Im Herzen Europas hat der US-Industriegigant General Electric Quartier bezogen. An der Seine in Paris sitzt GE-Europa-Chef Mark Hutchinson in seinem Büro in der ehemaligen Zentrale von Alstom, das GE gerade erst übernommen hat. Die Digitalisierung ist auch für ihn das große Thema, Sonntag machte er sich auf den Weg zur Hannover Messe. „Wir wollen im industriellen Internet eine dominante Rolle spielen, auch in Europa und auch in Deutschland“, schickt Hutchinson eine Grußbotschaft an die Konkurrenz.
Der Wettbewerb um die Führung im digitalen Industriezeitalter ist eröffnet. Lange war Industrie 4.0 eher eine Vision, dann gab es erste Testversuche. Nun aber soll die Einführung in der Breite erfolgen. „Die Technik ist da, die ersten Implementierungen sind erfolgt – der Durchbruch findet jetzt statt“, sagt Siemens-Industrievorstand Klaus Helmrich. Offen ist aber noch, wer das digitale Zeitalter dominieren wird: die USA oder Deutschland. Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es eigene Ansätze und Stärken.
Industrie 4.0, das ist die vollständige Digitalisierung vom Entwurf eines Produkts über die gleichzeitige Planung der Fertigung bis zur digitalen Fabrik mit Millionen von Sensoren – und quasi eine deutsche Erfindung. Der große GE-Rivale Siemens spielt hier eine Schlüsselrolle als Weltmarktführer bei Industrieautomatisierung und Industriesoftware. „Wir haben eine Automatisierungskompetenz, die weltweit führend ist“, so Helmrich.
Der Gegenspieler, die Amerikaner, stand bei 4.0 lange am Seitenrand, hat aber dank Google & Co. viel Erfahrung mit Algorithmen und der Analyse von Daten. Während Siemens die ganze Kette durchgängig abdeckt, setzt GE vor allem auf Big Data: Im laufenden Betrieb von Windrädern, Krankenhaus-Tomografen und Flugzeugturbinen werden Unmengen von Daten gewonnen.
Diese sollen vorausschauende Wartung, effizienten Betrieb und neue Geschäftsmodelle ermöglichen. „Das ist so groß wie die Entdeckung des Feuers“, sagt Hutchinson. Der Markt für die industrielle Digitalisierung könnte 2020 nach Schätzung von Experten 45 Milliarden Dollar schwer sein. Wer jetzt den Anschluss verpasst, wird abgehängt bleiben. Nutzt Europa die Chancen, könnte der Kontinent laut einer Studie von Roland Berger im Auftrag des BDI zusätzliche Wertschöpfung von 1,25 Billionen Euro generieren. Wenn die Industrie die digitale Transformation verpasst, gingen über die Jahre 605 Milliarden Euro verloren.
Die Entwicklung der Industrie
Industrieära: 1784
Technologische Revolution: Mechanische Produktion mit Wasser-/Dampfkraft
Transformatorischer Wandel: Substitution von Arbeit durch Kapital,; Prozessstabilität und Geschwindigkeit
Quelle: "Digital Industry – Connecting the Dots" von Oliver Wyman
Industrieära: 1870
Technologische Revolution: Elektrisch betriebene Massenproduktion
Transformatorischer Wandel: Arbeitsteilung ("Taylorismus"); Durchgängigkeit von Prozessen
Industrieära: 1969
Technologische Revolution: Produktionsautomatisierung durch Elektronik und IT
Transformatorischer Wandel: Business Process Reengineering; Prozessqualität und Lean
Industrieära: heute
Technologische Revolution: Digitalisierung durch cyber-physische Seyteme, Vernetzung und Big Data
Transformatorischer Wandel: "Digitale Industrie"; Die technologische Revolution schafft die Voraussetzung für die Hebung des wahren Werts durch Prozessverbesserung
Die Position von Siemens ist stark. Auf der Hannover Messe stellen die Münchener eine integrierte Plattform für die komplette industrielle Produktionskette vor. Sie soll für einen kräftigen Schub in Sachen Digitalisierung in den Fabriken sorgen. „Mit Digital Enterprise haben wir den Anspruch, Standards zu setzen“, sagt Helmrich. Getrieben werde die Entwicklung vom immer größeren Kundenwunsch nach individualisierten Produkten. „Die großen Unternehmen stellen sich die Frage, wie sie diese Komplexität beherrschen können. Das funktioniert nur, wenn ich die industrielle Welt digital auf einer Plattform beschreiben kann.“
Auch Bosch hat inzwischen mit „IoT Suite“ eine branchenübergreifende Plattform entwickelt, an die bereits mehr als fünf Millionen Geräte und Maschinen angeschlossen sind. Die Strategie der deutschen Unternehmen ist nach Einschätzung von Frank Riemensperger, Deutschland-Chef von Accenture, richtig. „Den Plattform-Wettlauf zu gewinnen wird entscheidend sein. Denn wer die Kontrolle über die Plattform hat, hat auch die notwendigen Daten für die neuen Geschäftsmodelle.“ Allerdings muss der Zugang offen sein.
