Steueraffäre "So machen’s alle"

Der Wirtschaftsethiker Nils Ole Oermann über Neid und Gier, Eigennutz und Gemeinsinn – und über den Unterschied zwischen Sündern und Straftätern.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Nils Ole Oermann Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Als vor zwei Wochen Post-Chef Klaus Zumwinkel vor den Augen der Öffentlichkeit abgeführt wurde, liefen die Empörungsmaschinen der Republik auf Hochtouren. Was war passiert?

Oermann: Auf den ersten Blick hatte es etwas von einem Naturereignis. Ich fühlte mich an den Film „The Perfect Storm“ von Wolfgang Petersen erinnert. Da wird gezeigt, wie sich drei Stürme zu einem gewaltigen Orkan vereinigen. Etwas Ähnliches ist hier passiert: Wie haben einen mutmaßlichen Straftäter, entrüstete Politiker und mediale Schockwellen, die einander aufschaukeln und wieder abebben. Vorerst herrscht Stille – bis der nächste Sturm losbricht.

Und auf den zweiten Blick...

...erleben wir den tiefen Fall eines Menschen: Herr Zumwinkel gehörte einer der führenden Kasten der Republik an – und sinkt nun gewissermaßen vom Brahmanen zum Paria herab. „Hier holt die Polizei den Post-Chef“, hieß es in „Bild“ – prägnanter lässt sich nicht ausdrücken, was es heute heißt, am Pranger zu stehen. Herr Zumwinkel eignet sich zum Sündenbock – mit dem Unterschied, dass er im Gegensatz zum Sündenbock im Alten Testament nicht unschuldig in diese Rolle geraten ist.

Wofür muss er büßen?

Für seine Verfehlungen – und für die Verfehlungen aller anderen Steuersünder. Wir erleben einen merkwürdigen Widerspruch: Während auf den Top-Manager moralische Idealvorstellungen projiziert werden, gilt für den Normalbürger der common sense, der sagt: „cosi fan tutte“, so machen’s alle – dann mach ich’s eben auch. Das heißt, man nimmt wie selbstverständlich eine Gleichheit im Unrecht in Anspruch. Das nenne ich Trittbrettfahrerei unter umgekehrten Vorzeichen.

Der Schriftsteller Burkhard Spinnen hat einen hübschen Vergleich gezogen: Der natürliche Feind für eine Schulklasse ist der Lehrer, der natürliche Feind für den Steuerzahler der Staat.

Dass der Staat als Feind gesehen wird, ist ein relativ junges Phänomen. Im späten 19. Jahrhundert gehörte es noch zur Staatsräson, Steuern zu zahlen. Auch in den Fünfzigerjahren wäre es kaum jemand eingefallen, im Staat einen Gegner zu erblicken, was auch damit zusammenhängt, dass die Nachkriegsgeneration ein gemeinsames Projekt hatte: den Wiederaufbau Deutschlands. Heute sind uns Gemeinschaftsaufgaben verdächtig geworden. Es heißt „Freitag um eins, da macht jeder Sein’s“. Man zieht sich ins Private zurück und lässt den Staat einen guten Mann sein.

Entspricht das nicht ganz der liberalen Verfassungstradition, die dem Individuum Vorrang einräumt gegenüber dem Staat?

Durchaus. Der Staat muss seine Ansprüche gegenüber dem Bürger heute gut begründen. Aber der von der Verfassung ausdrücklich gewollte Individualismus ist ambivalent. Einerseits hat er dem Einzelnen viele Freiräume geschaffen. Andererseits schwächt er tendenziell den Zusammenhalt. Eine Gesellschaft, in der jeder nur an sich denkt, muss irgendwann kaputtgehen. Eigentum verpflichtet, dieser zentrale Satz in unserer Verfassung scheint immer mehr in Vergessenheit zu geraten.

Die Emanzipation ist auf Abwege geraten?

Jedenfalls ist der emanzipierte vom enthemmten Menschen zuweilen schwer zu unterscheiden. Emanzipation, richtig verstanden, kann nicht heißen, sich von den Ansprüchen anderer zu verabschieden. Es ist ja schizophren: Einerseits sagen wir uns von den Sekundärtugenden los, andererseits erwarten wir, dass sie zum Beispiel für den Notarzt oder den Lokführer gelten. Die sollen ihre Arbeit ordentlich und pünktlich machen. Diese Art von Nischenmoral ist ein Verstoß gegen die im Matthäus-Evangelium formulierte „Goldene Regel“: Was du nicht willst, was man dir tue, das füg’ auch keinem andern zu.

Wie wollen Sie angesichts der Pluralisierung der Moral in unserer hoch individualisierten Gesellschaft gemeinsame Werte begründen?

