Schimmel-Insolvenz Piano Morte - Tod eines Klavierbauers

Der Braunschweiger Klavierbauer Schimmel ist zahlungsunfähig, der vorläufig letzte Firmentod in einer traditionsreichen Branche. Nur wenige Hersteller bleiben noch übrig. Viele dieser Unternehmen begehen das, was Fachleute den "deutschen Fehler" nennen: Ihre Kunst erweist sich nun als Fluch.

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Konkurrent Steinway: Konzentration auf das Luxussegment. Quelle: dpa Quelle: handelsblatt.com

BRAUNSCHWEIG. Hannes Schimmel-Vogel träumt im Imperfekt. Von Udo-Jürgens, wie er auf einer Gipfelspitze hockte und klimperte. Im schneeweißen Anzug am Plexiglasflügel, umgeben vom Winterwunderland der Schweizer Alpen. Ein Hubschrauber hatte den Flügel aus dem Hause Schimmel auf den Gletscher gehievt. Jungfraujoch, 3454 Meter. Das Video vom kristallenen Klangwunder ging um die Welt. Seitdem, seit den 80er-Jahren, war der Schlagerstar Schimmel-Fan, die Familie Schimmel Udo-Jürgens-Fan und das Plexiglas-Piano Pegasus ein Weltstar.

"Udo liebt unsere Flügel", sagt Hannes Schimmel-Vogel und fährt sich durch seinen Schopf, der ein wenig an die Haartracht seines Musterkunden von einst erinnert. Genützt hat es seiner Pianomanufaktur Schimmel aus dem Niedersächsischen nicht. Schimmel-Vogel und sein Unternehmen sind pleite. Die Tradition, die Perfektion, der Ton - das alles hat sie nicht gerettet.

Die deutsche Klavierindustrie röchelt ihre letzten Töne. Schimmel, der Klavierbauer aus Braunschweig, Tradition seit 124 Jahren, ist einer der letzten, die nun zahlungsunfähig sind. Ihm ist passiert, was zuletzt vielen deutschen Traditionshäusern widerfahren ist: Tod durch zu viel Geschichte und zu wenig Zukunft. Zu lange haben sie sich an dem Glauben berauscht, ein über Dekaden erfolgreiches Produkt und ein guter Name garantierten Erfolg bis in alle Ewigkeit.

Der nächste Tod eines Klavierbauers, der nächste Exitus einer deutschen Traditionsmarke. Denn die Klavierbranche ist nur ein Satz eines Requiems, das durch den Konzertsaal der Deutschland AG donnert. Märklin, Rosenthal, Schiesser, Quelle, Escada beispielsweise sind gestorben. Viele von ihnen aus dem gleichen Grund.

Verdrängung statt Realitätssinn

"Schimmel hätte schon vor langer Zeit prüfen müssen, wie sie mit dieser Kernkompetenz von gutem Klang auch in andere Bereiche gehen können", sagt Matthias Simon, Gründer des Instituts für Markenwert. Schimmels Fehler, sagt Simon, sei ein "typisch deutscher".

Statt Geschäftsstrategien zu ersinnen, hätten sich Unternehmen wie Quelle und Rosenthal im Glanze der Vergangenheit gesonnt und darüber den Kunden vergessen. Die deutschen Klavierbauer sind ein besonderer Fall. Von den mehreren Hundert Pianofabriken, die im 19. Jahrhundert das Bildungsbürgertum versorgten, ist nur ein Dutzend übrig geblieben, Firmen wie Steinway, Blüthner oder Grotrian-Steinweg. Sie halten sich nur noch mit Mühe am Markt. Im vergangenen Jahr taumelten Seiler aus Franken und die Leipziger Pianoforte in die Insolvenz, im Jahr davor war es Ibach, die älteste Klavierfabrik der Welt. Nun also Schimmel.

