Gestern Raubbau, heute Wirtschaftswunder: Im Dresdner Stadtteil Gittersee überdecken die neu und wieder gegründeten Unternehmen die untergegangenen aus DDR-Zeiten.
Bis Anfang der Sechzigerjahre panschte hier noch der berüchtigte deutsch-sowjetische Rohstoffkonzern Wismut mit Uranerz und Schwefelsäure. Dann breitete sich auf einem Teil des Geländes eine staatseigene Chemie- und Reifenfabrik aus. Die schädlichen Hinterlassenschaften mussten nach der Wende für 46 Millionen Euro Steuergeld Kubikmeter für Kubikmeter weggeschaufelt werden, um 2001 ein neues Gewerbegebiet einzurichten.
Heute residieren auf dem Areal 60 Privatbetriebe – mittendrin die Stollenbäckerei Dr. Quendt. Das Unternehmen, benannt nach seinem Gründer, dem promovierten ostdeutschen Lebensmitteltechniker Hartmut Quendt, macht inzwischen 20 Millionen Euro Jahresumsatz, beschäftigt zur Hochsaison wie gerade im Herbst 200 Mitarbeiter und ist Marktführer bei Stollen mit dem Dresdner Herkunftssiegel. Kaum zu glauben, dass die weit über Sachsen hinaus bekannte Marke aus den Resten eines staubigen DDR-Backkombinats hervorgegangen ist, welches damals „die Versorgung der lokalen Bevölkerung mit Backwaren sicherstellen“ sollte, wie es in einer dürren Anweisung der SED-Wirtschaftsbürokratie hieß.
Ernüchternde Bilanz
25 Jahre nach dem Mauerfall am 9. November 1989 blüht der Osten längst nicht überall wie vom Einheitskanzler Helmut Kohl (CDU) versprochen, dafür aber hier und da. Dabei bildeten Reste der einst volkseigenen Betriebe, kurz: VEB, nicht nur ein Ruinenfeld, sondern wie bei Dr. Quendt bisweilen auch den seltenen Humus für einen Neuanfang. Keine Frage, die Ostunternehmer haben es weiterhin schwer auf dem Markt, die Bilanz für die Zeit nach der Wende fällt insgesamt ernüchternd aus. Trotz rasanter Aufholjagd sind die neuen Bundesländer in Deutschland immer noch Schlusslicht bei der Wirtschaftsleistung je Einwohner. Innovative Großbetriebe, bei denen Produktivität und Löhne höher sind als im gesamtdeutschen Durchschnitt, sind nach wie vor die große Seltenheit.
„Gegenüber Westdeutschland weist Ostdeutschland auch 25 Jahre nach dem Mauerfall erhebliche Strukturschwächen auf“, diagnostiziert das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und listet die wichtigsten auf:
- Laut IWH fehlen dem Osten Unternehmenszentralen, die in Forschung und Entwicklung investieren und damit Wertschöpfung sowie Produktivität nach oben treiben.
- Die ostdeutschen Firmen sind im Schnitt nur halb so groß wie ihre westdeutschen Konkurrenten. Da die kleinen aber über weniger Kapital und Managementkapazität verfügen, haben sie auch einen schlechteren Zugang zu lukrativen Auslandsmärkten.
- Der Anteil der Unternehmen aus exportstarken Disziplinen wie dem Auto- und Maschinenbau ist im Osten niedriger als im Westen. Ausnahme ist Sachsen mit seiner forschungsstarken Halbleiterindustrie, die dem Freistaat den Beinamen Silicon Saxony eingebracht hat.
Die Ursache des Rückstands geht auch auf die früheren Kombinate zurück. So nannte die DDR ihre Staatskonzerne, die nicht selten eine kunterbunte Mischung an Sparten besaßen. Die Kolosse waren so schlecht für den Wettbewerb geeignet, dass Investoren und Gründer sie in kleine Einheiten aufspalteten.
So passierte es beim Stollenbäcker Dr. Quendt in Dresden, beim Steuerberatungsunternehmen Connex aus Halle, das aus den Resten eines Buchführungskombinats entstand, oder beim Schifffahrtsunternehmen Deutsche Seereederei, dem einstigen Stolz der DDR-Staatswirtschaft, aus dem ein Tourismus- und Immobilienunternehmen geworden ist.
Wer sich auf Spurensuche begibt, erlebt Überraschungen, welch lebendiges Unternehmertum trotz aller Strukturschwächen aus den Ruinen erwachsen ist.
Zwei Mal stand Quendt vor dem Nichts
Als die Mauer fiel, fiel der damals 48-jährige Lebensmittelingenieur Quendt in Dresden erst einmal ins Nichts. Das Ende der DDR machte ihn plötzlich zum Arbeitslosen, ein Schicksal, das er sich bis dahin nicht vorstellen konnte. Bei seinem bisherigen Brötchengeber, dem VEB Dauerbackwaren, wie der Betrieb in sozialistischer Nomenklatur hieß, waren die Öfen ausgegangen.
