Erfolgsrezept Direktvertrieb Das Riesengeschäft mit dem Verkauf im Wohnzimmer

Avon-Beraterin und schnöde Tupperpartys - das war gestern. Das Verkaufsgeschäft im Wohnzimmer wandelt sich zu einer Eventindustrie mit zweistelligen Wachstumsraten, die Tausende neue Arbeitsplätze schafft.

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Direktvertrieb von Energetix-Modeschmuck Quelle: Robert Poorten für WirtschaftsWoche

Wenn Diana Boetzkes über ihre Arbeit spricht, vermeidet sie das eine Wort um fast jeden Preis: Wohnzimmerparty. Das klingt ihr zu platt, zu banal, zu sehr nach Heimverkauf mit Drückermethoden. Lieber spricht die 37-Jährige aus Nettetal am Niederrhein von Informationsveranstaltungen. Boetzkes verkauft als freie Vertreterin magnetischen Modeschmuck von Energetix aus Bingen am Rhein, einem der hierzulande größten Direktvertriebe.

Ihre Events veranstaltet die eloquente Verkäuferin bei potenziellen Kunden zu Hause. Zuerst breitet Boetzkes ihre Halsketten, Armbänder und Ringe auf dem Esstisch aus. Die Gäste, die es sich in der Sitzgarnitur nebenan im Wohnzimmer bequem gemacht haben, bekommen davon kaum etwas mit. Schließlich beginnt die Energetix-Vertreterin eine zwanglose Plauderei. Es gibt guten Wein und Häppchen. Für die Verköstigung zahlt der Gastgeber oder die Gastgeberin. Der Eindruck einer plumpen Verkaufsshow soll vermieden werden.

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Boetzkes lacht viel; allmählich lenkt die fröhliche Kleinunternehmerin die Unterhaltung auf das Thema Modeschmuck. Bald geht die gesellige Gruppe rüber zum Esstisch, um sich die Sachen anzusehen. Und irgendwann greifen die Gäste schließlich zu Ringen und Armbändern – und sorgen dafür, dass bei Boetzkes die Kasse klingelt. In guten Monaten bringt sie es auf 8000 Euro Umsatz.

Verkauf in den heimischen vier Wänden

Unternehmen wie Energetix, die ihre Produkte im Direktvertrieb, also nicht in Geschäften oder via Internet, sondern nur in den heimischen vier Wänden potenzieller Kunden verkaufen, sind eine weithin kaum bekannte Wachstumsbranche: Sie setzten hierzulande 2013 insgesamt 14,6 Milliarden Euro um, zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. 2014 hat der Branchenumsatz erneut um knapp zehn Prozent auf 16 Milliarden Euro zugelegt. Tendenz der weitgehend mittelständisch geprägten Branche: in den kommenden Jahren weiter steigend. So prognostiziert es eine Studie der Universität Mannheim im Auftrag des Bundesverbandes Direktvertrieb Deutschland (BDD).

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Damit ist der Verkauf im heimischen Wohnzimmer zu einem wichtigen Jobmotor und Existenzgründungsprogramm geworden. Gab es vor drei Jahren noch rund 640.000 selbstständige Vertriebspartner, sind es heute schon deutlich mehr als 700.000. Rund 20.000 Verkäufer stoßen bislang jährlich neu dazu, bis 2018 dürften laut einschlägiger Prognosen in Deutschland aber schon mehr als 950.000 Männer und Frauen ihr Geld mit dem Verkauf im eigenen oder fremden Wohnzimmer verdienen.

Lange Zeit war das ungewöhnliche Vertriebsmodell verpönt. Verbraucherschützer kritisierten, die Käufer würden mit überhöhten Preisen über den Tisch gezogen, auch und vor allem, weil sie keine Möglichkeit hätten, die Preise mit denen der Konkurrenz zu vergleichen.

