Wäschefabrikant Mey Charlotte macht den Unterschied

Mit hochwertiger Ware trotzt der schwäbische Wäschefabrikant Mey dem Niedergang der deutschen Textilindustrie.

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Eine Schneiderin in der Mey-Produktionshalle Quelle: dpa

Charlotte hat noch nicht viel von der Welt gesehen. Anders als ihre Wesensverwandten, die nicht selten schon drei, vier Landesgrenzen überschritten und die Weltmeere überquert haben, bevor sie in deutschen Geschäften auf Bügeln hängen, bleibt Charlotte bis zuletzt auf der Schwäbischen Alb. In Albstadt, auf halber Strecke zwischen Stuttgart und dem Bodensee, wird sie in 30 Arbeitsschritten aus fast 40 Einzelteilen zusammengefügt. Charlotte ist ein Büstenhalter, der es in die aktuelle Kollektion des Wäscheherstellers Mey geschafft hat. Eine Mischung aus Polyamid und Elasthan, an den Trägern eine kleine Rüsche aus Tüll, am Steg ein kleines Schleifchen. Von der Herstellung der Stoffe über das Zuschneiden und Vernähen der Einzelteile bis zum Verpacken sind alle Produktionsschritte in Albstadt-Lautlingen abgelaufen, dem Firmensitz von Mey. Der einzige kurze Ausflug ging in die Steiermark nach Österreich, zum Färben des Stoffes. "Ocean" heißt das tiefe Blau.

Charlotte und ihre BH-Schwestern

Einen "vollstufigen Betrieb" nennt das Joachim Hahn, Sprecher der Geschäftsführung von Mey. Eingebettet in sanft anschwellende Hügel, steht die Fabrik in der wenig schmückenden Umgebung eines Industriegebiets. Auf der Landstraße reiht sich Lkw an Lkw. Charlotte landet am Ende auf einem Kleiderbügel in einer Kiste, neben ihren BH-Schwestern Monique, Gabrielle und Celine, versehen mit einem Preisschild. 45,95 Euro steht darauf. Ein stolzer Preis für einen Büstenhalter.

"Kein Kleidungsstück kommt der Haut so nah wie Wäsche", sagt der 59-jährige Hahn. "Es geht ums Wohlfühlen." Und dabei gebe es viel zu beachten: die Verarbeitung der Nähte, damit nichts zwickt, das Design, das sich den weiblichen Rundungen anschmiegt. "Qualität ist ein komplexer Begriff. All diese Komponenten schlagen sich am Ende aber in dem Gefühl auf der Haut nieder."

Offenbar sind genügend Kunden bereit, so viel Geld in dieses angenehme Gefühl zu investieren. Mey ist in Deutschland Marktführer bei Tagwäsche für Damen, bei den Herren belegt die Firma den zweiten Platz. 67 Prozent der Wertschöpfung finden in Albstadt oder den Nachbarorten Dormettingen und Bitz statt, wo insgesamt 440 Mitarbeiter beschäftigt sind. Das Unternehmen befindet sich vollständig im Besitz der Familie Mey.

Das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Branche, in der nur noch jedes zwanzigste Kleidungsstück, das über deutsche Ladentheken wandert, auch hierzulande produziert wird. Einst haben eine ganze Reihe von Unternehmen den weltweiten Ruf der Schwäbischen Alb und der vorgelagerten Gemeinden als blühendes Zentrum der Textil- und Bekleidungsindustrie begründet. Davon ist heute nicht mehr viel übrig. Waren in der Region im Jahr 1980 noch 29.000 Menschen in der Branche beschäftigt, sind es heute nur mehr 5000.

Viele der verbliebenen Unternehmen haben lediglich ihren Verwaltungssitz hier, bestenfalls noch eine kleine Musternäherei. Weltbekannte Marken wie Hugo Boss aus Metzingen im benachbarten Kreis Reutlingen sind längst in der Hand von Finanzinvestoren. Zu arbeitsintensiv ist die Industrie, zu hoch sind die Löhne in Baden-Württemberg, zu groß die Verlockungen für Unternehmen, in Billiglohnländer abzuwandern.

Ein Blick zurück: Am Anfang des 18. Jahrhunderts machte es die Realteilung in Württemberg vielen Familien unmöglich, allein von der Landwirtschaft zu leben. Bei jedem Erbfall teilte sich der Landbesitz gleichmäßig unter den Familienmitgliedern auf, die Flächen wurden zu klein, um den Lebensunterhalt zu sichern. In ihren Bauernstuben richteten sich Tausende Familien einen Nebenerwerb ein, sie webten, strickten und nähten. Die Heimarbeit war der perfekte Nährboden für die einsetzende Industrialisierung.

