Joe Kaeser "Es bringt nichts, das Silicon Valley zu kopieren"

Siemens-Chef Joe Kaeser sieht zig Jobs durch die Digitalisierung gefährdet. Er investiert deswegen Hunderte Millionen in digitale Weiterbildung seiner Leute und warnt die deutsche Industrie davor, das Silicon Valley nachzuahmen.

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Joe Kaeser, 59, ist Vorstandsvorsitzender von Siemens. Der gebürtige Niederbayer leitet den Dax-Konzern seit August 2013. Zuvor gehörte der Betriebswirt dem Leitungsgremium des Konzerns als Finanzvorstand an. Quelle: Ken Richardson für WirtschaftsWoche

Es ist keine Vorschau des neuen „Transformers“-Films, die an diesem Tag auf der Bühne im Kongresszentrum Boston gegeben wird. Keine Science-Fiction, sondern Wirklichkeit. Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser hat für ein Gespräch über die vierte industrielle Revolution im Rahmen der German-American-Conference an der Harvard-Universität zwei Gäste mitgebracht: Die beiden Roboter mit ihren vielen gelenkigen Beinen sehen aus wie überdimensionierte Spinnen, eine rot, eine blau. Sie sind Pfadfinder der Industrieautomation und können mehr, als manch ein Mensch sich wünschen mag.

WirtschaftsWoche: Herr Kaeser, was machen die beiden hier?
Joe Kaeser: Das sind Freunde von mir. Ein weiblicher und ein männlicher.

Und natürlich ist der weibliche wieder rot … Das ist doch klischeehaft.
Ich würde eher sagen: Einer von beiden arbeitet und einer beobachtet.

Zur Person

Okay, und der, der nur beobachtet, ist der männliche, oder?
Wenn Sie das sagen! Aber viel wichtiger ist: Die beiden sind autonome Roboter – wir nennen sie „Spiderbots“, also „Spinnenroboter“, weil sie sich wie Spinnen bewegen. Sie sind mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, und sie können 3-D drucken, im Team mit anderen Robotern. Siemens-Forscher in Princeton haben sie als Prototyp entwickelt. Eines Tages könnten Bots wie diese hier die Strukturen und Oberflächen großer, komplexer Gebilde wie Flugzeugrümpfe oder Schiffskörper gestalten. Insgesamt ist das eine sehr spannende Vision für die Zukunft der Fertigung: Maschinen, die gemeinsam arbeitend neue Maschinen formen.

Vor unserem Interview hier hat mir einer der Roboter gesagt, es sei schön, hier in Boston zu sein. Warum kann der überhaupt sprechen?
Weil wir immer noch eine Schnittstelle zum Menschen brauchen. Untereinander kommunizieren die Roboter digital, also in Nullen und Einsen. Aber der Mensch steht am Ende im Zentrum. Die Bots müssen mit ihm kommunizieren können.

Sie haben mal gesagt, Industrie 4.0 ist die Schicksalsfrage der deutschen Industrie. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sie positiv beantwortet wird?
Das Gute ist, dass die Wertschöpfungsketten effizienter werden. Das Schlechte für einige ist: Sie wird stark verkürzt, Teile der Kette, die keinen Mehrwert bringen, fallen unweigerlich heraus. Viele Arbeitsplätze wird es bald nicht mehr in der Form geben, wie wir sie heute kennen. Aber es werden auch neue Tätigkeiten und eine Vielzahl neuartiger Arbeitsplätze entstehen. Die Herausforderung wird sein, Menschen die Kompetenzen zu vermitteln, die für diese neuen Arbeitsplätze notwendig sind.

Quelle: Ken Richardson für WirtschaftsWoche

John Maynard Keynes hat schon in den Dreißigerjahren von technischer Arbeitslosigkeit gesprochen. Was ist neu an der jetzigen Situation?
Natürlich war die Menschheit schon viele Male in so einer Situation. Aber heute gibt es einen gewaltigen Unterschied zu vorherigen industriellen Revolutionen: Als die Dampfmaschine oder die Elektrizität erfunden wurde, gab es keine Möglichkeiten, in Echtzeit zu kommunizieren. Heute aber gibt es eine global vernetzte Gemeinschaft, die bestens über den Wandel informiert ist und bei dessen Gestaltung aktiv mitreden möchte. Wir müssen schauen, wie wir als Gesellschaft möglichst viele bei diesem Wandel mitnehmen. Es ist eben nicht jeder ein Softwareentwickler oder ein Harvard-Absolvent.