Die Klavierhersteller arbeiten an einem Produkt, das ohne Innovation ausgekommen ist. Lange ging das gut. Inzwischen aber ist die Billigkonkurrenz aus Asien, die sie lange müde belächelt haben, schier übermächtig. Und die Deutschen sind die Hoflieferanten eines Bürgertums, das in der westlichen Welt immer kleiner wird. Jeder Gründer, der seinen Businessplan auf eine solche Grundlage stellte, würde ausgelacht.

Das Braunschweiger Schimmel-Werk ist mit Patina überzogen, Gespensterruhe in den Zweckbau am Stadtrand gekrochen. In der Produktionshalle steht mindestens ein Dutzend fertiger Instrumente ohne Käufer, dazwischen Hannes Schimmel-Vogel, aufrecht, zwischen Hammerfilzen und Flügel-Rahmen, die wie Sarkophage für Dickbäuchige wirken. Schimmel-Vogel selbst spielt nicht Klavier, doch er ringt noch: um das Lebenswerk seiner angeheirateten Familie, um das Klavier, um die vielen Jahre Tradition.

Finanzinvestoren als Rettung?

Braunschweig, Anfang Dezember. Der letzte, zähe Akt im Überlebenskampf des Geschäftsführers Schimmel-Vogel. Die Gläubigerversammlung tagt, sie bestätigt Insolvenzverwalter Joachim Schmitz im Amt. Es gibt ein paar Finanzinvestoren, die Interesse an Schimmel angedeutet haben. Auch die alten Schimmel-Gesellschafter sind dabei, mehr will Geschäftsführer Schimmel-Vogel nicht sagen. Bis Ende Januar kann geboten werden. Bis Ende Januar darf auch er als Geschäftsführer weitermachen, der Chef aber ist jetzt Schmitz.

Der peilt ein Planverfahren an: einen Vergleich mit den Gläubigern, das Unternehmen soll erhalten bleiben. 18 Stellen von 144 hat der Insolvenzverwalter schon gestrichen und für die übrigen Mitarbeiter mit der Gewerkschaft einen Sondertarifvertrag ausgehandelt. Er glaubt trotzdem, dass Schimmel überlebt.

"Der Name hat ja eine gewisse Bedeutung", sagt Schmitz. Nur hat das zuletzt auch nicht geholfen. Künftig soll Schimmel eben mehr Premium bauen. So wie der Konkurrent Steinway, ein amerikanisches Unternehmen mit deutschen Wurzeln. Hamburg ist die Niederlassung vor allem für den europäischen Markt.

Thomas Kurrer hat einen Kummerbund um die Hüften geschnürt, er trägt einen Schnäuzer, der wippt wie eine Klaviertaste, wenn er spricht. "Die meisten deutschen Hersteller sind zerrieben worden", sagt Kurrer. Er ist der Steinway-Chef in Hamburg, er ist das alte Piano-Establishment, er kann es sich leisten. Seine Firma ist eine der wenigen Klaviermanufakturen, die eine konsequente Geschäftsstrategie haben.

Steinway verheißt Flügel der Spitzenklasse - und sonst nichts. Modelle um die 100 000 Euro, allerbeste Qualität, ein Muss für jeden Konzertpianisten, über 90 Prozent spielen einen.

"Eine glasklare, kompromisslose Nischenpositionierung", nennt Markenexperte Simon das. "Gegen die Positionierung von Steinway kommt Schimmel nicht an." Schimmel hat schon immer Familienklaviere für die Mittelschicht gebaut. Meistgespielt in Deutschland. Solide, erschwinglich, bürgerlich. Diese Schicht aber kauft heute, wenn sie Geld übrig hat, eher ein Flugticket auf die Malediven, ein Auto, eine Sofagarnitur. Kein Pianoforte. In China gedeiht zwar eine Schicht, die Wert legt auf musikalische Erziehung und Qualitätsklaviere. Doch auf diesem wachsenden Markt haben es die deutschen Hersteller bisher nur zögerlich versucht. Und nun ist es wohl zu spät.

Steinway hat einen anderen Weg gefunden.

Zum einen konzentrierte sich das Unternehmen mit Standorten in Hamburg und New York schon immer auf teure Klavierbaukunst. Die übrigen deutschen Hersteller bedienten die Mitte, die asiatischen Klavierfabrikanten fertigten Billiginstrumente. So war es.