Jean Remy von Matt macht Werbung für Mey

Franz Mey kaufte sich 1928, in der Spätphase dieser Entwicklung, eine Strickmaschine und begann im Hinterzimmer seines Wohnhauses, in Blickweite zum heutigen Firmensitz, mit der Herstellung von Stoffen. Auf die Lohnwirkerei folgte eine kleine Konfektion: Hosen, Jacken, Blusen. In den sechziger Jahren wagte es Franz Mey, etwas ganz anders zu machen als die Konkurrenz. Er konzentrierte sich auf ein kleines Segment und auf den Fachhandel, er setzte auf Produktivität und eine hohe Qualität. Unterwäsche sollte es sein, ganz schlicht, "Mey" sollte sie heißen, anstatt sich hinter den damals üblichen kryptischen Fantasienamen à la Belinda zu verstecken. "Aus einem Namen wurde eine Marke. Und aus anonymer Ware wurde ein Versprechen an den Kunden", erzählt Hahn. "Das brachte einen Vorsprung im Preiskampf, ein Unterscheidungsmerkmal."

Anfang der siebziger Jahre wurde die Textilindustrie zum Vorboten der globalen Arbeitsteilung. Die Konkurrenz verlegte ihre Arbeitsplätze zunehmend in Länder mit niedrigeren Löhnen. 1991 kam auch Mey um einen Schritt ins Ausland nicht mehr herum. Während die Branche in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt war, schrieb Mey weiter konstant schwarze Zahlen und expandierte. Der erste Versuch der Auslandsproduktion führte nach Portugal, wo Mey heute 240 Mitarbeiter beschäftigt. Klar, auch das Argument niedriger Lohnkosten habe eine Rolle gespielt, das gibt Hahn zu. Genauso wie beim Schritt nach Ungarn im Jahr 2000, wo heute 150 Menschen für Mey arbeiten.

Experiment in China beendet

"Wir sind keine Missionare oder Eiferer. Der Gang ins Ausland ist nicht zwangsläufig der Sündenfall", stellt Hahn klar. "Wenn es an einem anderen Ort möglich ist, zu geringeren Kosten die gleiche Qualität herzustellen, hängen auch wir nicht am Standort Deutschland fest." Ein kurzes Experiment mit "made in China" hat das Unternehmen zuletzt aber wieder beendet. Zu hoch sei der Aufwand gewesen, zu gering die gelieferte Qualität. "Wir haben über die Jahre ein immenses Wissen angehäuft. Das können Sie nicht einfach in einen Koffer stecken und an einem beliebigen Ort der Welt wieder auspacken", sagt Hahn. Qualität sei das Ergebnis eines langen Prozesses. "Das können Sie nicht einfach befehlen, das muss in einem Unternehmen verwurzelt sein."

Die zehn Millionen Euro, die die fünf Mitglieder der Gesellschafterfamilie in zweiter und dritter Generation zuletzt in ein neues Gebäude für den Fabrikverkauf in Albstadt und in ein neues Logistikzentrum investiert haben, ist für sie ein Bekenntnis zur Region. Eine Summe, die angesichts eines Umsatzes von jährlich rund 65 Millionen Euro nicht unerheblich ist. Mey bewegt sich auf einem Markt, auf dem zwar in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich die gleichen Stückzahlen an Damenwäsche verkauft wurden, der Gesamtumsatz in Deutschland aber um ein Drittel geschrumpft ist. Die Erklärung dafür liegt auf den Wühltischen der Discounter-Märkte. "Der Preiskampf mit Billigware ufert nach unten immer mehr aus. Billiger zu produzieren, das geht immer", sagt Hahn. "Wir könnten da aber nicht mitmachen, ohne das aufzugeben, was uns ausmacht."

Mey hat sich in einem relativ kleinen, hochpreisigen Segment seinen Platz geschaffen. Das Wachstumspotenzial scheint hierzulande erst einmal ausgeschöpft zu sein. Die Zukunft sieht Hahn deswegen im Ausland, in den Niederlanden und in Frankreich. Bei 20 Prozent liegt derzeit schon der Exportanteil.

