One-Dollar-Glasses Brillen, die die Welt verändern

750 Millionen Fehlsichtige weltweit müssen ohne Sehhilfen leben. Lehrer Martin Aufmuth hat eine Brille entwickelt, die sich für einen Dollar überall bauen lässt. Sein soziales Start-up begeistert auch einen Milliardär.

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Die Ein-Dollar-Brille eröffnet fehlsichtigen Kindern Lebensperspektiven. Viele kamen vorher im Unterricht nicht mit, weil sie schlecht sehen konnten. Quelle: Martin Aufmuth

Zwei Wochen lang war Martin Aufmuth in Brasilien unterwegs: in den Armutsvierteln der Favelas und im entlegenen Amazonasgebiet. Mit dem Schnellboot fuhr er mit seinem Team tief in die Nebenflüsse hinein. Es gab Kranke, die bis zu fünf Stunden lang unterwegs waren, damit der Erlanger sie sehend macht. „Eine 14-Jährige konnte es kaum fassen, als sie das erste Mal ihre Umgebung klar erkennen konnte“, erzählt Aufmuth. „Und eine ältere Frau kann nun nach vielen Jahren wieder ihre Nähmaschine benutzen und so ein wenig Geld verdienen.“

Martin Aufmuth ist weder Augenarzt, noch Entwicklungshelfer, sondern Unternehmer. Besser gesagt Sozialunternehmer. In langer Tüftelarbeit hat er einen Baukasten entwickelt, mit dem sich überall auf der Welt eine Brille individuell fertigen lässt – ohne Strom und ohne Schrauben in weniger als einer halben Stunde. Die Materialkosten für Biegedraht, kratzfeste Kunststofflinsen (von –8 bis + 10 Dioptrien) und für ein paar bunte Perlen als Schmuck liegen gerade einmal bei einem Dollar. Deshalb nennt er seine Erfindung „Ein-Dollar-Brille“. So heißt auch seine gemeinnützige Organisation.

„Weltweit haben eine Dreiviertelmilliarde Menschen keinen Zugang zu augenärztlicher Versorgung oder sie können sich keine Brille leisten“, entrüstet sich Aufmuth. Allein in Brasilien, das ja kein Entwicklungsland ist, gebe es in acht von zehn Städten keinen Augenarzt. Für grob geschätzte 50 Millionen Brasilianer sei eine Brille unerreichbar. In ärmeren Ländern sieht die Lage noch viel schlimmer aus.

202 Milliarden Dollar Einkommen gehen im Jahr laut Weltgesundheitsorganisation WHO alleine durch nicht korrigierte Kurzsichtigkeit verloren, weil diese sehgeschwächten Menschen nicht lernen oder für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Zum Vergleich: 135 Milliarden Dollar gaben die Industrienationen (OECD) 2014 für Entwicklungshilfe aus.

„Stellen Sie sich vor, wir würden allen Fehlsichtigen in Deutschland ihre Brillen wegnehmen“, sagt Aufmuth. Manager könnten nicht mehr lesen, Lehrer nicht mehr unterrichten, Ärzte nicht mehr operieren und Busfahrer nicht mehr fahren. „Was das für einen Wirtschaftseinbruch bei uns gäbe.“

Auf seine Idee kam Aufmuth, der bis vor kurzem Mathematik- und Physiklehrer an einer Realschule in Erlangen war, als er vor rund sieben Jahren billige Brillen aus China im Ein-Euro Laden sah. „Warum sind die im reichen Deutschland so billig, aber in Afrika so teuer“, fragte er sich. Zuvor hatte er das Buch „Out of Poverty“ des kanadischen Sozialunternehmers Paul Polak gelesen, in dem dieser von dem globalen Problem fehlender optischer Grundversorgung spricht. Aufmuth fasste den Entschluss, etwas tun zu müssen.

Altbrillen in Entwicklungsländern zu verschenken, das hält er nicht für nachhaltig. „Die Brillen passen oft nicht richtig und sind nach einiger Zeit kaputt.“ Für die Leute sei das dann schlimmer als vorher: Sie konnten das erste Mal in ihrem Leben richtig sehen, haben aber dann keinerlei Chance jemals wieder eine Brille zu bekommen.

Aufmuth geht es um eine augenoptische Grundversorgung: Jeder Mensch soll jederzeit die Möglichkeit haben, in seiner Nähe eine für ihn erschwingliche Brille zu kaufen. So wie bei uns. Deshalb tüftelte der gelernte Fernsehtechniker im heimischen Reihenhaus über ein Jahr an einer Biegemaschine für seine Brille. Er studierte an die 1000 Patente und experimentierte mit verschiedenen Materialien.

Die Ein-Dollar-Brille soll nicht nur Fehlsichtigen ein besseres Leben ermöglichen, sie soll auch Leute in Arbeit bringen. Deshalb bilden Aufmuth und sein Team in den armen Ländern mehr als 170 ehrenamtliche Mitarbeiter aus. Diese messen die Sehstärke, bauen die Brillen und verkaufen diese vor Ort – sei es in der afrikanischen Steppe, im Urwald oder in den städtischen Slums.

„Wir bringen auch Obdachlose und Menschen aus den Favelas, die sonst keine Perspektive hätten, in Lohn und Brot“, sagt Aufmuth. In sechs bis acht Wochen werden Einheimische angelernt. Die Geschicktesten bekommen eine durch Spenden finanzierte Biegemaschine kostenfrei geliehen. Die hat einen Wert von 2500 Euro inklusive Grundausstattung für 500 Brillen.

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