Auch das war bei bisherigen Wandlungsprozessen so.
Ein Punkt beschäftigt mich in der Tat: Wenn wir es nicht hinbekommen sollten, dass das digitale Zeitalter inklusiv ist, dann wird die vierte industrielle Revolution stecken bleiben. Weil die Gesellschaft dann nicht mitmacht. Sie sehen das ja heute schon in manchen Industrieländern, wo sich viele Menschen zurücksehnen nach einer Zeit, in der die Kohle- und die Stahlindustrie florierten, einfach weil sie damals sichere und auch gesellschaftlich anerkannte Jobs hatten. Dabei ist das ja eine unerfüllbare Sehnsucht, denn wir können die Vergangenheit nicht zurückholen. Wir müssen den Menschen heute die Möglichkeit geben, sich weiterzuqualifizieren – nur so werden wir sie in die Lage versetzen, an dieser neuen Welt erfolgreich teilzuhaben.

„Das deutsche Modell der dualen Ausbildung könnte ein echter Exportschlager werden“

Als Donald Trump neulich ein Gesetz unterschrieb, um Barack Obamas Politik für mehr saubere Energie rückgängig zu machen, sagte er zu einer Gruppe anwesender Bergarbeiter: Bald habt ihr wieder Jobs. Wenn ich Sie so höre, dann verbreitet Trump da Fake News.
Ich würde es eher alternative Fakten nennen (lacht). Er sagte ja nicht: Ihr bekommt eure alten Jobs zurück. Er sagte: Ihr bekommt wieder Arbeit. Und es ist natürlich wichtig für eine so bedeutende Volkswirtschaft wie die der USA, eine starke industrielle Basis zu haben. Es hat immer Zyklen in der Technologie und damit auch in den von Technologiewandel betroffenen Branchen gegeben. Aber wir müssen den Prozess wirklich gut managen. Als ich zusammen mit der Bundeskanzlerin vor einigen Wochen zu Besuch bei Präsident Trump war, haben wir sehr viel über Qualifizierung von Arbeitern gesprochen. Mein Eindruck: Das deutsche Modell der dualen Ausbildung, also der Ausbildung in Betrieb und Berufsschule, könnte ein echter Exportschlager werden.

Ein Siemens-Mitarbeiter soll Informationen aus der Energiesparte des Unternehmens an Chinesen verkauft haben. Den Hinweis dazu erhielt das Unternehmen über das interne Whistleblower-System.
von Angela Hennersdorf, Silke Wettach

Microsoft-Gründer Bill Gates forderte kürzlich eine Robotersteuer, um die Kosten für diese Qualifizierung und Veränderung zu bewältigen.
Nicht nur Bill hat das gefordert. Was man ihm lassen muss: Er hat genau verstanden, wo die Herausforderung liegt. Wenn wir durch smarte Fertigung Arbeit künftig in 100 Stunden erledigen, die vorher 1000 Stunden dauerte, dann ist nicht nur die Wertschöpfungskette dramatisch verkürzt worden. Dann muss man auch sehen: Aus diesen 1000 Arbeitsstunden wurden ja bisher auch die Sozialsysteme finanziert, daraus wurden Gehälter berechnet. Wie also wollen Sie das alles mit 100 Produktionsstunden finanzieren? Also sagt Bill: Wenn diese Roboter die Arbeitseinkommen mindern, müssen wir die Wertschöpfung durch die Roboter eben besteuern. Interessant ist allerdings, dass Bill vor 25 Jahren, als Software sehr viel menschliche Arbeit zu ersetzen begann, diesen Vorschlag nicht für eine Softwaresteuer gemacht hat. Da dachte er als Gründer eines großen Softwarehauses wohl noch anders … Heute müsste er sagen: Die Produktivitätsfortschritte durch Software sind deutlich größer als die durch Roboter.