Erfolgreicher Imagewandel

Zum Erfolg hat der Imagewandel des Direktvertriebs beigetragen. Mit der schnöden Avon-Beraterin der Siebzigerjahre, die Nagellack und Cremes für betagte Frauen an der Haustür verkauft, oder der Hausfrau im biederen Kostüm, die mit Drückermethoden ihre Tupperdosen an den Mann oder die Frau zu bringen versucht, haben die modernen mittelständischen Direktvertriebe wenig zu tun. Heute sind die Home-Partys oft Glamour-Events, bei denen auch mal edle Speisen zubereitet werden und nicht selten Champagner fließt. Der Verkauf steht zunächst oft völlig im Hintergrund.

Angesagte Home-Partys

Experten machen hinter den Erfolgen der Direktvertriebler gleich mehrere Trends aus. Zum einen hat die rasche Verbreitung der sozialen Netzwerke, allen voran Facebook und YouTube, dem Geschäftsmodell einen Schub gegeben. Über Facebook, WhatsApp und Co. lässt sich schnell und ohne viel Aufwand eine Verkaufsparty im heimischen Wohnzimmer organisieren. Dort bekommt der Kunde dann auch die Beratung, die er bei Online-Kaufhäusern oft vermisst.

Umsatzzuwachs des Direktvertriebs in Deutschland. (zum Vergrößern bitte anklicken)

Immer neue Erlebnisse

Vor allem jüngere Leute verlangen nach immer neuen Erlebnissen. „Auf einer Home-Party einzukaufen ist nicht nur salonfähig geworden, es ist absolut in“, sagt Carsten Rennhak, Marketingexperte und Dekan an der Universität der Bundeswehr München, der eine Studie zu den Erfolgsfaktoren des Direktvertriebs verfasst hat.

Lebensmittel, Tiernahrung, Kosmetik, Accessoires, Erotikartikel und Haushaltswaren: Die Palette der Produkte, die auf Wohnzimmerpartys und an der Haustür den Besitzer wechseln, wird immer größer.

Platzhirsch in Deutschland ist Vorwerk mit seinen Staubsaugern und Küchenmaschinen. Das Unternehmen aus Wuppertal kam zuletzt auf einen Jahresumsatz von 2,6 Milliarden Euro und beschäftigt etwa 12 500 feste Mitarbeiter und 610.000 freie Vertriebspartner. Weitere Branchengrößen sind der Kosmetikvertrieb LR Health & Beauty Systems, Heim & Haus, ein Anbieter von Markisen, Rollläden und Fenstern – und auch Energetix.

Das Frachtzentrum des Modeschmuck-Anbieters liegt in Bingen direkt an der Nahe, gegenüber den Weinbergen und der fast 800 Jahre alten Burg Klopp. Kleine Kartons, die meisten kaum größer als eine Zigarrenschachtel, laufen über Fließbänder. Frauen legen in China produzierte Ringe, Armbänder und Ketten in die braunen Kistchen. Energetix-Vertreter, die ihre Ware bis zwölf Uhr mittags bestellen, bekommen sie am nächsten Tag. 40 Länder beliefert der Mittelständler. Allein in Bingen verlassen jeden Tag bis zu 2000 Pakete das Frachtzentrum. „Die meisten unserer Vertriebsleute bestellen immer nur kleine Mengen“, sagt Gründer und Chef Roland Förster, während er durch die Regalreihen geht. Und das sei auch gut so. Förster will nicht, dass sich die Vertreter übernehmen: Sie sollen nur bestellen, was sie auch verkaufen können. Und will so dem Vorwurf entgehen, der andere Direktvertriebler trifft, nämlich den eigenen Verkäufern die Ware regelrecht aufzudrängen.

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Der frühere Aldi-Manager hat das Unternehmen 2003 gegründet. Heute arbeiten etwa 4000 freie Vertriebler in aller Welt für Energetix. In Bingen kümmern sich 85 Mitarbeiter um Versand, Verwaltung, IT und Design. Die Armbänder, Ketten, Uhren und Ringe kommen bei der Kundschaft vor allem wegen des modernen Designs an. Immer mehr Käufer schwören aber auch auf die angeblich heilende Wirkung des Magnetschmucks. Der ist längst der Esoterikecke entkommen. Werben darf Förster mit der vermeintlich heilenden Wirkung nicht, der medizinische Nachweis steht aus.