Werte können nicht als „Grundwerte“ oder „Leitkultur“ staatlich verordnet werden, sondern, sie werden, Gott sei Dank, individuell gebildet – durch Eltern, Schule, Erziehung, Prägung, Lebenserfahrung...

Da beißt sich doch die Katze in den Schwanz: Selbstsucht und Habgier gehören inzwischen zu den Werten, auf die sich nicht wenige Deutschen ganz ohne Staat geeinigt haben...

Vorsicht! Das ist nur die eine Seite der Medaille – und im Übrigen kein neues Phänomen. Schon der niederländische Sozialtheoretiker Bernard de Mandeville spricht in seiner 1705 erschienenen „Bienenfabel“ davon, die Gesellschaft werde nicht von Tugenden, sondern von Lastern zusammengehalten. Entsprechend beschreibt er eine korrupte Raffgesellschaft, in der Luxus, Neid und Gier herrschen. Aber die Konsequenz seiner Fabel heißt nicht: Seid gierig, seid träge, zieht einander das Geld aus der Tasche. Mandeville sagt, dass der Erwerbstrieb auch anderen zugute kommen kann – in Abgrenzung etwa zum mönchischen Armutsideal.

Ihre Interpretation ist gewagt: „Stolz, Luxus und Betrügerei muss sein, damit der Staat gedeih“, heißt es in der „Bienenfabel“. Wenn das keine Aufforderung zum Laster ist...

Richtig, aber schauen Sie sich an, wie Mandevilles Gedanken aufgegriffen und bei Adam Smith schulbildend für die klassische Ökonomie wurden. Smith wird zwar immer wieder mit dem Satz zitiert, dass nicht das Wohlwollen, sondern der Eigennutz des Bäckers die Kunden satt mache. Aber das ist eben nur der eine Teil seiner Lehre. Der andere wird oft vergessen: Smith misstraute der unkontrollierten Gewinnsucht der Kaufleute und war keineswegs der Ansicht, „der Markt“ werde es schon richten. Der Eigennutz unterlag für ihn auch religiös-moralischen Bindungen.

Das heißt, die mittelalterlichen Todsünden, wie Gier, Neid und Hochmut, sind durchaus dann gut und nützlich, wenn sie zu religiös gebundenen Leidenschaften temperiert werden?

Nein, Eigennutz ist etwas anderes als Habgier. Entscheidend ist, dass wir uns zu uns selbst nicht allein ökonomisch verhalten können. Selbst wenn jemand um seines Rufes willen bestimmte Dinge nicht tut, ist das nicht einfach ein Nutzenkalkül. Letztlich handeln wir moralisch nicht deshalb, weil es uns nützt, sondern weil wir glauben, dass es richtig sei: vor Gott, vor den Menschen oder vor uns selbst. Anders gesagt: Wir wollen aufrecht vor den Spiegel treten, uns ohne schlechtes Gewissen in die Augen sehen können.

Trotzdem hat sich Herr Zumwinkel mutmaßlich über Gesetz und Moral hinweggesetzt.

Glauben Sie wirklich, dass er Steuern hinterzogen hätte, wenn er um die Folgen gewusst hätte? Bestimmt nicht. Wenn er gewusst hätte, dass seine Kinder oder seine Enkel in der Schule auf seine Vergehen angesprochen werden, hätte er sich gewiss gesetzeskonform verhalten.

Dann ist es nur ein Mangel an Vorstellungskraft, der uns nicht an Straftaten hindert?

Wenn Sie so wollen. Es ist jedenfalls nicht nur Aufgabe der Ethik, sondern vor allem des Rechtsstaates, unseren Sinn für diese Vorstellungskraft zu schärfen. Protestantische Ethik konstruiert keinen besseren Menschen, sondern nimmt ihn in seinen Stärken und Schwächen wahr, so wie er tatsächlich ist. Dabei rechnet sie auch mit einen Rechtsstaat, der, wenn er funktioniert, notfalls auch sanktioniert.

Warum muss es immer erst so weit kommen?

Nun, das Beste wäre natürlich, wenn ich appellieren könnte: Handle moralisch und bleibe anständig! Das funktioniert aber nicht. Deshalb versuche ich, ökonomisch gesprochen, Anreize zu schaffen – im konkreten Fall mit mehr Transparenz und einer einfacheren Steuergesetzgebung. Wenn auch das nicht fruchtet, muss ich als Rechtsstaat, um der Gemeinschaft willen, zu Sanktionen greifen.

Aber warum wird gleich eine Grundsatzfrage draus gemacht? Überschätzt man nicht ein paar gierige Manager, wenn man ihnen zutraut, die „soziale Marktwirtschaft“ zu gefährden?

