Lautlos fährt der elektrisch betriebene Montagebock am Regal vorbei. Das Regal weiß schon, welches Teil montiert werden soll und zeigt dem Arbeiter mit einer kleinen LED-Leuchte, wo er zugreifen muss. Und schon rollt der Arbeitstisch weiter zur nächsten Station. Dort muss ein schweres Gehäuse gewendet werden. Die Maschine, die dem Monteur diesen anstrengenden Schritt abnimmt, ist bereits in die Montage-Insel integriert und spricht sich mit dem mobilen Montagebock ab. Falls der Arbeiter mal einen Schritt vergisst, kann er jedes Detail auf einem Tablet nachlesen. Ist alles zusammengeschraubt, wird das Teil auf den nächsten Roboter verladen, zur Lackieranlage und schließlich zur Endkontrolle gebracht.
Was nach der stereotypen Vision einer vernetzen Industrie-4.0-Anlage klingt, ist bei SEW Eurodrive bereits Realität. Während viele Unternehmen über die vernetzte Produktion reden oder eine kleine Demonstrationsanlage haben, hat der Spezialist für Elektroantriebe aus dem badischen Bruchsal bereits eine Modellfabrik in Betrieb, die voll in der Tagesproduktion mitläuft. „Einzelne vernetzte Maschinen sieht man heute schon in fast jeder Fabrik“, sagt der Technik-Geschäftsführer Johann Soder. „Dass ganze Wertschöpfungsketten vernetzt und digitalisiert sind, ist aber noch sehr selten. Genau das haben wir hier gemacht.“
Sechs Montage-Inseln hat SEW in dem Werk Graben-Neudorf bereits auf das neue System umgestellt. Da es aber keine passenden Maschinen zu kaufen gab, musste SEW die fahrenden Montageböcke – intern werden sie Montage-Assistenten genannt – erst entwickeln. Auch die Logistik-Assistenten, die für den Transport zwischen den einzelnen Inseln zuständig sind, haben die Badener selbst entworfen.
„Wir werden Personal verlieren“
Die ersten Ergebnisse des Versuchs können sich sehen lassen: Bis ein Elektromotor samt Getriebe montiert ist, dauert es nur noch halb so lange. Gleichzeitig ist die Anzahl an möglichen Varianten, die an einer Montage-Insel zusammengeschraubt werden können, um ein Vielfaches gestiegen. Für Soder hat sich das neue Modell bereits etabliert: Bis 2018 soll auch der Rest des Werks umgestellt werden.
Die klassische Werkbank hat dann ausgedient – der Mitarbeiter an der Werkbank jedoch nicht. „Wir werden durch Industrie 4.0 Personal verlieren, zum Beispiel im Wareneingang oder der Fabriksteuerung“, erläutert Soder. „Aber unsere Werker sind auf absehbare Zeit nicht zu ersetzen. Roboter beherrschen die Varianz noch nicht.“
Die Folgen von Industrie 4.0 für die Branchen in Deutschland bis 2025
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 13 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 2-5 %
Produktivitätssteigerungen: 7-11 %
Zahl der Arbeitsplätze: 95.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,9 %
Quelle: Boston Consulting Group
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 22 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 2-3 %
Produktivitätssteigerungen: 6-9 %
Zahl der Arbeitsplätze: 50.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,2 %
Quelle: Boston Consulting Group
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 10 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 2-3 %
Produktivitätssteigerungen: 5-10 %
Zahl der Arbeitsplätze: 15.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,8 %
Quelle: Boston Consulting Group
Anteil am Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 55 %
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 1-2 %
Produktivitätssteigerungen: 4-7 %
Zahl der Arbeitsplätze: 230.000
Jährlicher Zuwachs an Arbeitsplätzen: + 0,6 %
Quelle: Boston Consulting Group
Umsatz des verarbeitenden Gewerbes (Bruttoproduktionswert): 2 Billiarden Euro
Zusätzliches Umsatzwachstum pro Jahr: 20-40 Milliarden Euro
Produktivitätssteigerungen: 90-150 Milliarden Euro
Quelle: Boston Consulting Group
Jede der Montage-Inseln kann tausende verschiedene Motoren herstellen – je nachdem, welche Antriebsart verbaut wird und wie die Teile im Getriebe kombiniert werden, entsteht so ein Elektroantrieb nach den Ansprüchen des Kunden. Das Problem für die Roboter: Es müssen jedes Mal andere Zahnräder und Wellen gegriffen und eingesetzt werden. Und so anpassungsfähig sind Roboterhände noch nicht. Sie bräuchten verschiedene Greif-Werkzeuge, die ständig ausgetauscht werden müssten – der Zeit-Vorteil wäre schnell dahin.