Der Konkurrent ist stolz. Über seine Probleme spricht er nicht gern

Die Asiaten haben den Markt aufgemischt. Erst drängelten die Japaner, Yamaha und Kawai, später die Koreaner und Chinesen. Von den gut 500 000 Klavieren, die zuletzt jedes Jahr weltweit verkauft wurden, stammten 300 000 aus China.

Zum anderen verkauft Steinway anders als andere Klavierhersteller längst nicht mehr nur Klaviere. Das Unternehmen ist neben Yamaha der größte Hersteller von akustischen Musikinstrumenten. Umsatz: insgesamt 380 Millionen Dollar.

"Die anderen", sagt Kurrer, "haben Fehler gemacht."

Es klingt, als habe er keine Probleme. Allerdings musste auch er 49 Tage in diesem Jahr kurzarbeiten und befristete Verträge auslaufen lassen sowie 20 Mitarbeitern betriebsbedingt kündigen. Im nächsten Jahr könnte es sogar noch dicker kommen. Anfang November hat Steinway dem koreanischen Klavierbauer Samick Musical Instruments einen Minderheitenanteil vom Aktienpaket überlassen, ein Fünftel des Unternehmens für 27 Millionen Dollar. Mit dem Geld will Steinway Schulden abbauen und laufende Kosten decken. Für Ende März 2010 haben sich die Koreaner bereits eine weitere Aktienoption gesichert, noch einmal 20 Prozent, heißt es in Branchenkreisen.

"Niemand kauft für so viel Geld das Recht, nur zuschauen zu dürfen", sagt ein Unternehmenskenner. Steinway droht nicht gleich die Insolvenz, aber eine Übernahme. Und das, obwohl Kurrer für sich in Anspruch nehmen kann, ein paar Fehler nicht gemacht zu haben.

50 Prozent weniger Absatz und Hersteller am Rand des Ruins

Der Absatz auf dem Gesamtmarkt für Klaviere ist in diesem Jahr um bis zu 50 Prozent zurückgegangen, der Einbruch hat die Hersteller an den Rand des Ruins gedrängt.

Schimmel-Chef Schimmel-Vogel, vierte Generation Klavierkunst, hat all seine Energie auf den US-Markt konzentriert. Der brach seit der Lehman-Pleite im Spätsommer 2008 um fast 60 Prozent ein. Außerdem hat er teure, noch durch seinen Schwiegervater aufgenommene Kredite zu tilgen. Er muss Löhne zahlen, die an die Zeit erinnern, als das Geschäft noch lief.

Die alte Zeit. 1885 gründet Wilhelm Schimmel in Leipzig eine Klavierwerkstatt, wenig später wird er zum Hoflieferanten für den Großherzog von Sachsen-Weimar ernannt. Für die nächsten 100 Jahre gehört ein Schimmel-Flügel zum festen Inventar bürgerlicher Salons.

Heute hält Yamaha 25 Prozent an der Braunschweiger Manufaktur. Es sei eine finanzielle Beteiligung, mehr nicht, sagt Schimmel-Vogel. Man habe keine Kooperationen. Soll heißen: Wo Schimmel draufsteht, ist immer noch Schimmel drin, Qualität made in Germany.

An einem Junimorgen trifft er die schwere Entscheidung

Seit 2003 führt er die Geschäfte, seine Frau, geborene Schimmel, und ihre beiden Schwestern wollten nicht. Die Probleme konnte er nicht lösen. Die Geschäfte liefen zunehmend schlechter.

Schimmel-Vogel hat getan, was er sich nie vorstellen konnte. Er hat es mit günstigen Einsteigermodellen versucht, "May Berlin", ab 4 000 Euro. Das Problem ist, dass einerseits die Chinesen schon Klaviere ab 600 Euro anbieten und dass andererseits einem Schimmel-Kunden schwer zu erklären ist, warum er 10 000 Euro für einen echten Schimmel ausgeben soll.

