RWE-Chef Atomsaurier Jürgen Großmann kämpft um sein Erbe

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Brennender Reaktorblock in Quelle: dpa

Am Abend ist Großmann mit japanischen Freunden in einem Restaurant verabredet, das für seine erstklassigen Rindersteaks bekannt ist. Manager aus der Stahlindustrie haben sich um einen Tisch versammelt, Nippon Steel, JFE Steel Corporation, alle sind erschienen, einer von ihnen ist inzwischen Aufsichtsrat des staatlichen Fernsehsenders NHK. Vor vielen Jahren, erzählt einer der Manager, stieg der Jürgen auf einen Fabrikschlot in Japan, 120, nein, 160 Meter hoch. "Höher", sagt Großmann, "200 Meter." Der Jürgen, erzählt der japanische Manager, habe einen Film über die Fabrik drehen wollen, aber Jürgens Firma habe damals nicht genügend Geld gehabt, um sich einen Helikopter zu leihen. Also habe der Jürgen den Kameramann die unzähligen Stufen des Fabrikschlots hochgetrieben, bis ganz nach oben. Eine herrliche Anekdote, Jürgen Großmann sitzt da und lacht. Man hört die Geräusche des Restaurants erst wieder, als sein Lachen abgeklungen ist.

Großmann verlangt nach weiteren Geschichten, nach Pointen, die wie Funken stieben, nach einem Tagesausklang wie ein Feuerwerk, und er fragt nebenher nach dem Einfluss des Tsunamis auf das japanische Nationaleinkommen. Großmann erzählt von seiner Geburt am 4. März 1952 zwischen acht und neun Uhr in Mülheim an der Ruhr. Er berichtet so detailgenau, als könne er sich an alles erinnern, und die Runde johlt vor Entzücken.

Was er einmal gelernt hatte, vergaß er nicht

Man fragt sich in solchen Momenten: Was kann diesen Mann bloß davon abhalten, sich in der Nähe des Unglücksortes Fukushima umzusehen? Fürchtet er die nukleare Strahlung? "Angst ist nie mein Thema gewesen", sagt Großmann, das wird er noch öfter in Japan sagen. Der Jürgen würde mit einem Fallschirm über dem Kühlbecken von Fukushima abspringen, wenn es eine gute Show wäre. So reden seine Bewunderer über ihn.

Der Jürgen hat seine Vorstandskollegen bei RWE zu einer Sitzung in seine Jagdhütte bei Kevelaer eingeladen, ist dort plötzlich verschwunden und Stunden später mit einem frisch geschossenen Rehbock zurückgekehrt. Der Jürgen hat für ein Fest auf Sardinien ein ganzes Hotel gemietet. Als der Jürgen in der Schweiz seine Silberhochzeit feierte, kam auch sein Freund Gerhard Schröder, der ehemalige Bundeskanzler, es kamen der frühere Innenminister Otto Schily, Daimler-Chef Dieter Zetsche, der Künstler Markus Lüpertz. Und an einem Bergsee wurde Champagner serviert. Der Jürgen hat sich am Morgen eines Konzerntreffens im holländischen Noordwijk nackt ins Meer gestürzt, zusammen mit leitenden Angestellten, die ihm am Strand hinterherliefen wie einem Sektenführer.

Er war der Beste in seiner Klasse auf dem Gymnasium, der Beste in seiner Jahrgangsstufe, und er strengte sich dafür nicht an. Was er einmal gelernt hatte, vergaß er nicht. Nur im Sportunterricht tat er sich schwer, beim Handstand mussten ihn zwei, manchmal drei Jungen stabilisieren. Großmann studierte Eisenhüttenkunde in Clausthal-Zellerfeld, später Betriebswirtschaft in Indiana, USA, schrieb seine Diplomarbeit in Rio de Janeiro. Er fing im Stahlkonzern Klöckner an, wurde der Jüngste im Vorstand. Er war 39, als er 750.000 Mark im Jahr verdiente und einen Mercedes fuhr. Er strahlte die Zuversicht aus, dass das Leben auf seiner Seite sei. Plötzlich kündigte Großmann im Vorstand, weil er sein Glück in einer dreckigen Hütte finden wollte, der Georgsmarienhütte, die lauter fauchen konnte als er selbst.

11. März: Der Tag, der das Leben verändert

Wollte seine Mutter die Anziehungskraft ihres Sohnes Jürgen erklären, dann sagte sie: "Wenn mein Sohn Arnd in ein Flugzeug nach Australien steigt, dann lernt er bis zur Landung nicht einmal seinen Sitznachbarn kennen. Wenn Jürgen sich in eine Straßenbahn setzt, hat er bis zum Hauptbahnhof 50 neue Freunde."

Jürgen Großmann saß in einem Sessellift im Skigebiet von Arosa, als ihn am 11. März die Nachricht aus Fukushima erreichte. Es war halb zwölf, vielleicht auch zwölf, so genau kann sich Großmann an den Anruf nicht erinnern. Gerd Jäger war in der Leitung, der Chef der Sparte Kraftwerke im Konzern. Großmann hörte sich den Bericht an, er war besorgt. Er fragte den Anrufer: Was genau ist in Japan geschehen? Und was heißt das für die deutsche Diskussion? Später fuhr er zurück in das Arosa Kulm Hotel, das ihm gehört. Seine Frau Dagmar versorgte ihn mit Nachrichten aus dem iPad.

Jürgen Großmann selbst nahm sein altes, abgegriffenes Nokia-Handy, schwer wie ein Stein, und telefonierte sechs Stunden lang. Ein Bekannter riet ihm, den Urlaub abzubrechen, aber Großmann sah das nicht ein. Es blieben ohnehin nur noch wenige Tage. Später würde er einmal sagen, dass kein Tag sein Leben so sehr verändert habe wie dieser 11. März, aber davon spürte er zunächst nichts. Er hatte schon Schlimmeres überstanden, zum Beispiel den November 2010.

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