Die Marktakteure waren im rheinischen Kapitalismus so gut oder schlecht wie die Marktakteure heute. Dass es neuerdings Umstände gibt, die Fehlverhalten fördern – nationale Steuersysteme, globale Kapitalmärkte – will ich nicht bestreiten. Nur will ich mich auf diese Diskussion nicht einlassen: Sie lädt dazu ein, Entschuldigungen für Fehlverhalten zu suchen. Ein „Steuersünder“ ist wie jeder Mensch „Sünder“, aber vor allem Straftäter.

Vielleicht liegt hier des Pudels Kern: Der Verstoß gegen das siebte Gebot – „Du sollst nicht stehlen“ – wird von Steuersündern gern mit dem Hinweis begründet, dass der Staat sie zuerst bestohlen habe.

Selbst wenn der Staat das Geld falsch verteilt oder in seinen Landesbanken versenkt, darf kein Bürger das Recht in die eigene Hand nehmen. Eben deshalb ist es wichtig, den Fall Zumwinkel zunächst juristisch zu betrachten: Hier liegt ein grundsätzliches Missverständnis darüber vor, wie Staat funktioniert. Glauben Sie wirklich, dass Leute, die ihr Geld nach Liechtenstein tragen, an ihrer Haltung etwas ändern, wenn der Steuersatz bei 25, 20, 15, 10 Prozent liegt? Ich glaube das nicht.

Modellhaft gesprochen: Ist ein den Aktionären verpflichteter Manager für Habgier anfälliger als ein Familienunternehmer?

Ein ehrbarer Kaufmann ist weit mehr als ein ehrlicher Kaufmann! Ehrlich zu sein, das darf man von jedem Kaufmann erwarten. Ehrbar aber ist nur, wer sein Handeln guten Gewissens vor sich selbst rechtfertigen kann. Familienunternehmern wird heute eher zugetraut, in diesem Sinne anständig Geld zu verdienen; deshalb schlägt ihnen weniger Neid entgegen als einem anonymisierten Großunternehmen. Warum? Weil derjenige, der dort arbeitet, mit dem, der ihn bezahlt, einen persönlicheren und langfristigeren Kontakt pflegt.

Handelt es sich bei diesem Idealbild nicht im Kern um die Sehnsucht nach dem Fortbestand einer göttlichen Ordnung: der sorgende Unternehmer, der seinen Angestellten ermöglicht, ihr Arbeitsleben als Teil des Ganzen zu begreifen?

Ich bin weit davon entfernt, Familienunternehmen zu idealisieren. Ein Problem aber trifft man dort tatsächlich nicht an: dass Manager öffentlich für Minderleistungen honoriert werden. Die Brauns und Trumpfs praktizieren anständiges Wirtschaften – und sie sind dabei nicht antiquiert , sondern höchst erfolgreich. Die Qualifikation dieser Unternehmen erschöpft sich eben nicht moralisch in puritanischer Weltanschauung, sie wird auch ökonomisch nachgewiesen: durch eigennütziges Handeln, das auch nach dem Nutzen für andere fragt.

Zurück zu Herrn Zumwinkel: Kann er außer auf einen gerechten Richter auch auf einen barmherzigen Gott hoffen?

Als Theologe bin ich mit dem Urteil über die Verfehlungen anderer zurückhaltend; das Element der Hysterie und der moralischen Abwendung wird dadurch nur unzulässig vergrößert. Es hilft nichts, auf Herrn Zumwinkel zu zeigen und zu sagen: Das ist der Sünder. Sünder sind wir alle. Eben deshalb sollte ich mir als Mensch kein Urteil über Herrn Zumwinkel anmaßen – und schon gar nicht darüber, wie Gott möglicherweise mit ihm umgeht.

Wie geht nun der Staat mit der Sache um? Wie lässt sich ein gutes Verhältnis zwischen Staat und Bürgern wieder herstellen?

Altkanzler Helmut Schmidt hat den mutigen Satz gesagt, er finde es unanständig, wenn ein CEO 100-mal so viel verdient wie die Bundeskanzlerin. Was folgt daraus? Meine Forderung wäre die Offenlegung aller Steuereinnahmen, wie sie in Schweden üblich ist. Auf diese Weise würde man einerseits erreichen, dass sich der Neid nicht mehr anonym entladen könnte – und andererseits, dass die Gier temperiert würde: Wer möchte schon derjenige sein, der von allen den größten Teil des Kuchens bekommt und sich fragen lassen muss: Warum isst du eigentlich das größte Stück?

Bill Gates und Warren Buffett scheint diese Frage nicht zu bekümmern…

Und warum nicht? Weil alle um deren Reichtum wissen – und weil die beiden es mit der Devise halten: „Erwirb, so viel du kannst – und gib so viel du kannst.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%