Also fordert der Chef von Siemens nun eine Softwaresteuer?
Diese Schlagzeile werde ich Ihnen nicht liefern. Ich beschäftige mich wirklich viel mit dieser Frage, aber habe ich eine fertige Antwort darauf? Nein. Nehmen Sie Amazon als Beispiel, ein wirklich smartes Unternehmen, von dem Millionen Kunden weltweit profitieren. Aber eben auch ein Unternehmen, das viele Menschen arbeitslos gemacht hat, Buchhändler zum Beispiel oder andere Einzelhändler in den Innenstädten. Was haben diese Leute gemacht? Sie haben Widerstandskampagnen gegen Amazon organisiert. Wenn du die Leute nicht mitnimmst auf dem Weg durch den Wandel, dann wehren sie sich. Denn es geht um ihre Existenz. Wir müssen einerseits sicherstellen, dass möglichst niemand zurückbleibt. Andererseits können wir nicht warten, bis der Letzte sich bewegt. Dieser Aufgabe müssen wir uns als Gesellschaft stellen.

Siemens muss einen enormen Wandel bewältigen. Andererseits müssen Sie Ihre Belegschaft mitnehmen. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Wir sind dabei, das herauszufinden. Was wir auf jeden Fall machen: Wir investieren in unsere Mitarbeiter. Für Aus- und Fortbildung geben wir im Konzern jedes Jahr über 500 Millionen Euro aus. Und wir investieren in Innovation: Jahr für Jahr mehr als fünf Milliarden Euro in unsere Forschung und Entwicklung. Wir sprechen überall im Unternehmen intensiv darüber, was Digitalisierung bedeutet und wie wir die Chancen nutzen können, die sich daraus ergeben. Bei Siemens arbeiten heute mehr als 21.000 Softwareingenieure. Wir organisieren Hackathons, bei denen alle mitmachen können – also nicht nur IT-Experten. Wir haben zusammen mit dem Betriebsrat auch einen Innovationsfonds aufgelegt, der die Umsetzung kreativer Ideen innerhalb der Firma finanziell unterstützt. Es bewegt sich also eine ganze Menge. Ich selbst bin jede Woche unterwegs und spreche mit unseren Leuten, mit Regierungen, mit Behörden, mit Kunden, wie wir den Wandel insgesamt gut hinbekommen. Dennoch würde ich mir wünschen, dass es mehr Menschen gibt, die eine positive Sicht auf den Wandel haben.

„Die „Winner takes it all“-Logik des Internets wird auch in der Industrie greifen“

Wie sehr hindert Sie dabei, dass Sie eine Zwei-Klassen-Belegschaft haben? Für Ihre deutschen Mitarbeiter gilt die Mitbestimmung, für die ausländischen nicht.
Für mich gibt es bei Siemens keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Jeder Siemens-Mitarbeiter ist für mich gleich wichtig, egal, wo er arbeitet. Und so kann ich immer nur an alle Mitarbeiter appellieren, das gesamte Unternehmen und seine Interessen im Blick zu haben. Ich finde Mitbestimmung gut. Sie muss aber die Mitarbeiterinteressen global vertreten und darf nicht mit Co-Management verwechselt werden. Dann kann sie echt dazu beitragen, die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft zu bewahren und sie für das digitale Zeitalter neu zu interpretieren. Das wird eine wichtige Aufgabe werden, die Unternehmen und Arbeitnehmervertreter zu lösen haben. Denn das Internet der Dinge, das die vierte industrielle Revolution prägen wird, ist exterritorial. Die globale Vernetzung von Maschinen und Systemen auf virtuellen Plattformen wird den Erfolg bestimmen. Auch die Menschen in den Unternehmen werden global vernetzt sein. Da kommt man mit national-betrieblicher Interessensoptimierung im internationalen Wettbewerb nicht mehr weit. Die vierte industrielle Revolution passiert weltweit. Wenn wir die sozial gerecht gestalten wollen, bräuchten wir eigentlich eine integrierte Mitbestimmung auf globaler Ebene. Wir müssten die deutsche Mitbestimmung internationalisieren. Das wäre made in Germany mal anders gedacht. Das deutsche Modell der „dualen Ausbildung“ ist ja auch ein Exportschlager, um den uns die ganze Welt beneidet.