Industrie 4.0 ist mehr als Automatisierung
Auch GE-Europa-Chef Hutchinson sieht eine starke Ausgangsposition der deutschen Industrie. Die kenne die Prozesse und habe industriell einen Vorsprung vor den USA. Doch sei die Kette bis zur Produktion des Produkts, auf der Siemens dominiert, nur ein kleiner Teil des Geschäfts. „Das ist auch wichtig, aber der Teil, den wir abdecken, ist noch wichtiger.“ 4.0 sei nicht in erster Linie Automatisierung. „Am Ende geht es vor allem um die Produktivität von Maschinen im Betrieb.“
Hutchinson nennt ein Beispiel. Für eine US-Eisenbahngesellschaft digitalisierte GE das komplette System mit unzähligen Sensoren. „Jeder Zug wurde zum mobilen Daten-Center“, so der GE-Manager. Mit Hilfe der gewonnenen Daten konnten die Lokomotiven effektiver eingesetzt werden, die Durchschnittsgeschwindigkeit stieg von 21 auf 23 Stundenkilometer. Nicht viel, sollte man denken. Doch konnten die Kosten laut Hutchinson so um 300 Millionen Dollar gesenkt werden.
Siemens hat Digital Enterprise und zusätzliche Lösungen auf dieser Basis, mit denen Kunden zum Beispiel eigene Apps entwickeln können. „Wir steigen nicht in den Wettbewerb mit unseren Kunden ein“, betont Helmrich. Es gelte das Motto: „Du behältst deine Daten, und wir liefern die Infrastruktur.“
Siemens will mit Digital Enterprise Maßstäbe setzen, GE hält dagegen. „Wir glauben, unsere Plattform Predix liegt im Wettbewerb vorn“, sagt Hutchinson. Im Februar vorgestellt will GE mit Predix in diesem Jahr bereits sechs Milliarden Dollar Umsatz machen, in vier Jahren sollen es schon 15 Milliarden Dollar sein. Predix sei maßgeschneidert auf die Kundenbedürfnisse. 8.000 Software-Ingenieure von Kunden und GE seien bereits damit beschäftigt, Anwendungen wie zum Beispiel Apps zu entwickeln. Mit Predix können etwa Windfarmen aus der Ferne gewartet und optimiert oder Flugzeugtriebwerke überwacht werden. Heutzutage könne von jeder Maschine ein digitaler Zwilling geschaffen werden, der zum Beispiel durch Simulationen die Optimierung des Betriebs ermögliche, so Hutchinson.
Die neue Einheit GE Digital – Siemens hatte seine Aktivitäten bereits früher in der Division Digitale Fabrik erfolgreich gebündelt – soll bei den Europa-Plänen der Amerikaner eine Schlüsselrolle spielen. GE kam im vergangenen Jahr in Europa auf 25 Milliarden Euro Umsatz. „Wir wollen organisch wachsen und Marktanteile gewinnen“, kündigte Hutchinson an. Natürlich will GE Siemens auch Marktanteile abjagen. „GE braucht einen starken Wettbewerber, und Siemens braucht einen starken Wettbewerber.“ Konkurrenz, so Hutchinson, belebe am Ende schließlich das Geschäft.