, die ungenau sein können, zählen manchmal auch die Bewohner von Grenzgebieten anderer Länder zur Zielgruppe. Auch Touristen können die geschätzte Reichweite nach oben treiben. Jens Wiese vom Experten-Blog Allfacebook.com sagt: „Hinzu kommt, dass die Schätzungen auf einer Analyse der Vergangenheit beruhen.“ Er rechnet damit, dass beispielsweise nach der Automesse IAA in Frankfurt die Reichweitenschätzungen dort „deutlich nach oben“ gehen – weil sich zu Messezeiten viel mehr Menschen in der Stadt aufhalten als normalerweise. Wer kurzfristig Reisende von seiner Werbung ausschließen will, kann entsprechende Einstellungen bei der Anzeigenschaltung vornehmen.


Mediaagenturen fordern „Transparenzoffensive“

Andere Interpretationen gehen dagegen davon aus, dass Facebooks Reichweitenschätzungen vor allem durch doppelte und Fake-Accounts nach oben getrieben werden. Im Geschäftsbericht von 2016 schätzt der Konzern selbst, dass rund sieben Prozent der Nutzerprofile nicht von realen Menschen genutzt werden. Aus den zwei Milliarden monatlich aktiven Nutzern, mit denen Facebook wirbt, werden diese Accounts demnach herausgerechnet. Allerdings ist auch das nur eine Schätzung.

Inan Hayirli, Medienökonom und Gründer der Beratungsfirma Social-Media-Agenten, vertraut den Zahlen des Netzwerks zwar grundsätzlich. „Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass die Zahl doppelter oder falscher Accounts je nach Zielgruppe auch mal über sieben Prozent liegt.“ Ein klassisches Beispiel: Die Ehefrau, die ihren Mann mit einem Zweitaccount ausspionieren will. „Gibt die in ihrem Zweitprofil unwahre Daten oder Interessen an, kann das ein Problem sein.“

Trotz der zweifelhaften Datenbasis kann sich die „Adnews“-Studie für Facebook also zum Glaubwürdigkeitsproblem entwickeln. Denn der Konzern rechnet Anzeigenschaltungen unter anderem nach der Zahl der erreichten Nutzer ab. Die Betreiber betonen, dass etwaige Fehlschätzungen bei den im Vorfeld ermittelten Reichweiten bei der Abrechnung keine Rolle spielen: Bezahlt wird demnach nur die Zahl der Nutzer, die den Beitrag am Ende auch wirklich gesehen haben.

Ob darunter aber auch Menschen mit mehreren Accounts sind, für die Werbetreibende womöglich doppelt zahlen, kann Facebook nicht sagen – und verweist auf die Geschäftsbedingungen, die Mehrfachanmeldungen und Fake-Accounts verbieten. Wie viele echte Menschen hinter den zwei Milliarden Nutzern stecken, weiß also niemand mit hundertprozentiger Sicherheit. Mit dem Einsatz von Social-Media-Robotern im Wahlkampf könnte die Debatte um „Geisterprofile“ nun zusätzlich Fahrt aufnehmen.

Schon länger fordern Werbetreibende und Mediaplaner mehr Klarheit darüber, wie Facebook, Google und andere Online-Riesen ihre Reichweite messen. Bei den klassischen Medien etwa führt die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) regelmäßig unabhängige Untersuchungen durch, der Verein wird von Medienunternehmen und Werbetreibenden in Zusammenarbeit betrieben. Facebook wiederum lässt seine Zahlen seit 2008 von inzwischen 24 Unternehmen unabhängig prüfen, darunter der Software-Konzern Oracle sowie die Marktforschungsinstitute Nielsen und Kantar Millward Brown.

Klaus-Peter Schulz, Geschäftsführer des Branchenverbands Organisation der Mediaagenturen (OMV), fordert mehr Offenheit von den großen US-Internetkonzernen: „Die Diskussion um Qualität und Wirkung von Social-Media-Werbung wird in den nächsten Monaten intensiv geführt werden. Es ist Zeit für eine Transparenzoffensive.“

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