Unterforderung Computer spielen aus Verzweiflung

Stress am Arbeitsplatz ist durchaus sozial erwünscht, die berufliche Unterforderung aber ist eines der letzten Tabus moderner Beschäftigungsverhältnisse. Dabei kann Unterforderung zur echten Belastung werden. Wie Unternehmen das "Boreout" verhindern können.

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Die klassische Beschäftigung für unterforderte Büroarbeiter: Computer spielen. Eines der ersten weit verbreiteten Spiele war die

DÜSSELDORF. In einer Online-Umfrage des Karriereportals Monster zur Work-Life- Balance stimmten im Jahr 2008 über 30 Prozent der Antwortenden (1 600 Personen) folgender Aussage zu: "Ich möchte größere Aufgaben übernehmen und fühle mich unterfordert."

Das amerikanische Unternehmen Salary.com ermittelte 2007 in seinem Wasting Time Survey, dass der durchschnittliche Arbeitnehmer pro Arbeitstag etwa 1,7 Stunden seiner Arbeitszeit außerhalb der regulären Pausen für private Aktivitäten nutzt (Internet-Recherchen, Erledigungen, Kontaktpflege). Dort gaben 17,7 Prozent der 2 000 Befragten an, nicht genug zu tun zu haben, und 11,1 Prozent nannten als Grund für die persönlichen Nebentätigkeiten "a lack of challenging work".

In einer Online- Befragung von über 5 000 deutschen Fach- und Führungskräften durch das Unternehmen Stepstone (Juni 2009) beantworteten 39 Prozent die Frage "Fühlen Sie sich auf ihrer Arbeit manchmal unterbeschäftigt?" mit "Ja, sehr."

Systematische Unterforderung kann zur Belastung werden

Wie kann das sein in Zeiten von Burnout, Erschöpfung und Überforderung? Es gibt offensichtlich in der Arbeitswelt auch das genaue Gegenteil: die qualitative oder quantitative Unterforderung am Arbeitsplatz. Sie ist auf den ersten Blick attraktiv, denn das anfängliche Nichtstun kann Spaß machen und für alternative Ideen genutzt werden. Mittelfristig entstehen jedoch häufig Demotivation, Müdigkeit und berufliches Desinteresse, weil jede Selbstbestätigung am Arbeitsplatz ausbleibt.

Aus der Stressforschung ist schon lange bekannt, dass auch die systematische Unterforderung zu einer echten Belastung werden und zu hohen Ausfallzeiten führen kann. Human oder gesundheitsförderlich wäre eine Arbeit, die den Beschäftigten ausfüllt und Anforderungen stellt, welche fordernd aber bewältigbar sind und die man nicht bis ins letzte Detail vorgeschrieben bekommt.

Drei Typen von Unterforderung

Die möglichen Kombinationen einer qualitativen und quantitativen Über- oder Unterforderung existierten in verschiedenen Ausprägungen. Der erste Fall tritt zum Beispiel auf, wenn ein studierter Geisteswissenschaftler im Beschwerdemanagement eines Unternehmens sehr viele Fälle nach dem immer gleichen Schema zu bearbeiten hat. Er hat reichlich zu tun, fühlt sich aber überhaupt nicht seinen Fähigkeiten entsprechend eingesetzt.

Fall 2 kennzeichnet die komplette Unterforderung am Arbeitsplatz. Insbesondere dann, wenn Bürotätigkeiten weder mengenmäßig noch geistig besonders fordernd gestaltet sind. Die Stelleninhaber verbringen den Arbeitstag entweder mit privaten Aktivitäten hinter verschlossenen Türen (Urlaubsplanung, Weiterbildung) oder sie fallen durch sehr häufige Rauchpausen oder lange Gespräche mit Kollegen auf.

Der dritte Fall kann entstehen, wenn eine anspruchsvolle Tätigkeit (etwa Organisationsentwicklung) durch die Blockadehaltung von Mitarbeitern nur sehr schleppend voran geht. Es wäre so viel zu tun, aber die Möglichkeiten das Projekt zu beschleunigen, sind sehr gering.

