WM-Aus gegen Japan Der Schock sitzt tief

Völlig unerwartet ist die Heim-WM für die DFB-Frauen bereits nach dem Viertelfinale beendet. Das Turnier verliert damit seine größte Attraktion. VON ALEXANDER MÖTHE UND PATRICK KLEINMANN

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Trauer nach dem Aus gegen Japan. Quelle: handelsblatt.com

„Dritte Plätze sind etwas für Männer“: Mit dieser offensiven Werbebotschaft ging die deutsche Frauenfußballnationalmannschaft in die Weltmeisterschaft im eigenen Lande. Der Slogan wurde im Vorfeld, auch aus eigenen Reihen, kritisiert – unter anderem wegen der Erwartungshaltung, die er aufbaut. Implikation: Nur der Titel zählt. Am späten Samstagabend in Wolfsburg wirken diese Worte wie Hohn. Die DFB-Damen sind ausgeschieden, die Spielerinnen kämpfen, meist erfolglos, mit ihrer Fassung. Fußballdeutschland blickt fassungslos in den niedersächsischen Nachthimmel.

Nein, märchenhaft war das wirklich nicht, was sich da 120 Minuten lang auf dem Rasen, der nur Zwischenstation sein sollte, zugetragen hat. Zumindest nicht aus deutscher Sicht. Der 1:0-Sieg Japans gegen den großen Favoriten Deutschland hat für den Weltranglistenvierten aus Fernost tatsächlich surreale Züge. 23 zu 9 Torschüsse stehen nach Spiel für die Gastgeber zu Buche – getroffen aber hatte nur Karina Maruyama.

Das viel-, falsch- und überzitierte „Sommermärchen“ findet damit ein unerwartetes, aber umso brutaleres Ende. Nicht nur Japans Superstar Homare Sawa und Trainer Norio Sasaki sind von dieser Entwicklung „überrascht“ – beide geben nach dem Spiel diesen Gemütszustand als erste Reaktion auf den Siegtreffer an.

Es ist ein Abend, an dem kein Spielraum für unvorhergesehene Ereignisse eingeplant ist. Warum auch, im ersten Viertelfinale scheitert England im Elfmeterschießen, bereits vor dem Spiel ist klar, dass Silvia Neid nicht die Elf aus dem starken Frankreich-Spiel bringen wird und in der Arena befürchtet niemand auch nur eine Verlängerung – geschweige denn eine Niederlage gegen den asiatischen Außenseiter.

Dass etwas nicht stimmt, wird schon nach vier Minuten klar. Kim Kulig hat die erste gute Chance des Spiels – und scheidet verletzt aus. Kreuzbandriss, nach einem Kopfball. Kein gutes Omen. Trainerin Neid bringt Bianca Schmidt. „Das war ein echter Schock für uns“, erklärt die Bundestrainerin später. Die plante fest mit Kulig, die im letzten Gruppenspiel wegen drohender Gelbsperre nicht zum Einsatz kam: „Sie ist eine Spielerin, die sehr leicht den Ball erobert und den tollen Pass in die Tiefe spielt. Geholfen ins Spiel zu kommen hat uns ihr Ausfall sicher nicht.“

Neid „von einigen enttäuscht“

Prolog für das Undenkbare. Bis weit in die Verlängerung hinein ist für jeden im Stadion glasklar, dass Deutschland das entscheidende Tor machen wird. Die Titelfeier in Frankfurt ist bereits geplant. Eins müssen sich die DFB-Damen zumindest nicht vorwerfen lassen – dass  sie es nicht probiert hätten.

Silvia Neid ist nach dem Spiel gefasst und trägt, das ist erstaunlich, die gleiche angespannte gute Laune mit sich herum, die sie schon über das gesamte Turnier pflegt. Vorwürfe an sich selbst? „Ich mache mir jetzt eigentlich gar keine Vorwürfe, ich bin einfach nur traurig, dass wir ausgeschieden sind“, erklärt sie. Als die Frage noch einmal schärfer formuliert wird, wird sie allerdings bissig: „Welche Vorwürfe mache ich mir persönlich? Dass ich den Ball nicht selbst in den 16er getragen habe? Ihnen nicht gesagt hätte, macht das Ding rein? Wenn ich etwas finde, lasse ich sie daran teilhaben.“ Die Ansage in Richtung ihrer Spielerinnen ist klar und deutlich. Dazu passt, was Neid direkt nach Abpfiff während der tröstenden Umarmung zu DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger sagte, sie sei „von einigen enttäuscht.“

Einige, die in der Tat mit erschreckend stumpfen Waffen gekämpft haben. Inka Grings als einzige Spitze hing über weite Strecken in der Luft – leider nicht buchstäblich, verwertbare Flanken waren Mangelware. Gegen die körperlich deutlich kleinere Asiatinnen ein Indikator, dass etwas ganz und gar nicht funktioniert. Die Flanken, die dann doch ihren Weg durch die disziplinierte japanische Abwehr  fanden, wurden entweder von Keeperin Kaihori – 1,70 Meter hoch – aus der Luft gepflückt oder direkt von einer Deutschen über das Tor bugsiert.

