Direktvertrieb Der Einkauf unter Freunden boomt

Ob Tupperware oder Thermomix: Alle 22 Sekunden findet in Deutschland eine Verkaufsparty statt. Der Direktvertrieb – die älteste Vertriebsform der Welt – boomt. Und das gerade in Zeiten des anonymen Online-Einkaufs.

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Verkaufspartys in geselliger Runde wie hier mit Schmuckhersteller Energetix liegen im Trend. Quelle: Energetix

Düsseldorf/Barcelona Ein iPhone? Längst nichts Besonderes mehr. Das neue Statussymbol ist für viele der Thermomix. Mit der Produktion der Kultküchenmaschine ist Hersteller Vorwerk lange Zeit kaum nachgekommen. Lange Schlangen vor den Geschäften wie beim Apple-Smartphone gab es beim Thermomix trotzdem nicht. Denn das Küchengerät zum stolzen Preis von 1199 Euro gibt es weder im Laden noch im Online-Shop: Das Gerät wird ausschließlich im Direktvertrieb auf Kochpartys vertrieben.

Wegen der großen Nachfrage musste Vorwerk die Zahl der Thermomix-Beraterinnen sogar auf 16.500 verdoppeln. „Vom digitalen Thermomix, der vor zwei Jahren auf den Markt kam, haben wir weltweit schon zwei Millionen Stück verkauft“, freute sich Vorwerk-Chef Reiner Strecker kürzlich im Gespräch mit dem Handelsblatt. Der Umsatz mit der Kult-Küchenmaschine stieg 2015 um knapp 50 Prozent auf 1,4 Milliarden Euro.

Der Direktvertrieb wächst seit vielen Jahren kräftig – nicht nur beim Thermomix. Der Vertriebskanal hat längst sein biederes und zum Teil halbseidenes Image abgeschüttelt. Der Umsatz stieg hierzulande 2015 um 6,8 Prozent auf 16,3 Milliarden Euro, zeigt eine Studie im Auftrag des Bundesverbands Direktvertrieb Deutschland (BDD). Über 280 Unternehmen nahmen an der Befragung von Marketing-Professor Florian Kraus von der Universität Mannheim teil. Die Ergebnisse liegen dem Handelsblatt exklusiv vor.

Der Umsatz im deutschen Direktvertrieb hat sich damit seit 2007 fast verdoppelt. Auch im diesen Jahr sollen die Erlöse um fast neun Prozent weiter wachsen. Zum Vergleich: Weltweit erwirtschafteten Direktvertriebe 184 Milliarden Dollar, ermittelte der Weltverband der Direktvertriebe. Das Wuppertaler Traditionsunternehmen Vorwerk ist dank Thermomix international sogar zur Nummer vier avanciert – nach Amway, Avon und Herbalife.

Mehr als 838.000 selbstständige, meist weibliche Vertriebler arbeiten in Deutschland – so viele wie noch nie. „Seit 2012 hat die Zahl der Vertriebspartner um 200.000 zugenommen“, sagt Jochen Clausnitzer, Geschäftsführer des BDD. Der Trend ist ungebrochen: 2020 dürfte die Zahl auf rund 964.000 Direktvertriebler steigen, schätzt Kraus. Begeisterung für das Produkt und flexible Arbeitszeiten sind laut Studie die Hauptgründe, warum sich vor allem Frauen mit Familie im Direktvertrieb selbstständig machen.

Mehr als 550 Direktvertriebsfirmen sind hierzulande tätig. Die Produktpalette reicht von Kosmetika (Avon, LR Health) über Haushaltswaren (Vorwerk, Vileda), Schmuck (Energetix, Pippa&Jean), Nahrungsmittel (Bofrost) und Dessous (MBR) bis zu Erotikartikeln (Pepper Parties). Insgesamt 34 Millionen Bestellungen wurden hierzulande 2015 getätigt. Warum aber erlebt der Direktvertrieb, die „älteste Vertriebsform der Welt“ derzeit eine solche Blüte?

