Klassische Moderne Madame Cézanne wurde aufgegessen

Die Schriftstellerin Gertrude Stein baute zusammen mit ihren Brüdern eine der interessantesten Sammlungen mit Klassischer Moderne auf. Paris wagte sich an ihre Rekonstruktion.

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Ausgestellt im Grand Palais: die Sammlung von Gertrude Stein und ihren Brüdern. Quelle: emy de la Mauviniere/AP/dapd

Von einem Meisterwerk zum nächsten führt der überwältigende Rundgang durch die  rekonstruierte Sammlung der Avantgarde-Schriftstellerin Gertrude Stein und ihrer Brüder im Pariser Grand Palais. Zwischen 1902 und 1904 etablierten sich die Geschwister Stein in der Seine-Stadt und begannen mit dem Aufbau einer Sammlung. Sie rafften sie förmlich zusammen, die revolutionären Gemälde von Pablo Picasso, Henri Matisse, Paul Cézanne, Paul Gauguin und André Dérain.

Sicheres Gespür für Genialität

Vor Begeisterung über die Qualität dieser Sammlung vergessen die Besucher des Grand Palais die Zeit. Sie bestaunen das schmale Hochformat von Picassos „Pferdeführer“ (1905/06), auf dem ein nackter Knabe ein weißes Pferd am Halfter hält. Oder sie verweilen vor einem Aktgemälde aus der rosa und blauen Periode von Picasso und vor den farbgewaltigen Akten und Porträts von Matisse, die in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts in Paris entstanden. Damals entwickelte sich Matisse mit seiner kräftigen Farbgebung zum Anführer der jungen Wilden, der sogenannten „Fauves“.

Die jungen Amerikaner Gertrude Stein (1874–1946), ihr Bruder Leo (1872–1947), der ältere Bruder Michael (1865–1938) und dessen Frau Sarah (1870–1953), die sich im 6. Pariser Arrondissement niederließen, erwarben, förderten und frequentierten die aufkommenden Avantgarde-Maler mit sicherem Gespür für Geniales. Sie lebten umgeben von den Werken.

80 Mal Modell gesessen

Cézannes Gemälde der „Madame Cézanne mit dem Fächer“, das Gertrude und Leo 1904 auf dem Pariser „Herbstsalon“ erstanden, beeinflusste Picasso von der Farbwahl bis zur Linienführung der Augenbrauen und der Nase für sein berühmtes Porträt „Gertrude Stein“ von 1906. Angeblich musste die mit Picasso befreundete Gertrude Stein 80 Mal Modell sitzen. Trotzdem fanden viele Kritiker, das Porträt sähe ihr nicht ähnlich. „In einigen Jahren wird sie so aussehen,“ entgegnete der selbstbewusste Picasso nonchalant auf diese Vorwürfe.

Familie Stein als Mäzen

In den 1930er-Jahren zerbrach die Freundschaft zwischen Picasso und Gertrude Stein. Das überdimensionierte Ego der beiden Künstler-Titanen zertrümmerte – im übertragenen Sinne – nicht nur die Bildfläche und die Sprachmelodie, sondern auch Freundschaften. Gertrude behielt ihr Porträt bis zu ihrem Tode 1946 in Paris. Dann schenkte sie es dem Metropolitan Museum of Art in New York, das es jetzt ausleiht.

Die Pariser Schau präsentiert die Familie Stein als die ersten Mäzene von Picasso und Matisse. Sie akquirierten die Werke der jungen Maler auf dem „Herbstsalon“ und bei den Galeristen Ambroise Vollard und Daniel Kahnweiler. Darüber hinaus machten sie Picasso und Matisse miteinander bekannt und dank ihrer internationalen Beziehungen und Empfehlungen an andere Amerikaner schließlich auch berühmt. Im gemeinsamen Wohnzimmer von Gertrude und Leo Stein und bei Sarah und Michael Stein trafen sich an jedem Samstag Intellektuelle, bildende Künstler und Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder Francis Scott Fitzgerald.

Der Entdecker von Matisse

Leo, der selbst malte und kunsttheoretische Schriften verfasste, begann mit Käufen von Edouard Manet, Pierre-Auguste Renoir, Edgar Degas und Paul Cézanne. Die Schau präsentiert ihn als den eigentlichen Entdecker von Matisse. Sein Bruder Michael und dessen Frau Sarah verehrten Matisse quasi mystisch. Sie regten Matisse an, 1908 eine Malschule zu eröffnen, wo Sarah Unterricht nahm. Während der gemeinsam verbrachten Ferien malte Matisse die Porträts der Familie: das klar konturierte Oval von Sarahs Gesicht, den Lockenkopf Allan, ihren Sohn, und dessen Vater Michael.

Sorgloses Leben in Paris

Die Eltern der Geschwister Stein hatten in San Francisco mit dem Bau der Straßenbahn ein kleines Vermögen erworben, das Michael verwaltete. Es ermöglichte den Steins ein sorgloses Leben in Paris und den Aufbau einer Sammlung von rund 600 Werken. In Paris sieht man zirka ein Drittel davon. Die meisten Gemälde gehören amerikanischen Museen und Stiftungen, da die Steins, wie alle guten Sammler, laufend Werke verkauften, um mehr Stringenz und Kohärenz in ihre Kollektion zu bringen.

Als sich Leo und Gertrude 1913 zerstritten, teilten sie ihre Sammlung auf. Grob gesehen behielt Leo die Gemälde von Matisse, Gertrude die von Picasso. Leo verkaufte viele Renoirs an den US-Sammler Albert Barnes, dessen Gemälde Philadelphia nicht verlassen dürfen. Sie fehlen dementsprechend in der Schau. Gertrudes spätere Entdeckungen, darunter die Gemälde von André Masson, Francis Picabia oder Juan Gris, zeigen nicht die gleiche Stärke wie die gemeinsam mit Leo erworbenen Werke.

Tatenloser französischer Staat

Michael, Sarah und ihr Enkel Daniel Stein zogen 1935 mit ihren Gemälden nach Kalifornien zurück, wo sich Sarah nach dem Tod ihres Mannes sukzessive von wichtigen Gemälden trennen musste. Auch Gertrude und ihre ergebene Sekretärin und Lebensgefährtin Alice Toklas, die in Frankreich blieben, waren während des Zweiten Weltkriegs gezwungen, sich von einigen Werken zu trennen. „Wir haben Madame Cézanne aufgegessen“, kommentierte die ironische Gertrude.

Das New Yorker MoMA (Museum of Modern Art) kaufte 1968 den Nachlass von Gertrude Stein auf. Der französische Staat blieb tatenlos. Weder konnte er sich Anfang des 20. Jahrhunderts dazu entschließen, Meisterwerke anzukaufen, noch 1968. Im frühen 20. Jahrhundert, als die Familie Stein die Maler-Genies entdeckte, entschied sich der französische Staat für die konventionellen Maler des offiziellen „Salon“. Auch 60 Jahre später überließen die Franzosen die Stein-Sammlung den zahlungswilligen Amerikanern.

Die Ausstellung „Matisse, Cézanne, Picasso... Die Familie Stein“ läuft bis 16. Januar 2012 im Grand Palais und vom 1. Februar bis 3. Juni im Metropolitan Museum of Art in New York. Der Katalog „Matisse, Cézanne, Picasso... L'aventure des Stein“ kostet 50 Euro. Der e-Katalog für iPad auf französisch und englisch kostet 19,99 Euro, das e-Album für iPad auf französisch und englisch 4,99 Euro.

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