Rund 30.000 Wäscheteile verlassen jeden Tag die Produktionshallen von Mey: BHs, Slips und Schlafanzüge. Im hinteren Teil der Halle in Albstadt dröhnen monoton mehr als 100 Strickmaschinen. Zweieinhalb Tonnen Stoff sind

ihre tägliche Ausbeute, sechs Tage pro Woche, 24 Stunden lang werfen sie eine Masche auf die andere. Heraus kommen lange Schläuche weißer Stoff. Die leistungsstärkste Maschine schafft elf Millionen Maschen in der Minute.

In der zweiten Hälfte der Halle rattern 220 Nähmaschinen in langen Reihen. Auf dem vordersten Tisch liegt ein Stapel dunkelblauer Stoffteile. Eine Näherin legt das Hinterteil eines Slips auf die Arbeitsplatte, Druckluft glättet zischend den Stoff, einen Knopfdruck später hat die Maschine das Gummiband angenäht. Die genaue Anzahl der Stiche, ihr Abstand zueinander, alles ist für dieses spezielle Unterhosenmodell programmiert. Der blaue Stapel ist schnell abgearbeitet, der nächste Posten ist dran.

Joachim Hahn bleibt am Tisch daneben stehen und greift nach einem Push-up-BH, prüft den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. "Durch die Form des Körbchens wirkt die Brust der Frau eine Nummer größer." Die Miene des professionellen Qualitätskontrolleurs weicht auch nach 23 Jahren in Diensten von Mey kurz einem süffisanten Grinsen.

Die Marke ist das wertvollste Gute eines Unternehmens

Drüben im Verwaltungsgebäude lächelt von einem mannshohen Plakat Magdalena Neuner, die Biathlon-Olympiasiegerin, in Spitzenunterwäsche. Bequem rekelt sie sich in einem Korbstuhl, das Gewehr an die Schulter gelehnt, einen Selbstauslöser in der Hand. Gegenüber wirft sich der Autor Frank Schätzing, nur mit Boxershorts bekleidet, in die Pose eines Athleten. "Me, Myself and Mey" ist neben dem Firmenlogo zu lesen. Menschen mit einer Geschichte, mit einer Botschaft habe man für die aktuelle Werbekampagne gesucht, sagt der Manager. Man müsse der Marke "eine klare Handschrift" geben. Eine Marke sei das Wertvollste, was ein Unternehmen besitze, davon ist Hahn überzeugt. "Wir verkaufen ein sehr intimes Produkt. Da muss man Emotionen transportieren." Beim Thema Marketing ist der Geschäftsführer ganz in seinem Element, seine Augen werden jetzt groß beim Sprechen, der Kopf nickt beständig.

Die Konzentration auf eine konsequente Markenbildung ist eng mit dem Namen Jung von Matt verbunden. Seit 17 Jahren arbeitet Mey mit der stilprägenden Werbeagentur aus Hamburg zusammen. Mit Erfolg: Die leicht bekleideten Prominenten der Mey-Fotoshootings tauchten nicht nur in den Anzeigen auf, sie gaben auch Stoff für Geschichten im redaktionellen Teil. Kostenlose Werbung für Mey. Marktstudien haben gezeigt, dass 44 Prozent der Deutschen den Namen Mey kennen. Das sind gute Werte für ein Unternehmen, das jährlich nur über einen vergleichsweise kleinen Werbeetat von einer halben Million Euro verfügt.

Dass Unterwäsche in der Kundenwahrnehmung zum Luxusartikel mutiert ist, ist eine Entwicklung der jüngeren Zeit. Mey hat seinen Teil dazu beigetragen. Lange war der Wäschekauf ein reiner "Bedarfskauf", wie es die Marketingleute nennen.

Dass sich diese Wahrnehmung verändert, beweisen die so genannten Best Brands Awards, mit denen die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) jedes Jahr die wachstumsstärksten Marken in Deutschland auszeichnet. In die Bewertung fließt sowohl der ökonomische Markterfolg einer Marke wie auch ihre emotionale Attraktivität für den Verbraucher ein. Im Normalfall dominieren hier Unterhaltungselektronik oder Sportbekleidung. 2006 aber belegte Mey überraschend den zweiten Platz: Das Wäschesegment war dem biederen Feinripp-Image endgültig entwachsen. Auf Platz fünf folgte Schiesser, "die vom Bodensee". Hahn vermeidet es, den Namen des Konkurrenten auszusprechen. Drei Jahre später wiederholte sich der Erfolg: Mey wurde nun in der Rangliste der wachstumsstärksten Marken ganz vorn geführt, noch vor Nike oder Samsung. Schiesser tauchte auf der Liste nicht mehr auf. "Die vom Bodensee" hatten wenige Wochen zuvor Insolvenz angemeldet.

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