Kunst "Trauma, Sehnsucht, Inspiration"

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Sie hätten Ihr Leid auch in Worte fassen können.

Eben nicht. Ich war früher fast sprachunfähig. Mich über Worte auszudrücken habe ich erst später gelernt – im Rheinland, wo man ja heiter und schamlos alles verbal äußern kann. Das tut man im Norden nicht.

Das ist doch ein Klischee.

Eine typische Unterhaltung läuft hier doch so ab: „Kannst du dat seihn?“ „Jou, ick seih dat ook.“ Mehr Worte wurden nicht gemacht. Über das, was man sah, bestand schweigender Konsens. Mir lag das Zeichnen als Ausdrucksform einfach näher.

Zeichnen als Krankheit und Therapie?

Als fast krankhafter Ausdruck autistischen Handelns. Um alphabetisches Denken auszulöschen und das Imaginative, das » Ungenannte zu leben. Erst wo die Sprache versagt, beginnt das Bild. Da sind viele meiner Arbeiten durch Wustrow geprägt.

Welche meinen Sie konkret?

Nehmen Sie „Chichicastenango“: Ein kleines Holzboot, ähnlich dem, mit dem ich als kleiner Junge übers Haff gefahren bin. Ich habe es mit schwarzer Farbe bemalt, nahm Nägel, viele Nägel, und fing an zu hämmern – bis niemand mehr das Boot besteigen konnte. Ich legte den Mast um, machte ihn mit Nägeln unbrauchbar. Ein schwarzes Mahnmal mit dem weißen Segel der Barmherzigkeit. Oder meine Aschebilder, entstanden als Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl. Damals wurde mein Sohn Jacob geboren, ich hatte panische Angst um ihn und seine Mutter. Die Bilder sind Ergebnis epileptischen Handelns. Ich legte mich rücklings auf die Leinwand, habe mit Kohle und Asche meine Umrisse festgehalten, mit Leim und Asche die Flächen vermalt – alles aus diesem unmittelbaren Empfinden heraus. Bis man atemlos wird und versteinert.

Waren Sie schon als Kind so besessen?

Wie oft saß ich als Kind am Ufer, habe an Bilder von Ernst Josephson gedacht. Eigenartige Zeichnungen von einer Königin mit vielen Punkten im Gesicht. Die wurde richtig lebendig, wenn ich sie anschaute und in ein Zwiegespräch geriet zwischen Gezeichnetem, Wahrnehmung und Erlebtem. Ein Dialog des inneren Erlebens.

Eine bewundernswerte Gabe...

Mich hat das damals vor allem einsam gemacht. Es gehörte zu meinem Leben, nicht verstanden zu werden. Aber ich merkte, dass das Zeichnen etwas Herausragendes, Impertinentes ist. Das zu erfassen, was ich sehe und spüre.

Und wie lange haben Sie den Wunsch in sich gespürt, zurückzukehren?

Immer. Schon als wir 1949 gehen mussten, habe ich geheult. Wir bekamen neues Land in der Nähe. Dort habe ich mich aber immer fremd gefühlt. Von Wustrow kam ich, das ist meine Heimat. Herkunft und Zukunft zugleich.

Warum dann die vielen Reisen?

Weil ich hoffte, das, was ich auf Wustrow erlebt hatte, anderswo wiederzufinden. Ob in Laos, Patagonien oder am Baikalsee. Herumstochern in der Welt, das wollte ich.

Anfang der Fünfzigerjahre war Ihre Welt der reale DDR-Sozialimus in Nordwest-Mecklenburg. Wie haben Sie das ausgehalten?

Anfangs sehr gut. Als Arbeiter- und Bauernkind kam ich auf eine Kaderschule.

Was haben Sie dort gelernt?

Dass, im Sinne des russischen Dichters Wladimir Majakowski, die Poesie mit dem Hammer gemacht wird. Wenn ich zeichnete, spürte ich die Faust. Das ist der wahre Ausdruck, nicht bloß der Schatten des Handelns. So kam ich übers Pflügen, Eggen und Säen zum plastischen Ausdruck. Das hat mein ganzes Leben geprägt.

Dass Kunst in der DDR Propagandamittel war, hat Sie nicht gestört?

Kunst im Dienste der Partei – das habe ich damals akzeptiert. Ich habe riesige Stalin-Porträts gemalt, wie Kinowerbung, für die Weltjugendspiele 1951 in Ost-Berlin eine riesige Picasso-Taube. Oder Plakate mit Propagandasprüchen, mit denen die Ostseeurlauber an die letzten Parteitagsbeschlüsse erinnert wurden. Ich war FDJ-Funktionär, hielt Bauern Schulungsvorträge über die bevorstehende Umwandlung der Gesellschaft, fuhr mit Chauffeur über die Dörfer, um zu kontrollieren, ob die Propaganda-Plakate auch richtig hingen.

Trotzdem haben Sie 1952 einen Fluchtversuch unternommen. Warum?

Weil die sozialistischen Agrartheorien nicht mit meiner Lebenserfahrung auf Wustrow übereinstimmten. Als ich feststellte, dass meine Zweifel immer geringer wurden, bekam ich panische Angst.

Wovor?

Nicht mehr zu merken, wann ich lüge. Nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 bin ich nach Westberlin geflohen. Dort wurde ich drei Monate von den Alliierten verhört und hauste in einer Kriegsruine.

Warum sind Sie nach Düsseldorf gegangen?

Das wollte ich schon zu DDR-Zeiten, als ich Zeichnungen von Otto Pankok gesehen hatte – Christus, wie er ein Gewehr über dem Knie zerbricht. Da wusste ich: Er ist mein Mann. Er war als Kommunist unter den Nazis verfolgt worden und lehrte an der Akademie in Düsseldorf. Also bin ich dorthin getrampt, habe im Freien geschlafen. Und in Düsseldorf dann in Gartenlauben oder den Geschäftseingängen der Kö.

Wo Pankok Sie mit offenen Armen empfangen hat, den Gesinnungsgenossen aus dem Osten?

Von wegen. Als er hörte, woher ich kam, riet er mir, wieder zurückzukehren. Im Westen würde ich nur verdorben. Das hat mich so geschockt, dass ich zusammenbrach. Pankok schrieb mich dann sofort an der Akademie ein und ließ mich in den Klassenräumen schlafen. Und seine Frau hat mir sonntags Kuchen gebacken.

Hatte Pankok recht – wurden Sie verdorben?

Das müssen andere beurteilen. Was ich wohl weiß: Hierher nach Wustrow zurückzukommen ist auch ein Risiko für mich.

Welches?

Mit der durch die Rückkehr provozierten Erinnerung meine Sehnsucht auszulöschen, meine Inspiration zu bannen. Und damit den Künstler in mir zu vernichten.

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