RWE-Chef Atomsaurier Jürgen Großmann kämpft um sein Erbe

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Angela Merkel, Jürgen Quelle: dpa

Damals musste er ins Krankenhaus. Sogar sein Handy musste er abgeben. Der Kampf um die Verlängerung der Laufzeiten für Deutschlands Atomkraftwerke hatte ihm so zugesetzt, dass eine seiner beiden Herzkammern nicht mehr mitmachte. Das ist jedenfalls Großmanns Version der Dinge. Seine Frau Dagmar erlebte, wie er in den Sommerferien des vergangenen Jahres täglich zwölf Stunden lang telefonierte, um gegenüber Politikern seine Interessen durchzusetzen. Es ging um viel Geld. Ein abgeschriebenes Atomkraftwerk wirft jeden Tag rund eine Million Euro ab, das ist die Faustformel der Branche. Großmann dachte sich einen energiepolitischen Appell aus, eine Solidaritätsadresse für die Kernenergie. Er rief seinen Freund, den CDU-Abgeordneten Michael Fuchs, an, der in der Bundestagsfraktion Stimmung gegen den atomkritischen Umweltminister Röttgen machte. Fuchs sprach auch mit der Kanzlerin. Großmann telefonierte mit seinen Freunden aus Politik und Wirtschaft. Am Ende unterzeichneten viele seiner treuen Weggefährten das Papier, Otto Schily, Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Industriebosse wie Jürgen Hambrecht von BASF und Gerhard Cromme von ThyssenKrupp, auch der Fußballmanager Oliver Bierhoff, dessen Vater im RWE-Vorstand war.

Bevor der Appell als ganzseitige Zeitungsanzeige veröffentlicht wurde, erfuhr die Kanzlerin auf Umwegen davon. Gegen eins in einer Nacht Ende Juli vergangenen Jahres, so erinnert sich Großmann daran, habe ihn ein Redakteur der Bild- Zeitung angerufen und ihm berichtet: "Ich habe es Merkel gesagt. Morgen ruft sie dich an."

Großmann hat sein Herz vergeblich riskiert

Großmann ließ sich mit Merkel auf einer sogenannten Energiereise der Kanzlerin im Kernkraftwerk Emsland in Lingen fotografieren. Auf einem der Bilder stand die Kanzlerin klein und zerbrechlich vor dem gewaltigen Großmann. Das Foto wurde zum Symbol für die Übermacht der Wirtschaft.

Jürgen Großmann umgarnte Merkel und kämpfte gegen Röttgen. Er rieb sich auf. Es schien, als wolle er seine eigene Laufzeit verlängern. Am 28. Oktober 2010 sah es so aus, als habe Großmann gewonnen. Der Bundestag beschloss, die Laufzeiten für die 17 deutschen Kernkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre zu verlängern, der letzte Meiler sollte erst im Jahr 2040 vom Netz gehen. Aber dann, viereinhalb Monate später, trafen die Fernsehbilder aus Fukushima ein. Großmann hatte sein Herz vergeblich riskiert.

Er verstand die Welt nicht mehr, weil sie nicht mehr mit seinem Leben verschmolz. Erfolgreiche Politik, das waren für ihn die Deals, die er mit dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder in Niedersachsen verhandelte, zum Beispiel um ein Stahlwerk zu retten. Politik war eine Verabredung zwischen mächtigen Männern, die einander Rotwein nachgossen. Die Politik der Energiewende ist davon weit entfernt. Ein ganzes Land ringt um kleinliche Kompromisse, Politiker aller Parteien reden mit. Ein Stimmenwirrwarr, ein unabsehbarer Prozess, ganz anders als in einer Kraftwerkszentrale.

Bei Großmann ging es schon immer um Energie

Schon als Kind bewunderte Jürgen Großmann die Macht einer Turbine. Bei ihm ging es immer um Energie. Großmanns Vater, der als Soldat aus dem Krieg heimkehrte, wollte die Mutter dadurch erobern, dass er ihr ein Stück Butter vor die Tür legte, 62,5 Gramm, Energiewert: 463 Kilokalorien. Den Tag der Butter feierte die Familie später jedes Jahr mit einem Essen in einem Restaurant. Fuhr der kleine Jürgen mit seiner Mama zum Bahnhof in Mülheim, um den Vater abzuholen, der in einer Bochumer Fabrik als Wirtschaftsprüfer arbeitete, blickte er fasziniert in den glutroten Horizont, erleuchtet von den Öfen der Stahlindustrie. Großmann hat die Gießerei in Mülheim, die über den Himmel herrschte, später übernommen, auch den früheren Betrieb des Vaters. Er hat seine Kindheit konserviert, indem er sie gekauft hat.

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