Wenn man Schimmel-Vogel danach fragt, weiß er selbst keine rechte Antwort. Nur die, dass es schwer ist, wenn es im Billiggeschäft nicht läuft, dann wieder mit teurer Qualität zu werben.

Im Sommer hat er jene Entscheidung getroffen, die ihn schon lange schlecht schlafen ließ. Über Wochen hat er mit sich gerungen, sie immer wieder aufgeschoben. Am Ende blieb ihm keine andere Wahl.

31. Juli. Frühmorgens trottet Schimmel-Vogel zum Braunschweiger Amtsgericht. Es geht nicht nur um Tradition, sondern auch um Arbeitsplätze. "Es hängt der eigene Name dran", sagt Schimmel-Vogel. Ein Familienleben hat er seither nicht mehr. Er kämpft, buhlt, verhandelt an allen Fronten.

"Hätten wir den Einbruch in Amerika nicht gehabt, wäre das alles nicht passiert", sagt der Schimmel-Chef. Er sieht sein Unternehmen als Opfer der Finanzkrise. Ganz so, als hätte die fehlende Strategie nichts mit seinem Dilemma zu tun.

Der Weltmarkt hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch gewandelt, nicht nur für Klavierhersteller. Die Menschen wollen entweder billige oder hochwertige Ware, immer weniger den Kompromiss zwischen beidem. In der Konsumgüterindustrie ist das zu beobachten, in der Autoindustrie. Auf den Höfen der Händler bleiben die Mittelklassewagen stehen. Billige Autos wie der Tata Nano gehen gut, auch Hersteller wie Ferrari oder Porsche können trotz Krise nur bedingt klagen.

Das Piano allerdings hat als Statussymbol ausgedient, in der westlichen Welt zumindest.

"Das Klavier", sagt Schimmel-Vogel, "ist das Gegenteil von einer Rolex." Es lässt sich draußen nicht vorzeigen, sondern steht im Wohnzimmer, wo es bis auf die Familie und gute Freunde niemand sieht. Deswegen muss es auch längst kein neues mehr sein.

Klavierspieler entscheiden sich lieber für ein hochwertiges gebrauchtes Klavier zum mittleren Preis als für ein mittelwertiges zum Neupreis. Bis zu 22 000 neue Klaviere und Flügel verkauft der deutsche Klaviereinzelhandel im Jahr. Noch einmal so viele gebraucht. Und an denen verdienen die Hersteller, enthusiastische aber stark in den Traditionen verhaftete Mittelständler, nichts. "Eine Familie, die heute einen neuen Steinway-Flügel kauft, kann man nach unseren Erfahrungen für einen weiteren Neukauf für drei Generationen vergessen", sagt Steinway-Chef Kurrer.

In Braunschweig pocht Hannes Schimmel-Vogel auf den Lackkorpus eines rabenschwarzen Flügels, 16 Schichten Politur für den Glanz, 80 Prozent Handarbeit. Die Saiten werden mit Hämmern angeschlagen, ein Stegsystem überträgt die Schwingung auf einen bauchigen Klangkörper im Inneren. Bis ein Schimmel-Flügel fertig ist, dauert es neun Monate. Das Holz muss reifen, wird gepresst, dann geleimt, getrocknet, lackiert, auf Stelzen montiert, die Saiten werden gespannt und justiert, nachjustiert, final justiert, zum Schluss kommt die Klangprobe. Anbieter wie Steinway nehmen sich sogar mehr als ein Jahr Zeit. Das kostet sehr viel Geld. Geld, das Steinway noch für seine Flügel verlangen kann. Schimmel nicht.

Schimmel-Vogel erzählt von einem ehemaligen russischen Präsidenten, der kürzlich einen "Pegasus" bei ihm gekauft hat, das teure Plexiglas-Modell, allerdings aus Holz. Plötzlich hatte Schimmel Zutritt zu einem exklusiven Kreis russischer Oligarchen, die Dutzende "Pegasusse" bestellten.

Nur gibt es nicht so viele reiche musizierende Russen, dass sie alleine Schimmel retten könnten.

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