Tourismus Extremtourismus: Das makabre Geschäft mit dem Tod

Das Geschäft mit dem Abenteuer boomt. Die Serie an Unfällen im Gebirge, zu Wasser und in der Luft sind trauriger Teil des Trends zum Extremurlaub, der immer mehr Anhänger findet. Die Anatomie einer makaberen Branche.

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Wüste in Ägypten: In der Quelle: SAEDI PRESS

Knapp unter 8000 Metern ist es so weit. Nur noch 125 Höhenmeter sind es zum Gipfel. Werner Görings Blick klammert sich an einen Schneebuckel vor ihm, er hechelt, verlagert das Gewicht, hechelt, hebt seinen Fuß, hechelt, sieht sich dabei zu, wie er den Schuh auf die Schneekruste stellt, hechelt, neigt sich zur Seite, hechelt, stützt sich auf seinen Eispickel, hechelt, drückt mit den Armen auf sein angewinkeltes Knie, hechelt, bricht mit dem Bein eine Stufe in den Schnee. Wieder einen Schritt weiter, doch er rutscht zurück. So geht das seit Stunden. Dann geht nichts mehr.

Ein pochender Schmerz fährt in seinen Schädel. Göring ist Arzt. Er weiß, dass sein Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, dass er höhenkrank ist, dass er sofort absteigen muss, dass er hier am Nanga Parbat keine Chance hat. Aber das Wissen irrlichtert nur in seinem Kopf. „Ich bin einfach liegengeblieben“, sagt Göring. „Ich konnte nicht mehr aufstehen.“ Ohne die Kameraden, die ihm ins Lager halfen, wäre er in der Gipfelregion des neunthöchsten Berges der Welt gestorben.

War’s das? Nie wieder auf große Tour nach so einer „Grenzerfahrung“, wie Göring seine Leidenschaft für Berge nennt? Nein. Jedes Jahr bucht er Expeditionen bei einem deutschen Veranstalter. Sechs Touren auf 7000 oder 8000 Meter hohe Berge hat er schon unternommen. Der 53-Jährige ist Teilhaber einer Praxis für Allgemeinmedizin nahe Stuttgart. Er will sich „mit sich selber auseinandersetzen“, ohne Ablenkung, nur er und der Berg. Er möchte sehen, „wie weit ich mich belasten kann“.

Seine Art der Erholung ist für viele ein Mysterium. Doch die Lust am Limit wird zum Volkssport, das Abenteuer wird zum touristischen Produkt: hier die Himalaya-Expedition ohne Rückkehrgarantie, dort der Sahara-Trip inklusive Entführungsrisiko und all die neuen Formen des Erlebnissports von Canyoning bis Haitauchen, von  Höhlentrekking bis Bergmarathon. Immer neue Sportarten werden von der Industrie der Ausrüster und Veranstalter „zum urlaubstauglichen Erholungsprodukt gehyped“, wie der Wiener Freizeitforscher Peter Zellmann konstatiert. Das Bergsteigen ist nur die Spitze eines allgemeinen Trends. Und extrem ist dabei subjektiv: Auch eine Trekking- oder Wandertour kann den Einzelnen an seine Grenzen treiben.

Urlaub in Krisenregionen

„Die Leute suchen einen aktiven, sinnvollen und anderen Urlaub“, sagt Manfred Häupl, Chef des deutschen Trekkingmarktführers Hauser Exkursionen. Aber worin besteht der Sinn, wenn sich Menschen wochenlang einen Berg hinaufquälen oder Krisenregionen bereisen, in denen Touristen nichts verloren haben?

Menschen wollen im Urlaub „ihr Können unter Beweis stellen“, sagt Experte Zellmann. Ihre sicheren Jobs bieten zwar interessante Aufgaben, aber „immer weniger Herausforderungen“. Die suchen sie in ihrer Freizeit – und übertragen damit ungewollt den „Wettkampfgedanken“ aus dem beruflichen Alltag in die Freizeit.

Früher war Südfrankreich eine Fernreise. „Heute zeigt der Nachbar stolz Fotos aus Nepal oder Südafrika“, sagt Bernd Sprenger, Chefarzt der Oberbergklinik in Berlin-Brandenburg. „Da will man mithalten können – und reist in Länder, die zu anstrengend für einen normalen Urlaub sind.“ Sprenger behandelt inzwischen Leute, die in ihren Ferien einen Burn-out erleiden — meist leistungsbezogene 30- bis 50-Jährige.

Das Streben nach Individualität im Urlaub treibt die Deutschen sogar in Krisenregionen. Die Gefahr von Entführungen schieben Touristen arglos beiseite. Allein Gipfelbesteigungen auf die hohen Berge der Welt sind oft nur in Unruheregionen möglich — in Pakistan, Nepal oder der Türkei.

„Bei uns buchen meist Leute mit höherer Bildung wie Ärzte und Professoren“, sagt Ralf Dujmovits, Chef des deutschen Marktführers für Expeditionen Amical Alpin. Früher sei Bergsteigen ein „elitärer Sport gewesen“. Das Hauptproblem der meisten Teilnehmer heute sei weniger das Geld, sondern die Zeit. Vier bis sieben Wochen Auszeit müssen sie einplanen.

Für viele von ihnen sind die Risiken des Alltags abstrakt. Von Jobverlust oder materieller Existenznot fühlen sie sich kaum bedroht. Wenn doch, dann verschwimmt die Wahrnehmung der Risiken zu nebulösen Globalisierungsängsten – mal treiben Spekulanten den Ölpreis hoch, mal greifen amerikanische Finanzinvestoren zu, wird eine Produktion nach Fernost verlagert.

Ein Risiko bleibt immer

Bergsteiger am Montblanc Quelle: laif

Der Extremtourismus verspricht zum einen das konkrete Ziel, das der Urlauber in ein paar Wochen mit einiger körperlicher Strapaze erreichen kann. Und er verspricht ein authentisches und beherrschbares Risiko. Das Abenteuer lässt sich erst als touristisch vermarkten, wenn es domestiziert wird in Form eines All-inclusive-Pakets aus hochtechnischer Ausrüstung, Versicherungen und einem ganzen Stab an Helfern.

Für einen Aufstieg zum Nanga Parbat verlegen die Veranstalter drei Kilometer Seile, an denen sich die Kunden hochziehen, Hochträger begleiten sie bis zum Gipfel, im Basislager sorgen ein Koch und ein halbes Dutzend Gehilfen und Träger für Komfort, auf dem Weg dahin tragen 50 bis 80 lokale Helfer das Gepäck eines gesamten 12-köpfigen Teams, eine Tonne und mehr. Das Abenteuer wird zur Materialschlacht – und ist eigentlich keines mehr.

Besteht das Abenteuer für gestresste Manager auf der Suche nach neuen Herausforderungen also darin, drei Wochen lang im feuchten Schlafsack und mit nassen Socken der Kameraden im Gesicht zu verbringen? Nicht ganz, ein Risiko bleibt immer: An einem Nebengipfel des Montblanc starben vor wenigen Tagen acht Bergsteiger in einer Eislawine. Am K2, dem zweithöchsten Berg, traf es im August elf Bergsteiger; ein Berglauf auf die Zugspitze forderte aufgrund eines Kälteeinbruchs zwei Tote; eine Canyoningtour durch eine Schlucht in Frankreich endete wegen einer Flutwelle mit drei Toten.

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