Private Krankenversicherungen Kunden bezahlen für Systemfehler bei Krankenversicherungen

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Boris Augurzky, Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit beim Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung, hält von solchen Argumenten allerdings nichts: „Das sind trotzdem nur rund zehn Prozent der insgesamt rund 82 Millionen Versicherten in Deutschland. Manche große AOK erreicht in ihrem Bundesland die dreifache Größe.“

Bei den Pharmaherstellern springt die Politik den Privaten bei. Auch an dieser Kostenstelle zahlen Privatpatienten häufig weit höhere Preise als GKV-Versicherte. Die gesetzlichen Krankenkassen mit ihren rund 51 Millionen zahlenden Versicherten und deren rund 19 Millionen Familienangehörigen sollen mit den Pharmaherstellern künftig Preisnachlässe für teure, patentgeschützte Arznei aushandeln können. Diese Rabatte gelten dann automatisch für die Privaten.

Seit Jahrzehnten hat die Branche ihren Willen politisch durchgesetzt, den Wechsel von einem zum anderen Anbieter faktisch unmöglich zu machen, indem der Kunde seine jahrelang angesparten Alterungsrückstellungen gar nicht oder nur zu einem kleinen Teil mitnehmen kann. Unabhängige Versicherungsmathematiker konnten gegenrechnen, was sie wollen.

„Diese Entscheidung verhindert echten Wettbewerb um Bestandskunden“, sagt Wissenschaftler Augurzky, „die Mehrheit der Unternehmen ist damit zufrieden, aber progressive bedauern das.“ Doch gerade Wettbewerb würde zu mehr Transparenz bei der Tarif- und Preisgestaltung führen und die PKV damit auch in dieser Hinsicht für neue Kunden wieder interessanter machen.

Die Fehler der Anbieter

Die Mischkalkulation eines nachhaltigen Versicherungstarifs ist einfach: Von unten müssen junge, gesunde Kunden in das Versichertenkollektiv einsteigen, weil sie weniger Kosten verursachen, als sie Beiträge zahlen. So subventionieren sie die Älteren, die oft mehr kosten, als sie zahlen.

Mit Schaufenstertarifen wie Top-Versorgung für einen 30-Jährigen für 59 Euro im Monat ködern deshalb vor allem im Internet wenig seriöse Anbieter Ahnungslose. Es geht um mehr als um unsolide Billigheimer: Immer öfter schließen einzelne Unternehmen ganze Tarife für neue Kunden. Das kann ein Desaster für die Älteren werden, weil durch die fehlenden Jungen die Mischkalkulation zusammenbricht und die Beiträge explodieren.

Klaus Heiermann, Marketingchef der Arag Versicherung, die noch nie einen Tarif geschlossen hat, kann Lockvogelangebote von 59 Euro pro Monat für einen 35-Jährigen nicht nachvollziehen. Seine Rechnung: „Ein 35-jähriger, gesunder Mann, der einen Selbstbehalt von 1500 Euro im Jahr akzeptiert und zuvor eine sehr genaue Risikoprüfung durchlaufen hat, zahlt bei der Arag derzeit 147 Euro im Monat, 261 Euro wären es ohne Selbstbehalt.“

Das Prinzip der Lockvogelangebote schadet dem Ruf der gesamten Branche. Denn die Enttäuschung der neu gewonnen Kunden ist programmiert. Werden die ersten Versicherten krank und schließt der Anbieter ihren Tarif, altern die verbliebenen gemeinsam und zahlen von Jahr zu Jahr höhere Beiträge. „Günstige Einsteigertarife gießen zusätzlich Öl ins Feuer“, beklagt Klaus Henkel, Chef der Süddeutschen Krankenversicherung.

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