Dennoch gilt: Ohne gute Ausbildung geht nichts, Geringqualifizierte dürften zu den Verlieren des Strukturwandels gehören. Das legt auch eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nahe. Laut den Experten werden in den kommenden Jahren in Deutschland 430.000 Arbeitsplätze in der Produktion neu entstehen, gleichzeitig aber 490.000 weniger qualifizierte Jobs wegfallen. So müssten zum Beispiel Facharbeiter, die bisher in den Produktionsstraßen mit Routinearbeiten erledigen, frühzeitig für anspruchsvolle Aufgaben in der Industrie 4.0 umgeschult werden, so die Wissenschaftler des IAB.
„Die Maschinen sollen unsere Mitarbeiter entlasten. Wir müssen nicht härter, sondern intelligenter arbeiten“, sagt Soder. Der Mensch, erklärt er, wird „vom Arbeiter zum Problemlöser, Entscheider und Innovator“. Denn in ungeplanten, nicht vorhersagbaren Situationen ist der Mensch mit seinen kognitiven Fähigkeiten gefragt und soll sich auch voll und ganz darauf konzentrieren können.
Was Soder von seinen Mitarbeitern erwartet und fordert, ist vor allem Flexibilität: „Morgens an der Stechuhr das Hirn abzugeben und acht Stunden lang einer monotonen Aufgabe nachzugehen, wird nicht mehr funktionieren“, meint der SEW-Geschäftsführer. „Das setzt natürlich eine andere Ausbildung und Qualifizierung voraus.“
Ein Beispiel: Die Auslastung der Fabrik – und damit der Einsatz des Personals – wird in der Modellanlage von SEW nicht mehr Wochen, sondern maximal drei Stunden im Voraus geplant. Deutet sich mitten in der Schicht ein Engpass in einer der Montage-Inseln an, werden ein oder zwei Mitarbeiter samt Montage-Assistenten umgeplant. Der Monteur muss flexibel auf den neuen Einsatz reagieren können – und sich mit deutlich mehr als nur einem Handgriff auskennen.
Andrea Nahles fordert neue Tarifverträge für Industrie 4.0
Dass die Digitalisierung der Produktion sich auch auf Beschäftigung und Arbeitsalltag auswirkt, ist längst in der Politik angekommen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat diese Woche bereits neue Tarifverträge gefordert, die der gestiegenen Flexibilität Rechnung tragen. Damit sollen Missstände wie etwa bei Werkverträgen frühzeitig verhindert werden.
„Natürlich ist bei Industrie 4.0 die Flexibilität der Beschäftigten gefordert. Wir brauchen für sie aber auch Sicherheit“, sagte Nahles. Dies zu regeln, sei in ihren Augen Aufgabe der Tarifparteien.
Für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) muss die Arbeit in der vernetzten Fabrik so gestaltet werden, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. „Wir wollen gute Arbeit 4.0“, sagte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann auf dem Digitalisierungskongress des DGB. Dafür müssten zum Beispiel Beschäftigungsverhältnisse sicher und Regeln für neue Arbeitsformen fair sein. Neben Problemen wie der dauerhaften Verfügbarkeit von Arbeitnehmern bringe der digitale Wandel aber auch Chancen: „Es fallen nicht nur Tätigkeiten weg, es entstehen auch neue Arbeitsplätze.“
„Die Fabrik der Zukunft wird keineswegs menschenleer sein“
Eine tarifliche Sicherheit ist nicht nur im Interesse der unzähligen Angestellten in kleinen und mittleren Industriebetrieben, sondern auch von Großkonzernen. Nicht jedes Unternehmen geht das Thema Industrie 4.0 so offen an wie SEW. Auch, weil sie die Investitionen scheuen. Nicht zuletzt erwarten Experten deshalb, dass der digitale Wandel in der Fabrik vor allem von Konzernen vorangetrieben wird.
Bei Daimler etwa sind bereits zahlreiche Anwendungen umgesetzt. „Erfahrung, Kreativität und Flexibilität der Menschen bleiben in vielen Bereichen der Automobilproduktion unersetzlich“, sagt Markus Schäfer, Produktions-Bereichsvorstand bei Mercedes-Benz Cars. „Die Fabrik der Zukunft wird keineswegs menschenleer sein. Im Gegenteil – wir rechnen damit, dass sich neue Aufgaben und Profile für unsere Beschäftigten ergeben.“
So schneidet Deutschland als Wirtschaftsstandort ab
Frage: Wie bewerten die Unternehmen mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland die folgenden Standortfaktoren im internationalen Vergleich?
Im Rahmen der Umfrage wurden 1300 Unternehmen befragt und gebeten ihre Meinungen mit den Durchschnittsnoten von 1 („klarer Wettbewerbsvorteil“) bis 6 („nicht wettbewerbsfähig“) einzuordnen.
Quelle: Deutsche Industrie und Handelskammer // DIHK-Umfrage im Netzwerk Industrie 2014
2011: Note 2,4
2014: Note 2,3
2011: Note 2,4
2014: Note 2,3
2011: Note 2,4
2014: Note 2,4
2011: Note 2,7
2014: Note 2,5
2011: Note 2,8
2014: Note 2,6
2011: Note 2,8
2014: Note 2,6
2011: Note 2,5
2014: Note 2,7
2011: k.A.
