Wer dröhnende Motorengeräusche, ölverschmierte Finger und eine stickige Halle vermutet hatte, wird enttäuscht. Das Rolls-Royce-Werk in Prince George County, Virginia, ist ein weißer Neubau, lichtdurchflutet und nahezu klinisch sauber. Die 200 US-Amerikaner, die hier Turbinen für Passagierflugzeuge fertigen, steuern die meterhohen Maschinen per Touchpad und kontrollieren mit Software von Siemens ihre Arbeit.
Die Reindustrialisierung der USA: Sie hat mit der Fertigungsproduktion aus dem 20. Jahrhundert nicht mehr viel gemeinsam. Zu sehen ist das seit 2011 in dem Rolls-Royce-Werk in Virginia – und ab kommender Woche in Hannover. Die USA sind Partnerland der diesjährigen Hannover Messe, der größten Industrieschau der Welt, und wollen zeigen, wie sie sich die Industrie der Zukunft vorstellen.
„Die Arbeitsweise in der Industrie hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Das hat Folgen für die Rekrutierung von Mitarbeitern: Wir suchen hochqualifiziertes Personal“, sagt Lorin Sodell, Geschäftsführer der Rolls-Royce-Fabrik zwei Stunden südlich der Hauptstadt Washington, D.C. Dies sei nicht immer leicht zu finden, mehrere Stellen seien derzeit vakant.
Lange haftete der Industrie das Image einer aussterbende Spezies in den USA an, die meisten junge Leute haben um eine Ausbildung oder einen Job in der Fertigung einen großen Bogen gemacht. Verdenken kann man es ihnen nicht: Tatsächlich hat die Branche einen jahrzehntelangen Absturz erlebt. Automatisierung und höhere Produktivität haben ganze Fabriken überflüssig gemacht; einige Unternehmen sind zudem ins Ausland abgewandert, wo sie billiger produzieren können. Sechs Millionen Jobs sind alleine zwischen 2000 und 2010 in der Industrie verloren gegangen; der Niedergang hat ganze Landstriche veröden lassen.
Detroit: Von der Industriehochburg zum Sanierungsfall
Einst war Detroit, die ehemalige Industriehochburg Amerikas, der Stolz des Landes. Heute ist es ein heruntergekommener Ort. Der Asphalt in den Straßen Downtowns ist aufgeplatzt, die Gebäude sind mit Graffitis beschmiert, viele Fenster mit Holzbrettern zugenagelt. 1,85 Millionen Menschen lebten in Spitzenzeiten in Detroit. Autobauer, Zulieferer und die Gastronomie boten Hunderttausende Jobs. Heute sind über 23 Prozent der Menschen in Detroit arbeitslos, wer kann, hat die Stadt längst verlassen. Keine 700.000 Menschen leben mehr in der einstigen Vorzeige-Metropole.
Was Deutsche und Amerikaner über TTIP denken
Dieser Meinung ist jeder zweite Amerikaner – aber nur jeder fünfte Deutsche.
Hier sind sich die Deutschen und die Amerikaner nahezu einige: Jeweils jeder Fünfte glaubt das.
Dieser Ansicht sind zwölf Prozent der befragten Amerikaner und 61 Prozent der Deutschen.
„Die Reindustrialisierung der USA vermag nicht den Menschen zu helfen, die wir als Globalisierungsverlierer bezeichnen“, sagt Fred Bergsten, Ökonom vom Peterson Institute in Washington, D.C. Bandarbeiter, die früher für die Automobilindustrie, für Waschmaschinen- oder Geschirrspüler-Hersteller gearbeitet haben, haben wenig Perspektive; „der Großteil ihrer alten Jobs wird nie zurückkommen“, sagt Bergsten.
Zwar sind seit 2010 US-weit eine Millionen neuer Arbeitsplätze in der Industrie neu geschaffen worden. Gut bezahlte Jobs, schließlich zahlen die Exportunternehmen im Schnitt 18 Prozent mehr als die Konkurrenz, die sich auf den Heimatmarkt fokussiert. Einzig: Die meisten Arbeitssuchenden kommen für diese neuen Arbeitsplätze nicht infrage. „Die Politik hat es verpasst, jenen Menschen, die aufgrund von Produktionsverlagerungen und Automatisierungsprozessen ihre Arbeit verloren haben, fit für das 21. Jahrhundert zu machen“, bemängelt Bergsten.
