Wer als Versicherer etwas auf sich hält, veranstaltet einen Hackathon. Da treffen sich dann Programmierer und Versicherungsexperten und ersinnen neue, digitale Anwendungen oder gar Geschäftsmodelle. Das zeigt: Die Branche hat verstanden, dass neue Konkurrenz droht. Während in der breiten Öffentlichkeit bislang allenfalls auf Start-ups aus dem Finanzbereich geschaut wird, sogenannte Fintechs, erlebt Deutschland auch bei Start-ups im Versicherungsbereich einen Boom.
Gab es Mitte 2016 noch 53 davon sind es aktuell 109, mehr als doppelt so viele. Das zeigt die exklusive Marktstudie „Insurtech-Radar 2017“, die die Unternehmensberatung Oliver Wyman und der Lebensversicherungsaufkäufer Policen Direkt gemeinsam erstellt haben und deren Ergebnisse der WirtschaftsWoche vorab vorliegen.
Mit 41 Prozent Anteil gibt es dabei eine Häufung von Start-ups aus dem Vertriebs-Bereich. „Wir erwarten hier weitere Marktaustritte“, sagt Nikolai Dördrechter, Geschäftsführer von Policen Direkt. Dabei müssten die Geschäftsmodelle nicht einmal schlecht sein. „In der Versicherungswelt setzt sich nicht zwingend das beste Produkt durch, sondern meistens das mit der besten Kundenansprache“, sagt Dördrechter. Je nach Versicherungstyp gibt es dabei große Unterschiede. „Bei der Kfz-Versicherung funktionieren digitale Vertriebsmodelle gut, weil solche Policen aktiv online gesucht und abgeschlossen werden“, sagt Dietmar Kottmann, Partner bei Oliver Wyman. „Viele Versicherungen werden aber vom Kunden weniger oder gar nicht aktiv nachgefragt. Da haben es die digitalen Vertriebsmodelle sehr viel schwerer.“
Während es in anderen Ländern teils spektakuläre Insolvenzen gegeben habe, etwa in Großbritannien beim einst gehypten Peer-to-Peer-Insurtech Guevara, verlaufen die Marktaustritte in Deutschland laut Studie vergleichsweise still. Ein Grund: Bislang steckt noch relativ wenig Geld in Insurtechs. Das Zusammengehen des digitalen Versicherungsmaklers Knip mit dem niederländischen Software-Unternehmen Komparu werten die Studienautoren als wohl größten Exit der vergangenen Monate. Das Unternehmen wolle sich nun unter dem Namen Digital Insurance Group auf Versicherungssoftware konzentrieren.
Vor allem die direkte Endkundenansprache, also das klassische Maklergeschäft, mit dem Knip punkten wollte, ist extrem wettbewerbsintensiv. Auch die Website des Onlinemaklers Safe.me ist aus dem Internet verschwunden. Anfang 2015 hatte er den Versicherungsmarkt noch mit Flatrate-Versicherungen und provisionsfreien Produkten aufmischen wollen.
Insurtechs auf Geldsuche
Ausbleibende Finanzierungen könnten die weitere Marktbereinigung befeuern. Über 70 Prozent aller Insurtechs sind laut Studie auf Geldsuche – entweder suchen sie akut oder bereiten eine Finanzierungsrunde vor. Während Gründer noch einfach an Startkapital kämen, seien spätere Anschlussfinanzierungen schwer zu bekommen. Summen ab zwei Millionen Euro aufzubringen, stufen 65 Prozent der für die Studie befragten Insurtech-Unternehmer als schwierig oder sehr schwierig ein. 36 Insurtechs beteiligten sich an der Befragung.
Noch sind die Unternehmer trotzdem wählerisch: So halten 47 Prozent zum Beispiel ein finanzielles Engagement klassischer Versicherer für schädlich, etwa wegen Interessenskonflikten. Gleichzeitig hält jeder zweite das branchenspezifische Wissen der Investoren für nicht ausreichend. Rückversicherer als Geldgeber könnten hier ein Kompromiss sein: Zwei von drei Insurtech-Unternehmern sehen deren Beteiligung als optimal oder zumindest positiv an.
Kooperation statt Konfrontation
Tatsächlich schwenken laut Studie viele Insurtechs längst von Konfrontation auf Kooperation mit den Versicherern um. Das Finanzportal Treefin schlüpfte zum Beispiel unters Dach der Versicherungsgruppe W&W. Versicherer wie Baloise, Helvetia und Signal Iduna haben Millioneninvestments in Insurtechs angekündigt. Die Allianz hat dafür eine eigene Einheit AllianzX geschaffen.
Der Insurtech Radar beleuchtet anhand der Wertschöpfungskette von Angebot, Vertrieb und Betrieb einer Versicherung auch, welche Insurtechs dort aktiv sind und welche Chancen die Studienautoren ihnen beimessen.
Vor allem im Angebotsbereich hat es ein großes Wachstum gegeben; etwa jedes fünfte Insurtechs in Deutschland stammt nun auch diesem Bereich. Volldigitale Versicherer, wie etwa Ottonova im privaten Krankenversicherungsbereich, sind keine Seltenheit mehr. Dabei steht zunehmend auch der Präventionsgedanke im Vordergrund. Es geht nicht mehr nur um günstigere Beiträge. Insurtechs wollen also noch stärker als klassische Versicherer ihren Kunden dabei helfen, Versicherungsrisiken zu senken – und so letztlich der Versichertengemeinschaft aber auch dem Versicherer selbst nützen. Das Berliner Start-up Perseus kombiniert zum Beispiel die Vorbeugung von Hackerangriffen und anderen Datenrisiken mit der passenden Cyber-Versicherung, die auf mittelständische Kunden zielt. Insurtechs, die diesen Schutzgedanken in den Vordergrund stellen, trauen die Studienautoren die besten Erfolgschancen im Angebotsbereich zu. Neben Perseus und Ottonova sind das auch die Insurtechs BuddyGuard, JimDrive und Schadenengel.