Austausch in Harvard: Joe Kaeser mit WiWo-Herausgeberin Miriam Meckel.

Deutschland hat ja die erste Entwicklungsphase des Internets gegen US-Firmen wie Google oder Amazon verloren. Sieht es aus deutscher Sicht gerade besser aus?

Es stimmt schon, dass wir zum Beispiel als Zentrum der weltweit innovativsten Autoindustrie, eines starken Mittelstands in unserer Führungsrolle als Industrienation massiv herausgefordert werden. Wie stehen wir derzeit da? Nicht schlecht, wie ich finde. Wir sind gut aufgestellt, gerade auch im Bereich Industrie 4.0. Wir haben das Know-how, die weltweite Kundenbasis, das Verständnis für die Bedürfnisse und die Prozesse unserer Kunden. Dennoch sollten wir wachsam bleiben. Die „Winner takes it all“-Logik des Internets wird auch in der Industrie greifen. Wir müssen also sehr genau darauf schauen, welche Geschäftsmodelle künftig noch funktionieren, wo das schwächste Glied in der Wertschöpfungskette sitzt und wie wir es schaffen, in der Wertschöpfungskette die Plätze einzunehmen, an denen Wert generiert wird. Das Internet ist da sehr simpel: Es löscht den wertlosen Mittelsmann aus. Deswegen müssen wir uns bewusst machen: Schau immer auf deine Lieferanten. Schau immer auf deine Kunden. Schau immer auf die Kunden deiner Kunden. Denn wenn du das nicht tust, wirst du eines Morgens aufwachen, und deine Kunden sind weg. Und dann?

Genau, und dann?
Das ist wie in der Geschichte mit den zwei Wanderern. Eines Tages treffen sie im Yosemite-Park auf einen hungrigen Bären. Sagt der eine: „Das sieht nicht gut aus.“ Sagt der andere: „Ach, geht schon. Ich zieh mir schnell meine Laufschuhe an und renne davon.“ Erwidert der Erste: „Wie, du willst schneller rennen als der Bär?“ Antwortet der andere: „Wieso schneller als der Bär? Ich muss nur schneller rennen als du.“

Was die Besucher auf der Industrie-Messe erwartet
Hannover Messe 2017 Quelle: PR
Hannover Messe 2017 Quelle: PR
Hannover Messe 2017 Quelle: PR
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Hannover Messe 2017 Quelle: PR
Hannover Messe 2017 Quelle: PR
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Ist der Mann ohne Laufschuhe nicht Chef eines 170 Jahre alten Konzerns, und der Sneaker-Mann Herausforderer aus der Techwelt. Wer überlebt: Joe Kaeser oder Elon Musk?
Fragen Sie den Bären.

Machen Ihnen diese Menschen mit den schicken Turnschuhen, also die Elon Musks dieser Welt, manchmal Angst?
Ja, die sich nur um schicke Turnschuhe kümmern, schon – Elon Musk weniger ... Elon Musk ist ein Musterbeispiel für einen Unternehmer, der bereit ist, vollkommen neue Wege zu gehen und viel zu riskieren – vielleicht auch zu viel. Das kann man heute noch nicht sagen. In meinen Augen ist die Aufteilung in „alte Welt“ und „neue Welt“ aber so nicht richtig. Siemens hat bei Tesla Automatisierung für verschiedene Anlagen geliefert und spielt in der neuen Gigafactory eine signifikante Rolle. Unsere Software kommt auch beim Weltraumprojekt SpaceX zum Einsatz. Wir sind längst Teil dieser sogenannten neuen Welt. Das heißt, auch hyperaktive Firmengründer wollen das Beste oder nichts!