Das Boreout-Phänomen

Die Schweizer Unternehmensberater Philippe Rothlin und Peter Werder haben 2007 für eine bestimmte Konstellation der chronischen Unterforderung im Job den Begriff Boreout geprägt. Marketing-Experten würden diesen Vorgang als Themen-Branding bezeichnen, wenn komplizierte Inhalte mit einem eingängigen Schlagwort (hier: das Gegenteil von Burnout) leichter fassbar gemacht und schneller transportiert werden. Seitdem wird kritisiert, die beiden Autoren seien keine Arbeitspsychologen, für Boreout würde die wissenschaftliche Basis fehlen, faule Mitarbeiter hätte es schon immer gegeben oder die Unterforderung am Arbeitsplatz wäre ein Luxusproblem. Diese Kritik greift zu kurz - man kann allenfalls darüber streiten, wie verbreitet das Phänomen wirklich ist.

Eine Boreout-Situation entsteht, wenn die Elemente Unterforderung, Desinteresse und Langeweile mit Verhaltensweisen gekoppelt sind, die der Arbeitnehmer zeigt, um dennoch ausgelastet zu wirken. Die betroffenen Mitarbeiter sind in der Regel nicht von Hause aus faul, sondern sie haben sich bei ihren Vorgesetzten bereits um mehr oder anspruchsvollere Aufgaben bemüht. Weil das nichts brachte, haben sie resigniert und eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegenüber der Arbeit und dem Arbeitgeber entwickelt.

Heute fließt ein wesentlicher Teil ihrer Energie in das Aufrechterhalten der Auslastungsfassade. Sie wollen gar nicht mehr arbeiten und sind als gelangweilte Beschäftigte nach Feierabend dennoch genauso erschöpft, als hätten sie den ganzen Tag viel zu tun gehabt.

Eigenes Büro verleitet zum Faulenzen

Besonders anfällig für Boreout sind Arbeitnehmer mit Schreibtischjobs und eigenem Büro. Sie können die Tür hinter sich schließen und berufliche Aktivitäten vortäuschen. Busfahrer, Altenpflegerinnen oder Fließbandarbeiter können hingegen ebenfalls unterfordert sein, stehen allerdings unter einer direkteren Kontrolle.

Das Phänomen tritt auch im Management auf, wenn zum Beispiel hochqualifizierte Nachwuchskräfte durch Routinearbeiten, unklare Erwartungen und Langeweile demotiviert werden. Wer als Führungskraft immer wieder eigene Ideen und Vorschläge entwickelt, die dann doch nicht aufgegriffen werden, ist mit seinem Arbeitsplatz ebenfalls schnell unzufrieden.

Wie Vorgesetzte gegensteuern können

Aus Sicht der Unternehmen sind die direkten Vorgesetzten entscheidend für das Erkennen von Über- oder Unterforderung ihrer Untergebenen. Beide Aspekte können gleichzeitig und auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen.

Während der Fließbandmitarbeiter unter körperlicher Überbelastung, Monotonie und sozialer Isolation leiden kann, muss der Projektmanager mit körperlicher Untätigkeit, psychischem Stress und gestörten Teambeziehungen fertig werden. Erfahrene Führungskräfte erkennen diese Probleme und leiten unterschiedlichste Gegenmaßnahmen des job enrichments, der ergonomischen Entlastung oder des Konfliktmanagements ein. Als Anhaltspunkte für einen Boreout können eine geringe Beteiligung in Sitzungen, eine steigende Fehlerquote, viele Krankheitstage oder kein Interesse an Fortbildungen herangezogen werden.

Welche Reaktionsmöglichkeiten der Vorgesetzten kommen in Frage? Zunächst einmal muss die berufliche Unterforderung festgestellt und diskutiert werden. Dazu bieten sich die regelmäßigen Mitarbeitergespräche an. Wenn grundsätzlich in der Abteilung genug zu tun ist, die Arbeit bisher aber ungleichmäßig verteilt war, dann müssen die Arbeitspakete neu zugeordnet werden. Insbesondere die anspruchsvollen Aufgaben mit mehr Verantwortung und höherem Prestige dürfen nicht den immer gleichen Personen zugeteilt werden. Sollten die gelangweilten Beschäftigten auf Positionen sitzen, die nicht zu ihrer Ausbildung und ihren Zielsetzungen passen, dann ist über Stellenwechsel nachzudenken. Wenn unterforderte Mitarbeiter nicht über die notwendigen Qualifikationen für anspruchsvollere Aufgaben verfügen, dann können Weiterbildungsaktivitäten eingeleitet werden.

