Werksschließung Nokia-Boykott: Aus dem Nichts

Die Macht der Konsumenten nimmt zu, mancher Produktboykott tut Unternehmen richtig weh. Die No-Nokia-Welle ist auf dem besten Weg dahin.

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Die Macht der Konsumenten Quelle: AP

Wenn Olli-Pekka Kallasvuo in den nächsten Tagen wirklich nach Bochum kommt, wird der Nokia-Chef herbe Szenen erleben: bitterböse Protestplakate vor dem Haupteingang an der Meesmannstraße wie bei der Demonstration am vergangenen Dienstag. Schwarze Papp-Särge, auf die „Nokia“ und „Bochum“ und ein Kreuz gepinselt sind. Symbolische Geldsäcke, die die 88 Millionen Euro Subventionen darstellen sollen, die Nokia für die Ansiedlung im Ruhrgebiet bekommen hat. Und Mülltonnen, in die empörte Ruhrgebietsmenschen TV-tauglich Nokia-Handys werfen.

Was Kallasvuo verbockt hat – der Finne findet inzwischen, es möge „etwas kalt gewirkt haben“, wie er die Werksschließung ankündigte –, entlädt sich nun auf die Produkte der Finnen. Politiker wie Kurt Beck (SPD) und Horst Seehofer (CSU) entsagten ihren Nokias. Frank Plasberg diskutierte über den Produktboykott in seiner ARD-Talk-Runde „Hart aber fair“. Kulturschaffende wie der Karnevals- und Comedystar Bernd Stelter, der zur Melodie von „Ich war noch niemals in New York“ einen Song textete („Komm kauf nicht mehr bei Nokia“), werden laut beklatscht. Dutzende von Prominenten und Tausende von Konsumenten haben in Straßenumfragen von Zeitungen und Fernsehsendern Bekenntnis abgelegt: Sie wollen erstmal kein Nokia-Handy mehr kaufen. Auf der No-Nokia-Homepage – betrieben von der NRW-SPD – haben sich schon 15.000 Unterstützer eingetragen.

Dass der Massenprotest wirklich zum Erhalt der Bochumer Fabrik führt, glaubt kaum jemand. Aber einen Teilerfolg haben die Widerspenstigen schon erzielt: Am Donnerstag versprach Kallasvuo, in Bochum Projekte zum Ausgleich für die Schließung anzustoßen und zu finanzieren.

Die neue Macht der Kunden – nun bekommt Nokia sie zuspüren. Die Globalisierung treibt viele dazu, innerhalb der sich wandelnden Wirtschaftswelt nach einem eigenen Standpunkt zu suchen. Sie wollen vom Spielball der ökonomischen Mächte zum Handelnden werden. Dazu bietet ihnen das Internet – und natürlich das Handy – beste Möglichkeiten. Neue Kommunikationsmittel machen es einfach, Aktionsgruppen innerhalb kürzester Zeit aus dem Nichts zu schaffen und zu vernetzen. Gruppierungen wie Greenpeace und Attac warten nur darauf, ihre gut geölten Protestmaschinen in Gang zu setzen. Der Einfluss der Konsumenten auf die Wirtschaft sei „heute stärker denn je“, sagt Katja Wittig, Mitarbeiterin am Marketing-Lehrstuhl der Technischen Universität Dresden, die 2006 die Mechanismen eines Boykotts am Beispiel Electrolux untersuchte, als der schwedische Konzern sein Nürnberger AEG-Waschmaschinenwerk schloss.

Gleichzeitig ist es aber schwierig, die internationalen Konzerne wirksam zu treffen. Wenn hierzulande der Umsatz vorübergehend absackt, ist das für Nokia kein ernstes Problem. Obwohl Deutschland hinter China und Indien der drittgrößte Markt Nokias ist, beträgt der deutsche Umsatzanteil weltweit nur rund fünf Prozent.

Hinzu kommen Marktmechanismen. Wer jetzt beim Abschluss eines Mobilfunkvertrages das Nokia-Handy ablehnt, schadet nicht den Finnen, sondern dem jeweiligen Mobilfunknetzbetreiber. Denn der hat die Handys Monate vorher bestellt und längst im Lager. Stockt der Absatz, steuert der Netzbetreiber die überzähligen Geräte in andere Länder. Erst nach spätestens sechs Monaten, wenn der nächste Modellwechsel ansteht, kann der Netzbetreiber die Altware zu Spottpreisen in den Markt drücken oder die Gerätehersteller zwingen, sie zurückzunehmen. Neues wird dann gegen Altes verrechnet. Das würde Nokia spüren – wenn der Boykott so lange funktioniert.

Am Anfang der Boykott-Historie waren die Schwierigkeiten andere. Irische Farmer taten sich 1880 zusammen und bezahlten dem brutalen Gutsverwalter des Earls von Earn den Pachtzins nicht mehr. Bald wollte keiner mehr für den Schinder arbeiten, ihm nichts mehr liefern, ihm keine Produkte abnehmen. Der gemobbte Bösewicht wanderte schließlich aus. Sein Name steht allezeit für das konsequente Nein der vermeintlich Schwachen gegenüber den wirtschaftlich Starken: Charles Cunningham Boycott.