„Den Willen, Zukunft zu gestalten, musst du im Herzen haben“

Warum gibt es so wenig deutsche Musks?
Es gibt hervorragende Unternehmer in Deutschland, gerade in der Automobilindustrie – sonst stünden wir dort nicht so erfolgreich da. In Deutschland fehlt etwas der Gründergeist, neue Geschäftsmodelle konsequent hochzuziehen. Das ist schade. Denn Start-ups wurden ja nicht im Silicon Valley erfunden, sondern in Deutschland, denken Sie an die „Gründerzeit“ im 19. Jahrhundert. Im Silicon Valley waren noch nicht mal Garagen gebaut, da hatten wir in Deutschland schon Start-ups im Hinterhof. Und heute? Heute pilgern alle ins Silicon Valley, weil sie wissen wollen, wie Zukunft geht. Das ist aber der falsche Ansatz. Den Willen, Zukunft zu gestalten, musst du im Herzen haben. Es bringt nichts, das Silicon Valley zu kopieren, du musst verstehen, was es ist. Und das Wichtigste am Silicon Valley ist die Herangehensweise. Neudeutsch spricht man von „Mindset“: Gehe kreativ mit neuen Ideen um und fürchte dich nicht vor dem Scheitern. Wage etwas, denke groß. Dieses Mindset kann der Bundestag nicht per Gesetz verordnen. Das muss vom inneren Antrieb kommen. Hier haben auch Unternehmen und Universitäten eine Verantwortung, den Innovationsgeist zu fördern.