Die Kunden stört das offenbar nicht. Modeschmuck für gut 100 Millionen Euro werden seine Leute 2015 verkaufen, erwartet Förster, gut zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Die wichtigsten Märkte sind Frankreich und die Türkei.

Mehr als drei Viertel der Vertriebler bei Energetix sind Frauen. Diana Boetzkes’ Weg ist typisch. Die Tourismusfachfrau aus Nettetal bei Mönchengladbach stieg für ihre Kinder vier Jahre aus dem Job aus. Dann erzählte ihr eine frühere Mitschülerin von Energetix.

Boetzkes probierte es aus. Zunächst verkaufte sie einige Stücke in der Nachbarschaft und bei Verwandten. Beim nächsten Mal brachten einige der Käufer schon Freunde mit.

Entscheidend ist die Show

Boetzkes erkannte ihr Verkaufstalent. Heute kann sie sich nicht mehr vorstellen, in ihren alten Job zurückzukehren: „Ich arbeite weniger Stunden und verdiene im Vergleich dazu mehr.“ In guten Monaten, vor allem im Herbst, veranstaltet sie bis zu 16 Verkaufspartys. Pro Veranstaltung kommt Boetzkes auf einen Umsatz von 500 bis 700 Euro. Der Endpreis ist so kalkuliert, dass bei den Verkäufern eine Spanne zwischen 40 und 45 Prozent hängen bleibt.

Inzwischen hat Boetzkes sieben weitere Vertriebspartner für Energetix angeworben und ist an deren Umsatz beteiligt. Zwischen sechs und sieben Prozent Provision kassiert sie für die Umsätze, die ihre Teammitglieder erzielen. Anders als bei Strukturvertrieben, die nach dem Schneeballsystem arbeiten, zahlen allerdings nicht die neu gewonnenen Mitglieder die Provision an Boetzkes, sondern Energetix.

Energetix-Chef Förster vermeidet es, zu großen Druck auf seine Vertriebstruppe auszuüben. Von den schlecht beleumundeten Strukturvertrieben, die mit fragwürdigen Methoden beispielsweise Nahrungsergänzungsmittel vertreiben, will er sich abheben. Ein wachsames Auge auf seine Vertreter hat er trotzdem. Zwar gestattet Förster ihnen, parallel auch für andere Direktvertriebe zu arbeiten – aber nicht den Verkauf von Schmuck.

Rares Produkt, gute Show

Um beim Direktvertrieb vorne mitzuspielen, müssen sich Anbieter und deren Vertriebspartner einiges einfallen lassen. „Idealerweise geht es um Waren mit besonderen Eigenschaften, die man im stationären Handel oder im Internet nicht bekommt“, sagt Marketingexperte Rennhak. So macht es etwa der US-Konzern Tupperware mit seinen Plastikschüsseln.

Der Mittelständler AMC, ein Unternehmen, das zur Fissler-Gruppe gehört und wie Energetix seinen Sitz in Bingen hat, bietet Töpfe und Pfannen im Hochpreissegment ab etwa 120 Euro an. Die können einiges, „was eine Verkäuferin im Geschäft gar nicht erklären kann“, sagt AMC-Chef Lothar Klein, „das muss man zu Hause vorgeführt bekommen“. So ließen sich in AMC-Pfannen etwa Fisch und Fleisch gleichzeitig garen, ohne dass das Steak nach Kabeljau müffele. Zudem spare das Kochgeschirr gegenüber herkömmlichen Produkten bis zu 40 Prozent Energie.