1955 waren es die Farbigen in Montgomery/Alabama, die einen legendären Boykott begannen. Die Näherin Rosa Parks hatte in einem Bus die damals geltenden amerikanischen Rassentrennungs-Regeln ignoriert und blieb sitzen, wo sie es nicht durfte. Sie wurde verhaftet. Von da an stieg als Protest kein Schwarzer in Montgomery mehr in einen Bus. 381 Tage gingen alle zu Fuß zur Arbeit. Den städtischen Verkehrsbetrieben fehlte plötzlich ein Großteil der Einnahmen. Als der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung in den Bussen von Montgomery aufhob, endete am 20. Dezember 1956 die Protestaktion.

Einen politischen Aspekt haben viele Boykotts, auch wenn sie nicht solche Zivilcourage erfordern. Im Fall Nokia ist es die Frage nach der Subventionsrückzahlung und die Forderung, für höhere Gewinne dürften die 2300 Beschäftigten nicht arbeitslos werden. In diese Diskussion um die Werte der Wirtschaft, die in Deutschland ohnehin hochkocht, tappten die Finnen hinein wie ein Elch in den Porzellanladen.

Innerhalb von zwei Wochen ist der Nokia-Boykott zum Selbstläufer, zum Spaßfaktor, zur Identifikationsaktion geworden: Jeder Zweite will dabei sein: 56 Prozent der Deutschen, ergab eine Umfrage, unterstützen die Bewegung. Geächtet „wie ein Raucher“ fühlt sich Nokia-Telefonierer Christian Stratmann, Chef der Kleinkunstbühne „Mondpalast“ in Wanne-Eickel. Die Finnen-Marke, ermittelte das Kölner Marktforschungsinstitut Psychonomics, stürzte vom Handy-Primus zum Paria ab. Egal, ob die Marktforscher nach Medienresonanz, Qualität, Weiterempfehlungsbereitschaft oder nach der Beliebtheit als Arbeitgeber fragten: Bis zum 14. Januar führte Nokia die Psychonomics-Umfragerankings der Mobiltelefon-Hersteller an – dann stürzte der Konzern ab auf den letzten Platz.

In Bochum sind die Folgen natürlich am deutlichsten spürbar. In der Ruhrgebietsstadt geht die Nokia-Verachtung so weit, dass die Handyläden ihre Schaufenster umdekorieren. Ulrich Schmölker zum Beispiel betreibt einen Vodafone-Laden im Hannibal-Einkaufscenter unweit des Nokia-Werks und sagt: „Bis jetzt war Nokia bei mir das meistverkaufte Handy. Jetzt will kaum noch ein Kunde eines haben.“ Fremde Menschen rufen in den schmalen Laden hinein: „Was, du hast noch Nokias!“ Bevor ihm jemand die Scheibe einschmeißt, kaufte Schmölker vergangenen Samstag lieber bei seinem Distributor Samsung-, Motorola- und Sony-Ericsson-Geräte und tauschte die Nokias im Schaufenster aus.

Die vier Netzbetreiber T-Mobile, Vodafone, E-Plus und O2, die den Großteil aller Handys in Deutschland absetzen, bestätigen, Nokia verkaufe sich in einigen Bochumer Shops schlechter. Messbare Auswirkungen auf den Nokia-Gesamtabsatz hätten die Boykottaufrufe aber bisher nicht. In den Top-10-Bestseller-Listen stehen sowohl bei T-Mobile als auch bei Vodafone fünf Nokia-Geräte auf den vorderen Plätzen. Auch Reinhard Krause, Geschäftsführer Vertrieb beim Filialisten The Phone House, sieht „keinen Anlass zur Sorge“. Noch am Mittwoch ließ sich Krause aktuelle Verkaufsstatistiken vorlegen und hakte bei manchen Shops telefonisch nach.

Kann Nokia die Wut mit netten Worten und Geld eindämmen? Ja, glaubt Stefan Rüssli, Leiter Markenbewertung bei der Beratungsgesellschaft Interbrand: „Nach aller Erfahrung können solche Proteste langfristig starken Marken nicht schaden. Boykotts haben nie nachhaltig gewirkt.“ Psychonomics-Marktforscherin Willmann erwartet, dass sich die Imagewerte von Nokia „in den nächsten Wochen wieder erholen – aber nicht auf das frühere Niveau“.

Katja Wittig von der TU Dresden weiß aufgrund der Electrolux-Erfahrungen, dass die Boykottbereitschaft umso größer ist, je positiver das Image eines Unternehmens zuvor war. Und dass sie stark davon abhängt, „wie die Medien mit dem Thema umgehen“. Die geben dem Thema Nokia breiten Raum. Regionalzeitungen wie die Essener NRZ fragen ihre Leser: „Und Ihre Meinung? Nokia – nein danke?“

Boykotteure, die einen Hersteller suchen, der noch in Deutschland produziert, gehen allerdings enttäuscht aus dem Handy-shop. Die Nokianer sind nach BenQ die Letzten, die hier noch Geräte bauen. Nur eine Alternative bleibt: das auf Seniorenprodukte spezialisierte Mannheimer Unternehmen Fitage. Es stellt in Deutschland ein wuchtiges Seniorenhandy her – passender Name: Katharina das Große.

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