Wo Gründer-Nachfahren noch etwas zu sagen haben
BMWBei dem Autobauer geht praktisch nichts ohne die Zustimmung der Geschwister Susanne Klatten und Stefan Quandt, die noch 46,7 Prozent der BMW-Stammaktien halten. Beide sitzen seit 20 Jahren im BMW-Aufsichtsrat. Dieses Jahr dürfen die beiden mit einer Dividende von rund einer Milliarde Euro rechnen. Streng genommen sind die Eigner bei BMW keine Gründer-Nachfahren, denn die Verbindung zum Autobauer stammt aus den 1950er Jahren. Damals sprang ihr Vater, der Batteriefabrikant Herbert Quandt, der angeschlagenen Firma bei und stieg als Miteigentümer ein. Seine Kinder sind heute als stabile Ankeraktionäre bei BMW auch auf der Arbeitnehmerseite hoch im Kurs. Quelle: dpa
BoschDie Nachfahren des Gründers sind noch zu sieben Prozent an dem Technologiekonzern Robert Bosch GmbH beteiligt - ihr Einfluss hält sich also in Grenzen, zumal die Firma nicht börsennotiert ist und daher keine harten Transparenzregeln befolgen muss. Als Kontrollinstanz das Sagen hat bei dem Konzern mit seinen fast 400 000 Mitarbeitern die „Robert Bosch Industrietreuhand KG“, die aus früheren Bosch-Managern, externen Fachleuten und Familienangehörigen besteht. Der Anteil der KG am Stammkapital ist zwar nahe null, sie hat aber 93 Prozent der Stimmrechte. Von den Gewinnen (2015: 3,5 Milliarden Euro) profitiert besonders die Bosch-Stiftung, die zu 92 Prozent am Kapital der GmbH beteiligt ist. Ähnliche Stiftungsmodelle gibt es auch bei anderen Firmen. „Damit soll das Erbe des Gründers für die Zukunft gesichert werden“, erläutert Peter Englisch vom Beratungsunternehmen Ernst & Young (EY). Heutzutage sind auch steuerliche Überlegungen relevant – überträgt ein Familieneigner seine Anteile in eine Stiftung, werden keine Steuern gezahlt. „Solche Stiftungsmodelle machen zwar häufig Sinn, weil die Erben ihre Anteile dann nicht einfach verkaufen können“, sagt er. „Aber das ist ein Weg ohne Umkehr – für die Nachfahren ist das eine faktische Enterbung.“ Zudem sei es unklar, was die Treuhänder in den nächsten Jahrzehnten mit dem Erbe machten. Quelle: dapd
DürrDie Familie Dürr hält noch knapp 29 Prozent der Aktien an dem Lackiermaschinen-Hersteller, damit ist sie größter Aktionär an der börsennotierten Firma. Im Management ist kein Vertreter der Dürr-Familie mehr zu finden. Der frühere Firmenchef Heinz Dürr (im Bild) war einst Bahn-Chef, in einer Nebenfunktion saß er jahrzehntelang an der Spitze des Dürr-Aufsichtsrats - erst vor vier Jahren legte der heute 83-Jährige dieses Amt nieder, seither fungiert er nur noch als Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats. Seine Tochter Alexandra Dürr vertritt die Familie inzwischen in dem Kontrollgremium - im eigentlichen Berufsleben ist sie als Ärztin in Paris tätig. Quelle: dpa
PorscheBei der Finanzholding Porsche SE (PSE) ist der Familienclan Porsche/Piëch am Ruder - alle Stimmrechte gehören den Nachfahren von Ferdinand Porsche. Externes Kapital haben sie sich über Vorzugsaktien geholt, also stimmrechtslose Firmenanteile. Die Finanzholding mit nur 30 Mitarbeitern hält rund 52 Prozent der Stimmrechte an Volkswagen, Europas größter Autobauer hat mehr als 600.000 Beschäftigte. Ohne die Zustimmung der Familien geht also wenig in Wolfsburg. In dem Autokonzern an führender Position tätig ist kein Familienmitglied - letzter Vorstandschef aus Reihen des Clans war bis 2002 Ferdinand Piëch, danach war er bis 2015 Aufsichtsratschef. Der inzwischen 79-Jährige hat nun den Großteil seiner Anteile an der PSE an Verwandte verkauft, sein Aufsichtsratsmandat bei der Finanzholding dürfte er in den kommenden Monaten niederlegen. Quelle: dpa
SchaefflerBeim fränkischen Autozulieferer-Konzern Schaeffler haben Mutter und Sohn das Sagen: Maria-Elisabeth Schaeffler-Thurmann (75) und ihr Sohn Georg Friedrich Wilhelm Schaeffler (52) gehört eine Holding, die zu 75,1 Prozent an der Schaeffler AG und zu 46 Prozent an Continental beteiligt ist. Quelle: REUTERS
SiemensDer Münchner Technologiekonzern ist ein Beispiel, wie Familieneinfluss abnimmt und dennoch präsent bleibt. Die etwa 350 Mitglieder der Siemens-Familie sowie verschiedene Siemens-Stiftungen sind noch mit etwa sechs Prozent an dem Technologiekonzern beteiligt. Mit der promovierten Philosophin Nathalie von Siemens ist ein Nachkomme von Firmengründer Werner Siemens im Aufsichtsrat vertreten, ein Familienmitglied auf einem wichtigen Chefsessel mit operativer Verantwortung findet sich nicht im Konzern. Die Familie stimmt stets geschlossen ab und ist damit eine Stütze für die Chefetage des Münchner Technologiekonzerns. Quelle: dpa
StihlDer Sägenhersteller mit etwa 14.000 Mitarbeitern ist noch komplett in Familienhand, vier verschiedene Familienstämme halten je ein Viertel an der Stihl-Holding. Seit 2002 führen externe Manager die Vorstandsgeschicke, mit dem Maschinenbauer Nikolas Stihl sitzt ein Enkel des Firmengründers an der Spitze des Aufsichtsrats. Quelle: dpa

Aber ein wenig hat es schon auch mit Gesetzgebung zu tun, oder? In den USA gibt es deutlich mehr Freiheiten, ein Unternehmen zu gründen. Beneiden Sie da US-Firmen manchmal um diese Möglichkeiten?
Nein, das tue ich nicht. Ich respektiere sie, aber Neid ist das falsche Wort. Aus dem Vergleich mit den USA formuliert sich eher ein Anspruch: der Anspruch, dass wir uns in Deutschland anstrengen sollten, ebenfalls starke Ökosysteme für Gründer zu etablieren. Natürlich braucht es dafür auch die richtige Gesetzgebung. Zum Beispiel im Bereich der Finanzierung. In Europa ist das noch ausbaufähig. Wenn Sie in Deutschland als Gründer mit einer wirklich guten Idee zu einer Bank kommen, ist die erste Frage: „Haben Sie Sicherheiten?“ Wenn man die nicht hat, braucht man Bürgen. Und dann schaut die Bank noch in die Schufa, und wenn Sie dort einen Eintrag haben, können Sie die Finanzierung vergessen – unabhängig von der Güte Ihrer Idee. Das ist doch Wahnsinn.