Offenbar funktioniert die Masche: 2013 haben AMC-Vertreter weltweit Töpfe und Pfannen für gut 110 Millionen Euro an den Koch oder die Köchin gebracht, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. 2014 war der Zuwachs ähnlich hoch. Russland ist trotz Ukrainekrise und Rubel-Schwäche ein wichtiger Markt, ebenso Indien, wo AMC etwa 4000 Vertreter beschäftigt. Etwa 3000 sind es in Deutschland, 40 Prozent seines Umsatzes erzielt AMC im Heimatmarkt. Entscheidend ist eine gute Verkaufsshow, die an alles erinnern darf, nur nicht ans Verkaufen. Wer den AMC-Vertreter mit seinen Töpfen und Pfannen ins Haus und bei sich kochen lässt, bekommt erst einmal ein Geschenk, etwa einen Zwiebelschneider – wie bei Tupperware und vielen anderen.

Der Vertreter plaudert zwanglos über das Produkt, die Gastgeberin reicht Getränke. „Das hat mit einer drögen Präsentation nichts mehr zu tun“, sagt der Münchner Berater Alexander Verweyen, „da muss eine Story erzählt werden.“

Schwarze Schafe im Direktvertrieb

Gute Vertreter zeichne aus, so Verweyen, dass im Rausch der guten Stimmung am Ende auch der Gast kauft, der wirklich nur mal gucken kommen wollte.

Direktvertrieb von AMC-Pfannen Quelle: Presse

Auch die Treffen, auf denen die Unternehmen ihre Vertriebspartner auf neue Produkte und Kollektionen einschwören, haben sich radikal gewandelt. Viele Veranstaltungen sind zu glamourösen Events mit hoher Promi-Dichte, Livekonzerten und Luxusbuffets geworden – auf den ersten Blick ohne Einpeitscher oder Motivationsgurus wie früher.

Auch dieses Thema beherrscht Energetix. Das Estrel in Berlin ist das größte Hotel- und Konferenzzentrum der Hauptstadt. An einem Samstagvormittag wollen rund 1400 Frauen und Männer aus mehr als 30 Ländern dort dabei sein, wenn Energetix seine neuen Schmuckkreationen vorstellt. Trockeneisnebel und bunte Scheinwerfer sorgen für Disco-Atmosphäre. Aus den Lautsprechern tönen Rockklänge. Die Stimmung ist fast ausgelassen, als Energetix-Chef Förster die Vertreter begrüßt.

Die Show geht weiter

Schauspielerin Barbara Schöneberger stellt im weißen, eng geschnittenen Kleid die neue Kollektion vor, begleitet von „Wow“- und „Aaah“-Rufen des Publikums. Viel ist an diesem Tag von Wellnessprodukten die Rede. Zwischendurch singt Schöneberger unter großem Jubel: „Diese Hand braucht ’nen Diamant“.

Der Wohlfühlvertrieb hat Grenzen. Unseriöse Anbieter drängen ihre Partner oft dazu, große Mengen oder Stückzahlen zu kaufen. Häufig geben sie den Vertretern den Kredit zum Kauf gleich mit. „Zudem bieten solche Direktvertriebe ihren Vertretern weder Schulungen noch Fortbildungen an“, kritisiert Experte Rennhak.

Unternehmen mit fragwürdigem Ruf tummeln sich etwa im Vertrieb von Energydrinks und Nahrungsergänzungsmitteln, die auch Bodybuilder goutieren, hat Experte Rennhak festgestellt. So hat Herbalife, ein US-Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln, in den Neunzigerjahren viele Menschen in den finanziellen Ruin getrieben. Noch vor drei Jahren verurteilte das Brüsseler Handelsgericht das Unternehmen wegen des Betriebs eines illegalen Pyramidensystems. Verbraucherschützer kritisieren die hohen Preise für die Herbalife-Produkte. Zuletzt ist es ruhiger geworden um das Unternehmen, das nach wie vor im Direktvertrieb unterwegs ist. Doch die Show geht unverdrossen weiter: Sogar Weltfußballer Ronaldo wirbt für einen grünen Krafttrank des US-Unternehmens.

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