Für Quendt war der Mauerfall „ein Signal, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“, erinnert er sich. Geistesgegenwärtig rettete er eine von ihm entwickelte Spezialmaschine zur Herstellung von Russisch Brot vor der Verschrottung. Gesandte des hannoverschen Keksgiganten Bahlsen waren in Dresden angerückt, um zu inspizieren, welche Produktionsanlagen des VEB sich weiterhin nutzen ließen. Für Quendts Unikat hatten die „Wessis“ keine Verwendung.
Der „Ossi“ aber reagiert schnell, packt die sperrige Maschine kurzerhand auf einen Lkw und bunkert sie in einer Garage. Das gerettete Relikt, das er mit viel Herzblut entwickelt hatte, wird zum Grundstein eines privaten Backunternehmens, dem er seinen Namen verleiht. Dafür nimmt er 1991 einen Bankkredit von umgerechnet gut 750.000 Euro auf.
Zum zweiten Mal vor dem Nichts fühlte sich Quendt, als seine Maschine zwar gewohnt zuverlässig lief, er seine Backwaren jedoch ohne Kenntnisse in Marketing und Vertrieb plötzlich auf dem Markt losschlagen musste. Da ihm wie fast allen frischgebackenen Ostunternehmern Kontakte zu den Einkäufern großer Supermarktketten fehlen, setzt er sich persönlich hinter das Steuer eines Transporters und beliefert nach Gutdünken Bäcker, Metzger und kleine Lebensmittelläden der Umgebung mit Russisch Brot in verkaufsfertigen Tüten. Guerillamarketing würde man heute dazu sagen.
Harte Wende
Es war eine harte Zeit für den gelernten DDR-Bürger. Erst Mitte der Neunzigerjahre kam für das Unternehmen der Durchbruch, als Einzelhändler und Verbraucher gezielt nach Traditionswaren made in Ostdeutschland fragten. Quendts Sohn Matthias erkannte das Marketingpotenzial von Dresdener Christstollen, deren Produktion 1994 aufgenommen wurde. Bei der Errichtung der neuen Produktlinie und der Herstellung des Weihnachtsgebäcks halfen neue Mitarbeiter von einem weiteren Dresdner Backkombinat, das schließen musste. Heute ist der Dresdener Christstollen Paradeprodukt des Unternehmens.
Zwei Jahre, um das westdeutsche Steuerrecht zu lernen
Für Gründer wie Quendt bestand die größte Herausforderung darin, ohne Vorkenntnisse die Regeln der Marktwirtschaft zu beherrschen. Noch härter war die Wende für Silvia Herrmann. Für die heute 57-jährige Steuerberaterin änderten sich sämtliche für ihre Arbeit relevanten Gesetze.
Doch die komplexen westdeutschen Rechtsnormen und Vorschriften schockten sie nicht. Eine Resignation hätte sich die 32-Jährige auch gar nicht leisten können, musste sie ihren Sohn doch nach einer frühen Scheidung allein erziehen. Das kam öfter vor zu DDR-Zeiten, weil junge Paare überstürzt heirateten, um eine der knappen Wohnungen zu ergattern.
Also saß die Alleinerziehende zwei Jahre lang jeden Samstag in Seminaren, um 1995 die nach bundesdeutschem Recht vorgeschriebene anspruchsvolle Prüfung zur Steuerberaterin zu bestehen. „Ich habe einfach fest daran geglaubt, dass ich es packen kann“, sagt Herrmann. Heute arbeitet sie bei Connex am Standort Halle. Der Dienstleister mit 300 Mitarbeitern, 6000 Mandanten und rund 16 Millionen Euro Umsatz führt die Finanz- und Lohnbuchhaltung und erstellt Bilanzen sowie Steuererklärungen für kleine und mittlere Unternehmen, die sich dafür keine eigene Abteilung leisten können. Das Angebot passt zur kleinteiligen ostdeutschen Unternehmenslandschaft.
Connex entstand ebenfalls aus den Resten eines volkseigenen Betriebs, dem VEB Rechnungsführung und Wirtschaftsberatung des Bezirks Halle. Dort verdiente Herrmann zu DDR-Zeiten ihr Geld. Denn auch in der Planwirtschaft mussten die Kleinunternehmen, die nicht in Kombinaten aufgegangen waren, Abgaben entrichten. Zudem waren kleinere VEB ohne eigene Buchhaltung gezwungen, sich an staatliche Buchführungsfirmen zu wenden.
Hohes Risiko
„Zu DDR-Zeiten war ich eher Erfüllungsgehilfin des Finanzamts“, sagt Herrmann. „Heute ist es dagegen mein Job, die Steuerlast für die Mandanten möglichst niedrig zu halten.“ 25 Jahre nach dem Mauerfall gibt Connex einigen ehemaligen VEB-Mitarbeitern immer noch einen Arbeitsplatz. Rund zehn Prozent der Belegschaft stammen aus den Reihen einstiger volkseigener Buchhaltungsfirmen.