Wie können wir den Vorteil des Silicon Valleys ausgleichen?
Nehmen Sie Siemens. Wir können, bei allem Respekt vor den Leistungen meiner Vorgänger, nicht sagen: Uns gibt es schon 170 Jahre, das wird auch die nächsten 170 Jahre so sein. So ist die Welt nicht mehr. Siemens muss sich neu erfinden, Tag für Tag, und wir tun das auch. Deswegen wollen wir jeden unserer fast 360.000 Mitarbeiter in die Lage versetzen, noch stärker als bisher wie ein Unternehmer zu denken und Verantwortung zu übernehmen. Bei Siemens nennen wir das Eigentümerkultur. Unser Leitspruch ist: „Handle stets so, als wäre es deine eigene Firma.“ Wir sind natürlich noch nicht am Ziel, dieses unternehmerische Denken überall zu verankern, aber wir kommen damit gut voran.

„Jede der industriellen Revolutionen hat am Ende die Welt verbessert“

Aber was schlussfolgern Sie daraus?
Lassen Sie uns auf unsere jüngste Neugründung schauen: next 47. Das ist ein Unternehmen im Unternehmen, das wir vor einem Jahr aus der Taufe gehoben haben. Der Name ist vom Siemens-Gründungsjahr 1847 abgeleitet. Wir werden dort in den nächsten fünf Jahren eine Milliarde Euro investieren. next 47 soll Start-ups einladen, mit uns zu arbeiten. Haben die eine gute Idee, finanzieren wir sie und helfen ihnen, von den Vorteilen eines Konzerns zu profitieren. Das können aber auch eigene Mitarbeiter sein, die dort hineingehen und gute Ideen umsetzen dürfen … Und dann richtig reich werden können.

Die Industrie 4.0 hört nicht bei der Vernetzung von Produkten und Maschinen auf. Die digitale Zukunft unserer industriellen Wertschöpfung liegt in der Nutzung von Daten – dabei hat Deutschland gute Karten.

Da schreien die ja sicher geradezu nach …
Wir hören genau zu, welche Bedürfnisse ein Start-up hat, und versuchen, auf dieser Grundlage zu unterstützen. Es geht nicht darum, die Bedürfnisse von Siemens zu formulieren und diese dann mithilfe der Start-ups zu erfüllen.

Was sagen Ihre altgedienten Mitarbeiter dazu, dass die Kollegen in dieser neuen Einheit solche Freiheiten haben?
Jeder Mitarbeiter hat die Möglichkeit, eine passende Idee bei next47 vorzustellen. Ist eine Idee gut, wird sie von next47 aufgenommen. Aus Siemensianern werden dann Gründer, mit einem Geschäftsplan und – mit etwas Glück – der Perspektive, Millionär zu werden.

Ohne Wachstum wird der Wandel nicht zu stemmen sein. Dabei hat die Techwirtschaft bisher wenig zum Produktivitätsfortschritt beigetragen. Wie soll sich das ändern?
Nehmen wir Industrie 4.0: Da haben wir ganz klare Produktivitätsfortschritte und Effizienzverbesserungen durch den Einsatz von Digitalisierung. Je weiter die vierte industrielle Revolution voranschreitet, desto mehr wird sich das auch in den volkswirtschaftlichen Kennziffern niederschlagen. Und was wäre denn die Alternative? Die Möglichkeiten, die IT bietet, um die Wertschöpfungskette effizienter zu machen, ungenutzt zu lassen? Dann kommt doch sofort eine andere Volkswirtschaft, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Wenn wir da eine Lücke lassen, kommen andere, vielleicht aus China, um sie zu schließen. Jede der bisherigen drei sogenannten industriellen Revolutionen hat am Ende die Welt verbessert und den Menschen Wohlstand und Erleichterung gebracht. So wird es auch mit der vierten sein. Es wird aber auch mit gravierendem Wandel – und auch Umverteilung- verbunden sein.

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