Ein großer Vorteil des Direktvertriebs: Er lebt vom persönlichen Kontakt. Den schätzen Kunden in Zeiten des anonymen Einkaufs im Internet. Der Kunde kann das Produkt anfassen und ausprobieren. Wachstumstreiber ist dabei nicht mehr der klassische Haustürverkauf. „Bei den Verkaufspartys geht heute die Post ab“, konstatiert Studienautor Kraus.

Denn beim anonymen Einkauf im Netz kommt das Gesellige zu kurz. Allein in Deutschland findet alle 22 Sekunden eine Shoppingparty statt. „Der selbe Kunde, der im Internet einkauft, um Zeit und Geld zu sparen, geht am Wochenende auf eine Verkaufsparty, um Spaß zu haben“, sagt der Marketingprofessor. „Die Verkaufsparty bedient die Sehnsucht nach dem Haptischen in unseren virtuellen Zeiten.“ Zudem Beim Thermomix etwa wird auf der Kochparty, „Erlebniskochen“ genannt, ein Vier-Gänge-Menü gemeinsam zubereitet. Auch bei den legendären Tupperpartys wird heute gekocht. Vor allem auch junge Kunden schätzen den persönlichen Kontakt im Direktvertrieb.

Tupperware gilt als Erfinder von Verkaufspartys im Wohnzimmer. Vor 1951 waren die Plastikschüsseln mit luftdichtem Verschluss im Einzelhandel regelrechte Ladenhüter. Das änderte sich schlagartig mit den Tupperpartys. „Menschen kaufen am liebsten das, was ihnen Freunde persönlich empfehlen“, sagte Tupperware-Chef Rick Goings kürzlich im Interview mit dem Handelsblatt.


Nur jedes 123. Produkt wird umgetauscht

Verbraucher vertrauen Tipps von Freunden viel mehr als zweifelhaften Produktbewertungen im Internet, bestätigt Verbandschef Clausnitzer. Moderne Direktvertriebe versuchen, Verkaufspartys und Internet zu verbinden. Viele Vertriebler sind heute nicht nur in fremden Wohnzimmern, sondern auch in den sozialen Netzwerken aktiv. Über Facebook, Instagram & Co. bekommen Nutzer die neuesten Schminktipps, Styling-Ideen oder Kochrezepte. „Internet-Communities haben dem Direktvertrieb nochmal eine neue Dimension gegeben“, sagt Kraus. Die Kundenbindung ist dadurch noch stärker geworden.

Vorwerk ist da besonders aktiv. Dem Unternehmen sei es Kraus zufolge gelungen, im Internet eine eigene Rezeptwelt zu erschaffen und eine große Fangemeinde aufzubauen. In den USA, wo Vorwerk gerade neu in den Markt einsteigt, experimentieren die Wuppertaler mit weiteren neuartigen Vertriebskonzepten. „Vielleicht gibt es auch Live-Cooking-Events via Netz“, meint Reiner Strecker. „Das probieren wir zunächst in Kalifornien aus.“

Tatsache ist: Ohne Multi-Kanal-Strategie kommen die meisten Direktvertriebe heute nicht mehr aus. 41 Prozent von ihnen hierzulande verkaufen heute auch online, 18 Prozent in eigenen Läden, hat Kraus ermittelt. Eine feste Markenpräsenz in den Innenstädten ist für viele Vertriebe wichtig, beobachtet Clausnitzer. So werde es künftig weltweit Tupper-Studios für Schulungen und Events geben, 500 allein in Deutschland. „Tupperware darf sich nicht mehr im Wohnzimmer verstecken“, betonte Rick Goings. Solche Studios oder Läden dienen nicht dem Verkauf, sondern vor allem der Gewinnung von Neukunden, meint Clausnitzer.

Den Staubsauger Kobold zum Bespiel gibt es nun auch in den rund 50 deutschen Vorwerk-Laden und im Online-Shop. Trotzdem wachsen alle drei Vertriebswege von Vorwerk. „Weil wir immer darauf geachtet haben, dass der Direktvertrieb Kern des Geschäfts bleibt“, betont Strecker. Denn wichtig für den Verkaufserfolg ist, dass die Produkte intensiv erklärt werden. „Das fehlt im Online-Shop ganz, und im Laden finden sich heute nur noch selten kompetente Verkäufer, die sich für Beratung Zeit nehmen“, konstatiert Kraus.