Digital or dead: So überleben Sie die digitale Zukunft
Die Digitalisierung wird mittelfristig das Kerngeschäft der meisten Unternehmen beeinflussen. Führungskräfte müssen analysieren (lassen), wie sich die Spielregeln für ihre Branche verändern und die einzelnen Herausforderungen zu ihrer persönlichen Agenda machen.
Quelle: Digital or dead von Serhan Ili und Ulrich Lichtenthaler
Viele Firmen konzentrieren sich darauf, vor allem die Effizienz ihrer Produktion durch neue Technologien zu stärken. Wer sich aber ausschließlich auf technologiegetriebene Effizienzsteigerung konzentriert, verschenkt in Zukunft Wachstumschancen. Denn diese entstehen durch digitale und analoge Innovationen.
Führungskräfte müssen besonders vielversprechende digitale Lösungen für ihr Unternehmen identifizieren. Wenn sie ein oder mehrere Tools in der engeren Auswahl haben, sollten sie das Ausprobieren der Software im Unternehmen fördern.
Neben dem kurzfristigen Ausprobieren müssen Unternehmen auch langfristig für ihre IT-Zukunft planen. Schließlich sollen die neuen Softwarelösungen, die zum Geschäftsmodell passen, auch in die bestehende Unternehmens-IT integriert werden.
Der Ausgangspunkt der Digitalisierungsinitiative sollte keinesfalls die IT sein. Vielmehr sollten die damit befassten Entscheider zunächst ein klares Bild davon haben, welchen Nutzen die Digitalisierung dem Unternehmen bringen sollte. Auf dieser Grundlage sollte alsdann zunächst ein passendes Geschäftsmodell für die digitalen Aktivitäten entwickelt werden, bevor dieses dann innerhalb der IT tatsächlich umgesetzt wird.
Eine zentrale Gefahr für Industrieunternehmen ist das Auftreten neuer Komplettlösungsanbieter wie Uber, die direkt an der Schnittstelle zum Kunden arbeiten und diese besetzen. Umgehen kann man diese Gefahr mit der Entscheidung für eine interne Digitalisierungslösung.
Eine Stelle wie die des CDO zu schaffen, der die Digitalisierungsbemühungen koordiniert, ist sehr hilfreich. Der Chief Digital Officer braucht aber auch genügend Macht und Einfluss innerhalb des Unternehmens. Wenn sein Posten nur eine Alibifunktion innehat, nützt das wenig.
Über die koordinierende Funktion des Chief Digital Officers hinaus beinhaltet die Digitalisierung eines Unternehmens üblicherweise weitere, größere Veränderungen, die ein gewisses Maß an Beteiligung des ganzen Unternehmens erfordert. Die Unternehmenslenker müssen eine überzeugende Digitalisierungsgeschichte entwickeln, um die Einsatzbereitschaft aller Beteiligten sicherzustellen.
Unternehmen müssen bewegliche und flexible Innovationsprozesse anstoßen und weiterentwickeln - zumindest als Ergänzung für traditionellere, systematische Prozesse. Darüber hinaus ist es unabdingbar, ganze Produktlösungen innerhalb des geschäftlichen Umfelds zu optimieren, anstatt nur einzelne Produktspezifika zu verändern.
Digitalisierung erfordert neue Kompetenzen und beinhaltet oft die Veränderung bekannter und bewährter Geschäftsmodelle. Daraus folgt, dass Unternehmen offen für Hilfe von außen, nämlich von Digitalisierungsexperten, sein sollten, um den größtmöglichen Nutzen aus Innovation und den dazugehörigen Kompetenzen ziehen zu können.
Marktaustritte von 63 Prozent
Der Anteil der Insurtechs im Vertriebsbereich ist durch die ersten Marktaustritte von 63 Prozent Mitte 2016 bereits deutlich auf aktuell noch 41 Prozent gesunken. Chancen sieht der Insurtech-Radar hier vor allem bei Start-ups, die eine enge Bindung zum Kunden schaffen. „Die betriebliche Altersvorsorge kann für Insurtechs ein guter Türöffner sein“, sagt Kottmann von Oliver Wyman. Wenn diese Angestellten eines Unternehmens erstmal Verträge in diesem Bereich vermittelt haben, eröffnet ihnen das später vielleicht auch für andere Vertragsarten Chancen. Penseo und HeavenHR nennt die Studie als Vertreter solcher „Unternehmensplattformen“.
Weniger sichtbar, aber für die Versicherungswelt nicht weniger spannend: Auch den Betrieb der Versicherungen wollen Insurtechs verändern. Bereits 38 Prozent der Insurtechs entfallen nun auf diesen Bereich, Mitte 2016 waren es nur 22 Prozent. Das Gros der Start-ups im Betriebs-Bereich widmet sich indirekt aber doch wieder dem Vertrieb, indem es Versicherungsvertriebe unterstützen will. Mehr Chancen sehen die Studienautoren etwa bei der Schadensabwicklung. International gebe es hier deutlich mehr Aktivität als bei den deutschen Insurtechs. Mit den Insurtechs Cognotekt, mbafleet, MotionsCloud, SchadenLaden, Unfallfuchs und unfallhilfe24 listen sie aber doch einige Vertreter aus diesem Feld auf.