Schon gelesen? Rafik Schami über seine Liebe zur deutschen Sprache

Der Schriftsteller Rafik Schami über seine Liebe zur deutschen Sprache und seine Sehnsucht nach Damaskus.

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Der Schriftsteller Rafik Quelle: dpa

Als ich vor 37 Jahren nach Deutschland kam, kannte ich nur vier deutsche Wörter: „Jawohl“ und „Ich liebe dich“. Inzwischen gebrauche ich die deutsche Sprache, als wäre ich in ihr geboren. Sie ist mir, seit ich in meine erste Heimat Syrien nicht mehr zurückkehren kann, zu einer Ersatzheimat geworden, zu einem neuen Zuhause. Ich beherrsche die deutsche Sprache nicht, ich liebe sie. Deshalb vergleiche ich sie auch gern mit einer Frau, um die man immer wieder werben muss, die immer wieder von Neuem verführt werden will, damit sie ihre Arme öffnet und sagt: Jetzt kannst du mich beschenken.

Kein Tag vergeht, ohne dass ich schreibend mich um die deutsche Sprache bemühe. Trotzdem schreibe ich keine deutsche, sondern deutschsprachige Literatur. Das ist ein wichtiger Unterschied. Meine Romane leben vor allem von der Erinnerung an meine Heimatstadt Damaskus, aus der ich vertrieben worden bin. Jean Paul nannte die Erinnerung das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. In dieses Paradies zieht es mich immer wieder. Mit den Mitteln der Literatur kehre ich zurück in die Gassen der Altstadt mit ihren Farben, Stimmen und Gerüchen.

Dazu gehört auch die orientalische Tradition des mündlichen Erzählens. Ich bin Geschichtenerzähler. Wenn ich Lesungen halte, erzähle ich frei und verwandele meine Romane in Ohr-Filme. Auch die Lust an Abschweifungen und Arabesken ist typisch arabisch. Der europäische Roman, von Stendhal bis zu Patrick Süskind, hat Porträts geschaffen, in denen die innere Welt der Figuren lebendig wird. Das Innenleben meiner Figuren sieht man nicht. Wir Araber weben lieber üppige Teppiche, anstatt zu psychologisieren. Wir schätzen die schillernden Oberflächen. Schon deshalb ist Scheherazade meine Meisterin. Sie verwandelt allein durch die Schönheit des Wortes einen gewalttätigen König in ein lauschendes Kind, das die Fortsetzung der Geschichten hören will. Erzählen gleicht Leben, Schweigen dem Tod.

Immer weiter zu erzählen, Roman um Roman, das hat mich auch an Honoré de Balzac fasziniert. Als ich mir meine ersten Sporen als Erzähler verdiente, versuchte ich ihn zu arabisieren und seine Geschichten nachzuerzählen. Ganze Romane von Thomas Mann wie „Die Buddenbrooks“, ganze Satiren von Heine und Tucholsky habe ich Zeile für Zeile abgeschrieben, damit sie durch die Hand hindurch in Herz und Hirn gingen.

Ich wollte das Handwerk lernen, wollte wissen, wie ein Dialog, eine Stimmung oder eine Naturszenerie aufgebaut wird. Auf diese Weise habe ich die deutsche Literatur schätzen gelernt: Arthur Schnitzler, Franz Kafka und Joseph Roth. Dann Bertolt Brecht und Franz Fühmann, ein genialer Erzähler, der mir sprachlich viel gegeben hat, etwa mit seinem Sprachspielbuch „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“.

Weil Autoren ihre Leser in eine Gegenwelt entführen

Warum wir diesen Autoren so gebannt zuhören? Weil sie den Leser in eine Gegenwelt, in ein Paralleluniversum entführen und mit Erfahrungen bereichern, die er anders nicht hätte machen können. Ich war nie außerhalb Europas, und trotzdem kenne ich Kolumbien und das Dorf Macondo durch die Romanschöpfungen von Gabriel García Márquez . Leider haben viele deutsche Schriftsteller in den Siebzigerjahren die ursprüngliche Aufgabe ihres Metiers verleugnet: die Leser zu unterhalten. Ohne Unterhaltung aber ist die Literatur gar nichts. Doch merkwürdigerweise ist gerade in Deutschland die Langeweile hoch angesehen. Jedenfalls leiden Langeweiler hierzulande nie darunter als unseriös zu gelten. Autoren, die ihre Leser zum Lachen bringen, müssen hingegen beteuern, dass sie seriös seien.

Ich habe es mir zur Regel gemacht, einem Autor nicht mehr als 50 Seiten zu geben. Entweder hat mich der Roman gepackt, oder ich lasse ihn fallen. Diesen Sommer hatte ich leider Pech. Die Hälfte der Bücher, die ich im Urlaubsgepäck hatte, war langweilig. Ich hatte also zu wenig Lesestoff, und die deutschen Bücher, die in den Buchläden des italienischen Ferienorts angeboten wurden, waren miserabel.

Doch plötzlich machte ich einen Fund: „Tiere“, Erzählungen des portugiesischen Schriftstellers Miguel Torga. So etwas Schönes, Gewaltiges, dabei ganz Sprödes habe ich selten gelesen. Vom Kater, der durch Sattheit verdorben ist, von Vincent, dem Raben auf Noahs Arche. Oder die Bekenntnisse eines Esels, dessen Besitzer ihn im Stich ließ. Mit fast angehaltenem Atem und klopfendem Herzen folgte ich dem Meister auf seinen Pfaden, und zu meiner Frau sagte ich danach, ich müsse meiner Langeweile eigentlich dankbar sein.

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