Weil die Kunden das Produkt intensiv kennengelernt haben, ist die Retourenquote extrem niedrig. Nur jede 123. Bestellung wird laut Clausnitzer wieder rückgängig gemacht. Zum Vergleich: Im deutschen Online-Handel liegt die Retourenquote bei fast 30 Prozent, ermittelte JDA Software. „Die Retouren zählen zu den größten Kostentreibern im Handel“, sagt JDA-Handelsexperte Dirk Homberg. Der Online-Handel setzte in Deutschland zuletzt 52,9 Milliarden Euro um, ergab eine Studie für den Marktplatz Retail-Me-Not.

Allerdings ist der Direktvertrieb längst nicht so kosteneffizient wie der Online-Handel. Schließlich bekommen die meist freien Vertriebler laut Kraus im Schnitt 20 bis 30 Prozent Provision. Auch die Berater, die den Vertriebspartner angeworben haben, werden meist an dessen Umsatz beteiligt. Außerdem müssen Direktvertriebe ihre Vertriebsleute ständig schulen und mit Incentives wie Reisen oder Events motiviert halten. Auch die Logistik ist aufwendig. „Das alles kostet“, betont der Marketingexperte.


Verwöhnreisen für die Top-Verkäufer

Tupperware etwa hat mit den weltweiten Top-Vertrieblern im Mai mehrere Tage Barcelona in einem Luxushotel verwöhnt und auf die Firma eingeschworen. Pippa & Jean etwa lädt 100 Beraterinnen nach Südafrika ein. „Wir müssen den Frauen schon etwas bieten“, meint Mitgründerin Annette Albrecht-Wetzel. Denn der Wettbewerb um gute Berater ist hart. Viele Unternehmen könnten noch viel schneller wachsen, wenn sich mehr Vertriebler finden ließen.

Ob sich das Geschäft für die rund 100 Millionen freien Vertriebler weltweit – überwiegend Frauen – wirklich rentiert, ist unklar. Die meisten wollen sich neben Job und Familie ein Zubrot verdienen. Die wenigsten können vom Verdienst allein leben. Top-Verdiener mit bis zu zwei Millionen Dollar im Jahr - wie manche Berater von Tupperware in Schwellenländern - sind die absolute Ausnahme.

Noch vor der Gewinnung von Vertrieblern betrachten die Direktvertriebe als größte Herausforderung ihr Image zu verbessern. Insgesamt hat die Branche ihren Ruf verbessert. Der BDD etwa verpflichtet seine 46 Mitglieder auf Verhaltensstandards. Eine unabhängige Kontrollkommission überwacht ihr Geschäftsgebaren.

„Schneeballsysteme sind generell verboten, aber es gibt noch einige Schwarze Schafe in der Branche, die sich in Grauzonen tummeln“, beobachtet Vertriebsexperte Kraus. Bedenklich werde es, wenn freie Vertriebler teure Startersets kaufen müssen, die sie nicht zurückgeben können. „Wenn die eigenen Vertriebspartner die besten Kunden sind und nicht die Verbraucher, sollte man misstrauisch werden“, warnt Kraus. Wenn unrealistische Verdienste versprochen werden ohnehin.

Tatsache ist: Der Direktvertrieb bleibt auf Wachstumskurs. 70 Prozent der befragten Unternehmen beurteilen die Zukunftschancen als „gut“ oder „sehr gut“. „Die Vertriebsform hat noch viel Potenzial – auch für andere Branchen“, ist Marketingprofessor Kraus überzeugt. Beratungsintensive Produkte und solche mit Spaßfaktor eigneten sich besonders für den Partyvertrieb oder die Einzelberatung, meint Verbandsexperte Clausnitzer. Dazu zählen auch innovative Produkte etwa für Smart Home oder Elektrofahrräder.

Kraus fragt sich: „Warum laden Autohändler wie BMW oder Audi nicht mal Kaufinteressenten zum Grillen in den Park, wo sie mit Freunden fünf Modelle testen können?“

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