Der US-Wahlkampf macht Unternehmer ratlos
Und damit für die Jobs, die die Industrie 4.0 schafft. Jobs, die Soft- und Hardwarekenntnisse sowie ein räumliches Vorstellungsvermögen verlangen. Doch staatliche Förder- und Weiterbildungsprogramme gibt es bis heute nicht. Wer einmal längere Zeit ohne Arbeit ist, kommt nur schwer aus der Negativspirale heraus.
Statt hier anzusetzen, droht aus der Politik neues Ungemach. Im US-Vorwahlkampf sind der Freihandel – und damit auch die Exportunternehmen – unter Beschuss gekommen. Sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten ist der freie Warenverkehr und die Globalisierung zum Feindbild geworden, allen voran Donald Trump und Bernie Sanders machen Stimmung.
Milliardär Trump, der selbst etwa Textilien aus seinem Haus in Übersee produzieren lässt, findet das Freihandelsabkommen mit elf Pazifikanrainerstaaten (TPP) „grauenvoll“ und droht mit der Einfuhr von Strafzöllen. Auch Demokrat Sanders hält nichts vom Freihandel und rühmt sich damit, „alle Abkommen konsequent abgelehnt zu haben“.
Ökonomen wie Unternehmer schütteln den Kopf. „Wir importieren Maschinen und Rohmaterial in die USA und arbeiten hier damit“, sagt Rolls-Royce-Manager Sodell. Die fertigen Turbinen würden dann per Flugzeug zurück nach Europa und nach Singapur gebracht und von dort verkauft. „Freie Märkte sind für uns essentiell“, unterstreicht Sodell. Die Zeiten, in denen ein Produkt komplett an einem Ort hergestellt wird, seien vorbei.
Importzölle würden weder den US-Unternehmen helfen, noch den US-Arbeitern. Im Gegenteil. Sollten Kleidung, Möbel, Elektroartikel und Spielzeuge aus dem Ausland mit Strafzahlungen versehen werden, müssten die US-Konsumenten nur tiefer in die Tasche greifen. „Die Mittelschicht würde 29 Prozent an Kaufkraft verlieren, wenn sich Amerika abschottet“, unterstreicht Robert Lawrence, Professor für internationalen Handel an der Harvard University. Die Unterschicht, bei denen Konsumabgaben einen höheren Anteil an den Ausgaben haben als bei Besserverdienende, würde gar 62 Prozent ihrer Kaufkraft einbüßen.
Doch mit Argumenten, so scheint es, lässt sich den US-Wahlkämpfern derzeit nicht beikommen. Geschlossen treten die Möchtegern-Präsidenten gegen den Freihandel an; schließlich trifft die Kritik einen Nerv beim Bürger. Mit US-Präsident Barack Obama, der zur Hannover Messe reist, kommt mutmaßlich der letzte Kämpfer für den Freihandel aus dem Weißen Haus nach Hannover. Leidenschaftlich hat sich Obama in den vergangenen acht Jahren seiner Präsidentschaft für den freien Warenverkehr eingesetzt und das TPP-Abkommen – dessen Nutzen laut Ökonomen 18 Mal höher ist als die zu erwartenden Kosten, etwa durch Jobverlagerungen ins Ausland – forciert.
„Europa wäre gut beraten, mit Obama signifikante Bestandteile eines transatlantischen Freihandelsabkommens zu verhandeln“, sagt Ökonom Bergsten. Einfacher als mit dem amtierenden US-Präsidenten werde es nicht. Und: Es sei unwahrscheinlich, dass sein Nachfolger getroffene Übereinkünfte widerruft. „Je mehr mit der Obama-Administration noch geklärt werden kann, desto besser für beide Seiten“, so Bergsten. Bis Januar 2017 haben beide Seiten noch Zeit. Die Hannover Messe wäre ein idealer Termin, um zu einem Schlussspurt der TTIP-Verhandlungen unter Barack Obama anzusetzen. Die Industrie würde es freuen – in Deutschland wie in den USA.