Dass Herrmanns früherer Arbeitgeber unter dem neuen Namen Connex überlebte, hat die Anhaltinerin ihrem heutigen Chef Detlef Walter Bischoff zu verdanken. Der Badener kam 1990 als junger Anwalt in den Osten, sein Kanzleichef in Pforzheim hatte gemeinsam mit anderen mittelständischen Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern den ehemaligen Staatsbetrieb für drei Millionen Euro von der Treuhandanstalt übernommen. Heute wäre das ein Schnäppchen, damals gingen die Westler mit der Investition aber ein hohes Risiko ein, da niemand den Erfolg des Unternehmens vorhersehen konnte. „Für mich war die Wende eine Chance, mich fern der Heimat zu bewähren“, sagt Bischoff. Berührungsängste mit dem Osten kannte er nicht. „Leipzig und Halle sind traumhaft, auch wenn mein badischer Akzent noch manchmal ein Lächeln hervorruft.“
Bischoff wollte Connex weiter ausbauen, während die Eigentümer im Schwarzwald vor allem auf hohe Ausschüttungen schielten. Also kaufte er 1996 den Altgesellschaftern ihre Anteile ab, wurde vom Ost-Statthalter zum selbstständigen ostdeutschen Unternehmer und baute die Steuerberatung zur heutigen Größe aus.
Von DSR zu Carnival
Während Connex und Dr. Quendt ihren Branchen treu blieben, mussten andere ehemals volkseigene Betriebe ihren Weg in die privatwirtschaftliche Zukunft fernab der bisherigen Domäne suchen. Wie schmerzhaft dies für die Beschäftigten war, zeigte die Deutsche Seereederei, einst maritimes Aushängeschild der DDR-Staatswirtschaft.
Nur rund 1600 Mitarbeiter beschäftigt die DSR-Gruppe heute noch – fast 90 Prozent der Arbeitsplätze der alten DSR mit 14.500 Mitarbeitern gingen auf dem Weg in den Kapitalismus verloren. Ganze fünf Angehörige der heutigen Belegschaft waren schon vor 25 Jahren dabei, einer macht immer noch das Gleiche wie vor dem Mauerfall: Frank Kletzsch, inzwischen 55 Jahre alt, war damals Direktionsfahrer. Heute chauffiert er Firmenchef Horst Rahe.
Der Hamburger Kaufmann hatte DSR im Juni 1993 gemeinsam mit dem Reeder Nikolaus Schües von der Treuhandanstalt übernommen. Rahes Kompagnon fusionierte die Frachtschiffsparte mit seiner Reederei F. Laeisz und lieferte damit den Auftakt zu mehreren Strategiewechseln, die das Unternehmen für Jahrzehnte zu einer Dauerbaustelle machten, bei der kein Stein auf dem anderen blieb. 1999 löste Schües die Handelsschifffahrt aus dem Unternehmen heraus, seitdem führt Rahe die DSR allein.
Heute ist die DSR ein Tourismus- und Immobilienunternehmen, das Kapitel Schifffahrt ist beendet. Wirtschaftlich hat sich der Kurswechsel ausgezahlt, Rahe hat aus der hochdefizitären DDR-Staatsreederei ein ertragsstarkes Unternehmen mit rund 150 Millionen Euro Jahresumsatz gemacht. Gut zwei Drittel davon entfallen auf die acht Hotels, die 2013 im Jahresschnitt zu gut 65 Prozent ausgelastet waren und einen operativen Gewinn von knapp 21 Millionen Euro erwirtschafteten.
Die Schifffahrt des Ex-VEB lebt derweil unter dem Dach anderer Unternehmen weiter. So hatte DSR-Chef Rahe die Idee, die heutigen Kreuzfahrtschiffe Aida zu bauen und über die Meere zu schicken. Die Marke sowie die schwimmenden Halligalli-Herbergen mit dem charakteristischen Kussmund am Bug gehören heute allerdings nicht mehr zur DSR, sondern zum US-Kreuzfahrtriesen Carnival.
Hilfe vom Konkurrenten
Auch die Dresdner Stollenbäckerei Dr. Quendt sicherte ihr Überleben kürzlich durch den Einstieg eines anderen Unternehmens, des Konkurrenten Lambertz aus Westdeutschland. 2013 war ein Krisenjahr für Dr. Quendt und eine Bewährungsprobe für Gründersohn Matthias, der 2006 die Führung von seinem Vater Hartmut übernommen hatte.
Dem Unternehmen war ein wichtiger Kunde abgesprungen. Zudem explodierte der Butterpreis nach der Flutkatastrophe, was die Kosten der wichtigsten Zutat für die Stollen in die Höhe schießen ließ. Die Banken forderten mehr Eigenkapital. Quendt blieb nur, einen Mehrheitsanteil am Unternehmen an den Aachener Backwarenhersteller Lambertz zu verkaufen.
Der Printen-Platzhirsch ist mit 3500 Mitarbeitern und 585 Millionen Euro Jahresumsatz deutlich größer. Doch dank des Anteils an Dr. Quendt ist Lambertz nun in allen drei wichtigen Märkten für traditionelles Weihnachtsgebäck mit Herkunftssiegeln vertreten: Aachener Printen, Nürnberger Lebkuchen und Dresdner Stollen.