Unterforderte Mitarbeiter sollten Tätigkeiten dokumentieren

Neben den Vorgesetzten können vor allem die unterforderten Mitarbeiter selbst auf ihre Situation Einfluss nehmen. Als ersten Schritt bietet sich eine Dokumentation der beruflichen Tätigkeiten im Wochenverlauf mit der Kernfrage an: Womit verbringe ich eigentlich meine Arbeitstage? Werden dabei sehr viele private Aktivitäten oder einfache und repetitive Arbeiten erfasst, dann bietet es sich an, aus eigenem Antrieb aktiv zu werden. Im Idealfall verfügen die Betroffenen selbst über die Freiheitsgrade, die eigene Arbeit interessanter zu gestalten oder zumindest ihre Einstellung zur Arbeit zu ändern.

Es kann sehr hilfreich sein, den Sinn nicht nur in den eigenen reglementierten Tätigkeiten, sondern in der wichtigen Funktion der Organisation für das Gemeinwohl zu suchen. Ein gutes Betriebsklima lässt die unterfordernden Aufgaben zwar nicht interessanter, aber erträglicher erscheinen. So lassen sich unter Umständen auch der langweilige Bürojob in einem Krankenhaus oder der Schichtdienst eines U-Bahnfahrers besser ertragen.

Was passiert, wenn sich auch mit Hilfe der Vorgesetzten keine Veränderung herbeiführen lässt? Wer in einer Situation permanenter Unterforderung auf einer eigentlich attraktiven Stelle noch in der Lage ist sein Verhalten zu steuern, kann von seinem Arbeitgeber eine vertragsgemäße Beschäftigung verlangen und diesen Anspruch auch gerichtlich durchsetzen. Alle anderen Betroffenen müssen entweder mit dem daraus resultierenden Stress umgehen lernen oder die Konsequenzen ziehen.

Im Notfall hilft nur die Kündigung

Wer vor lauter Langeweile und Desinteresse nicht mehr weiter weiß, sollte besser kündigen und sich eine sinnstiftende Arbeit suchen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass eine permanente berufsbezogene Unzufriedenheit krank macht und sich negativ auf andere Lebensbereiche auswirkt. Als Kompetenzen zur Stressvermeidung können auch bei Unterforderung die Kontrolle innerer Antreiber, die kognitive Umstrukturierung durch Neubewertung der Situation oder auch visuelles und auditives Abschalten herangezogen werden. Damit lässt sich in vielen Fällen eine echte Entlastung erreichen.

Ausblick: nicht nur Trendthema

Das Problem der Unterforderung am Arbeitsplatz ist nicht neu und wird auch nicht künstlich durch die Boreout- Diskussion an die Oberfläche gespült. Aus der Stressforschung und den Projekten zur Humanisierung der Arbeit ist vielmehr seit Jahren bekannt, dass es auch Unterforderung an Arbeitsplätzen gibt und sich diese sehr belastend auf die Stelleninhaber auswirkt. Rein zahlenmäßig überwiegt bei weitem die Burnout-Problematik, doch auch berufliche Langeweile kann zu persönlichem Stress führen. Chronisch unterforderte Mitarbeiter sind häufig gereizt, verärgert und unzufrieden oder ziehen sich schweigend mit der inneren Kündigung in ihr Büro zurück. Besonders negativ wirkt sich die Kombination aus einer inhaltlichen Unterforderung bei gleichzeitiger quantitativer Überforderung auf die Arbeitsleistung aus. Hier müssen die direkten Vorgesetzten eingreifen um hohe Fehlzeiten, eine schlechte Arbeitsqualität und Produktivitätseinbußen zu verhindern .

Dr. Günther Vedder, Betriebswirtschaftslehre Arbeit-Personal- Organisation, Universität Trier

Margit Vedder, Diplom- Psychologin Integrationsfachdienst Caritasverband Trier

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