2014: Note 2,8
2011: Note 3,3
2014: Note 2,9
2011: Note 3,0
2014: Note 2,9
2011: Note 2,5
2014: Note 2,9
2011: Note 3,1
2014: Note 3,0
2011: Note 2,5
2014: Note 3,1
2011: Note 3,6
2014: Note 3,2
2011: Note 3,8
2014: Note 3,5
2011: Note 3,6
2014: Note 3,5
2011: k.A.
2014: 3,7
2011: Note 4,0
2014: Note 3,7
2011: Note 4,1
2014: Note 3,8
2011: Note 4,0
2014: Note 3,9
2011: Note 4,1
2013: Note 4,0
2011: Note 4,4
2014: Note 4,1
2011: Note 4,2
2014: Note 4,4
2011: Note 4,8
2014: Note 4,5
Die Produkte werden digital entwickelt, getestet und die Produktion simuliert, bevor überhaupt das erste echte Bauteil entsteht. Die Abläufe in der Fertigung können dadurch so optimiert werden, dass beim Start der Produktion kein überflüssiger Handgriff mehr auftaucht.
Für Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht ist daher entscheidend, wie das Verhältnis von Autonomie und Kontrolle in Mensch-Maschine-Interaktionen gestaltet wird. „Die technischen Veränderungen kommen. Zu ihrer Gestaltung ist eine neue Humanisierungspolitik erforderlich“, sagt Brecht. „Entweder: Die Menschen sagen den Maschinen, was sie tun sollen. Oder: Die Menschen bekommen von den Maschinen gesagt, was sie tun sollen. Der Schlüssel ist, dass wir die Menschen durch Qualifizierung gut darauf vorbereiten.“
Fehlende Standards in der Digitalisierung hemmen Unternehmen
In der Aus- und Weiterbildung der Arbeiter mag ein Schlüssel zum Erfolg der vierten industriellen Revolution liegen. Doch dafür müssen die Unternehmen bereits in entsprechende Anlagen und Maschinen investiert haben. Noch zögern aber viele.
Oft fehlen den Vorstandsvorsitzenden und Geschäftsführern die Standards für die Kommunikation und Kompatibilität zwischen den Maschinen. Verschiedene Arbeitsgruppen der Plattform Industrie 4.0 oder der Zukunftsallianz Maschinenbau erarbeiten diese derzeit. Verbindliche Beschlüsse fehlen allerdings bislang.
Umsatzanteile im Maschinenbau nach Ländern
Umsatzanteil im Jahr 2013: 2 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 0,2 Prozent
Quelle: Branchenbericht Maschinenbau 2014 der Commerzbank
Umsatzanteil im Jahr 2013: 3 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 3 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2013: 4 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 4 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2013: 11 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 17 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2013: 13 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 20 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2013: 17 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 21 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2013: 17 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 28 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2013: 32 Prozent
Umsatzanteil im Jahr 2003: 7 Prozent
Johann Soder dauert das zu lange. „Wir warten nicht auf Software-Standards“, sagt er. „Wir haben unser eigenes System entwickelt. Denn entschieden wird der Erfolg von Industrie 4.0 in der Software.“ Darin und der damit verbundenen IT sieht Soder bei der Fabrik-Umstellung die größte Herausforderung. Denn viele Unternehmen, sein eigenes eingeschlossen, müssen sich von jahrelang etablierten Systemen verabschieden. „Für eine modulare und anpassungsfähige Fabrik muss sich die IT neu erfinden“, sagt er. „Dezentral gesteuerte Produktionseinheiten brauchen auch eine dezentrale und eigenständige IT.“ Diese müsse aber auch „ohne Heerscharen von Spezialisten“ zu steuern sein.
Software, die die Fabrik erobert – für manchen Manager klingt das nach dem Computer Integrated Manufacturing, das in den Achtzigerjahren als die Zukunft gepriesen wurde. Doch nicht wenige Unternehmen rüsteten nach kurzer Zeit wieder zurück. Die Abläufe waren zu komplex, in der Praxis gab es Probleme – und die Produktivität litt. „Heute können wir das, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben“, sagt Soder.
Das ist auch ausländischer Konkurrenz nicht entgangen. Der Fortschritt deutscher Unternehmen wird genau beobachtet. Von den über 215.000 Besuchern auf der Hannover Messe im April kamen 65.000 aus dem Ausland. „Wir hatten in diesem Jahr über 7000 Besucher aus China zu Gast, die sich über moderne Fabrik- und Energietechnik informieren wollten“, sagt Jochen Köckler, Vorstandsmitglied der Deutschen Messe AG. „China möchte stärker in moderne Produktion investieren. Steigende Löhne werden auch dort zu einem höheren Automatisierungsgrad führen – wovon deutsche Unternehmen profitieren können.“