Rekrutierung Voller Einsatz für die zweite Chance

In Deutschland gibt es jährlich bis zu 100.000 Studienabbrecher. In Zeiten des Fachkräftemangels stellen Firmen die jungen Menschen ohne Uniabschluss verstärkt ein. Viele von ihnen überzeugen mit hoher Motivation.

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Bildungsministerin Johanna Wanka (r.) und Kanzlerin Angela Merkel zu Besuch beim Aachener Projekt Swatch. Quelle: Rodger Bosch; AFP; Getty Images; VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Köln Sein Informatik-Studium an der RWTH Aachen war für den Web-Entwickler Philipp Habrich vor allem mit Frust verbunden. Viel zu trocken fand er den Stoff. Nach zwei Semestern: Abbruch. An der Fachhochschule Aachen lief es erst besser, dann scheiterte Habrich an Mathematik. Nach vier Semestern erneut: Abbruch. „Ich war verzweifelt“, sagt der junge Mann. Habrich stand mit leeren Händen da.

Kurz darauf konnte sich der Studienabbrecher seinen Job praktisch aussuchen. Zwölf Einladungen zu Bewerbungsgesprächen hatte er auf dem Tisch. Was wie ein Wunder wirkt, ist auch das Verdienst des Aachener Projekts Switch, das gezielt Studienabbrecher an Ausbildungsbetriebe vermittelt. „Dass die Resonanz so enorm ist, hätte ich mir nie erträumt.“ Habrich tat nach all dem Uni-Frust das Interesse an seiner Person gut: Er entschied sich für eine Lehre zum Anwendungsentwickler bei der Grün Software AG.

Alle Beteiligten profitieren. Denn Unternehmensvorstand Oliver Grün, zugleich Präsident des Bundesverbandes IT-Mittelstand, schätzt an Studienabbrechern vor allem ihre Einstellung: „Sie sind durch ihre Lebenserfahrung einfach reifer und auch motivierter als die anderen Auszubildenden. Ich habe bislang nur gute Erfahrungen mit Studienabbrechern gemacht“, sagt Grün. Etwa 90 Prozent der Abbrecher übernehme Grün Software nach ihrer Ausbildung.

Jedes dritte Unternehmen in Deutschland hat bereits Studienabbrecher ausgebildet. Bei denen, die es noch nicht getan haben, denken 75 Prozent der Personalchefs darüber nach. Dies ergab eine Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) bei 716 Unternehmen unterschiedlicher Branchen. Als „Win-win-Situation“ bezeichnet BIBB-Sprecher Andreas Pieper die Lehrzeit der Ex-Hochschüler: „Die ehemaligen Studenten erhalten die Chance auf einen qualifizierten Berufsabschluss und die Betriebe profitieren von leistungsstarken, mitunter auch schon entsprechend vorgebildeten Bewerbern.“

Die TU Berlin schätzt die Zahl der Studienabbrecher in Deutschland auf 60.000 bis 100.000. Fast jeder dritte Student verlässt die Uni ohne Abschluss, bei Fachhochschulen jeder vierte. Meist folgt große Ratlosigkeit, Gefühle des Scheiterns kommen bei vielen hinzu. Dabei sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt so gut wie nie zuvor – auch eine Folge der guten Konjunktur.


Persönlichkeit entscheidet

Michael Schanz, Arbeitsmarktexperte des Verbands für Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik, attestiert den Studienabbrechern in technischen Feldern ein gutes Rüstzeug: „Sie haben an der Uni oft ein Basiswissen an Mathematik, Mechanik und Physik mitbekommen und außerdem gelernt, Methoden zur Problemlösung zu entwickeln“, sagt er. Mitgliedsunternehmen seines Verbandes suchten gezielt nach dieser Zielgruppe.

Beim Softwareanbieter Nuclos aus Sauerlach bei München blickt man auf den Einzelfall. Ein fehlender Studienabschluss ist kein K.-o.-Kriterium. „Wir suchen Leute, die programmieren können. Mit Quereinsteigern, etwa ehemaligen Physik-Studenten, haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagt Geschäftsführer Ramin Göttlich, selbst studierter Informatiker.

Fünf der 20 Programmierer bei Nuclos haben ihr Studium nicht beendet. „Der persönliche Eindruck und die tatsächliche Qualifikation entscheiden bei uns“, sagt Göttlich. „Natürlich kann ein nicht beendetes Studium auch hinweisen auf mangelnde Zielorientierung oder fehlende Selbstdisziplin. Daher hinterfragen wir schon immer die Gründe.“

Rund um Studienabbrecher entwickelt sich inzwischen ein Markt auch für Vermittler. So betreibt ein hessischer Personalberater die Webseite studienabbrecher.com, um Angebot und Nachfrage zusammenzubringen.

Auch der Versicherungskonzern Arag inseriert dort seit 2016. „Unsere Erfahrungen sind durchweg positiv“, sagt Ausbildungsleiterin Luisa Jansen. Ex-Studenten können bei der Arag eine verkürzte Ausbildung zum Vertriebsreferenten absolvieren. Viele BWL-Abbrecher nutzen die Option, dabei sei das Studienfach der Bewerber zweitrangig, sagt Jansen. Vielmehr gehe es um den Charakter. „Wir suchen nach kommunikativen und aufgeschlossenen Menschen. Außerdem müssen sie eigenständig arbeiten und komplex denken können, was Studienabbrecher gewohnt sind“, sagt Jansen.


Abschluss im Schnelldurchlauf

Als erste Stadt in Deutschland hat Aachen im Jahr 2011 ein entsprechendes Pilotprojekt gestartet. Wer am Programm Switch teilnimmt, kann die Ausbildung im Schnelldurchlauf absolvieren – in 18 statt den üblichen 36 Monaten.

Rund 100 Unternehmen beteiligen sich, bisher hat Switch 270 Auszubildende vermittelt. Eine ausbaufähige Größe, findet Peter Gronostaj, bei Switch zuständig für die Betreuung der Unternehmen. „Der Bedarf der Unternehmen in Aachen ist weit größer. Nur die Hälfte der angemeldeten Betriebe hat bis jetzt jemanden vermittelt bekommen“, sagt er. Der Rest ging leer aus, da die begehrten Kandidaten zwischen Lehrstellen aussuchen durften.

Voraussetzung für den Turbo-Abschluss sind mindestens zwei Semester an der Uni und 20 Credit Points. Keine allzu große Hürde: Die Regelstudienzeit sieht 30 Credit Points pro Semester vor. Ein schriftlicher Eignungstest der IHK Aachen ist vorgeschaltet. Darin testet die Kammer unter anderem logisches Denken, Lesegenauigkeit und praktisch-technisches Verständnis.

Das Aachener Modell hat Schule gemacht: 18 solcher Projekte unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung heute mit 7,2 Millionen Euro. „Damit bieten wir Studienabbrechern neue Karrierechancen durch eine berufliche Ausbildung. Außerdem bekommen kleine und mittlere Unternehmen weitere Möglichkeiten, ihren Fachkräftebedarf zu decken“, sagte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka bei der Vorstellung ihrer Kampagne „Jobstarter plus“.

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