Japan, immerhin Weltranglistenvierter, gefällt sich in der Rolle des Außenseiters und bringt über die gesamte Spielzeit nach vorne kaum etwas Konstruktives zustande. Dafür ist es in der japanischen Hälfte meist wie mit dem Hasen und dem Igel: Eine der Damen aus Fernost ist immer schon da. Die DFB-Elf bekommt keine Räume und scheitert wieder und wieder daran, welche zu schaffen. „Man kann nicht sagen, dass sie verdient gewonnen hätten“, grollt Silvia Neid im Anschluss zuckersüß. Das ist nur die halbe Wahrheit.

„Wir hatten in der Vorbereitung gegen physisch starke Teams wie die USA, Norwegen und Finnland die Möglichkeit, zu üben, wie man sich bei hohen Bällen verhält“, erklärt Japans Trainer Sasaki nach dem Spiel mit einem Hauch Mystik. Denn wie genau seine Schützlinge es angestellt haben, die Deutschen im Luftraum so geschmeidig wie eine Junckers Ju aussehen zu lassen, bleibt rätselhaft. Fakt ist, dass Japan eine Mischung aus taktischer Ordnung, deutschem Unvermögen und Glück überhaupt erst in die Verlängerung gebracht hat. Prädikat: unermüdlich kämpfend. So haben schon andere Teams Titel errungen.

Kreative Impulse fehlen auf beiden Seiten. Offensiv geht beiden Teams nichts zusammen, Deutschland fehlt in der Zentrale der Antreiber neben Simone Laudehr. Linda Bresonik ersetzt dort Kim Kulig, die Außenverteidigerin macht aber nur in der Rückwärtsbewegung einen tadellosen Job. Umso erstaunlicher, dass sie in der zweiten Hälfte frühzeitig die Segel streichen muss – Lena Goeßling nimmt ihren Platz ein. Alexandra Popp  kommt gar erst mitten in der Verlängerung.

Jähes Karriereende für Prinz

Hätte sie früher wechseln müssen? „Es ging ja immerhin in die Verlängerung und ich konnte nur noch einmal wechseln. Ich glaube aber nicht, dass es daran gelegen hat. Alex Popp hat nach ihrer Einwechslung  ja auch nicht besser als die anderen gespielt. Da hatte ich mir mehr Belebung erhofft“, bekennt Neid. Dass sie sich dazu hinreißen lässt, einzelne Spieler öffentlich zu kritisieren verdeutlicht, wie es in der Bundestrainerin in diesen Stunden aussehen muss.

Kritische Nachfragen wird sie sich aber noch öfter anhören müssen. Denn gerade der zweite Wechsel im defensiven Mittelfeld sorgt angesichts des Totalausfalls in der Abteilung Attacke für Stirnrunzeln. Spätestens im zweiten Durchgang ist klar, dass Melanie Behringer nach ihrer Bänderverletzung nicht wieder in Tritt ist. Ihre sonst brandgefährlichen Standards und Fernschüsse verpuffen fast vollständig.

Das Warten auf eine kreative Spielerin, die den Ball auch flach an den Strafraum bringt, das Warten auf Fatmire Bajramaj ist greifbar. Und auch die Bühne für eine große Heldengeschichte wäre bereitet: Brigit Prinz kommt und schießt Deutschland höchstpersönlich ins Halbfinale. Und, das nicht nur am Rande, zu den olympischen Sommerspielen in London im kommenden Jahr.

Diese werden nun ohne deutsche Beteiligung stattfinden. Neben Gastgeber England, der ohnehin qualifiziert ist, nehmen nur die zwei bestplatzierten europäischen Mannschaften der WM bei dem Turnier 2012 in London teil. Durch den Sieg der Schwedinnen im Viertelfinale gegen Australien ist nun auch das letzte europäische Olympia-Ticket vergeben. Frankreich hatte sich mit seinem Halbfinaleinzug gegen England bereits den ersten der beiden Startplätze gesichert.

Birgit Prinz ist an diesem Abend die erste deutsche Spielerin, die nach dem Spiel aus Richtung der Kabinen in die Mixed Zone kommt. Sie wirkt frustriert, drückt das auch deutlich, fast patzig, aus. Ob es das Ausscheiden oder die nicht erfolgte Einwechslung ist? „Eine Mixtur.“ Deutschlands Rekordnationalspielerin verabschiedet sich ohne weiteren Einsatz von der Länderspielbühne, ein mögliches Abschiedsspiel könne sich momentan nicht vorstellen. Und jetzt? „Das Leben geht weiter. Irgendwie.“

Silvia Neids Ausführungen in der Personalie Prinz bleiben dagegen blass:  „Es tut mir sehr leid für sie. Ich hätte mir gewünscht, dass wir noch zwei Spiele mehr gehabt hätten. Aber so ist es nun einmal. Geht ja auch Ariane Hingst so. Man kann es nicht ändern.“ Ehrliche Anteilnahme hört sich anders an, die Beziehung der langjährigen Weggefährten hat deutliche Sprünge bekommen, das können beide nicht überspielen – falls sie das überhaupt wollen.

Neid bleibt Bundestrainerin

Weitermachen darf die Bundestrainerin auf jeden Fall. Ihre Gespräche mit Theo Zwanziger auf dem Feld stärken ihr umgehend den Rücken: „Er hat gesagt, man darf jetzt ein paar Tage traurig sein, aber dann muss es weiter gehen. Es war ein sehr, sehr positives Gespräch.“ Zwanziger selbst lässt überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Vertragsverlängerung mit Neid unabhängig vom WM-Abschneiden zustande kam: „Da stehe ich zu. Silvia ist das Beste, was wir haben können.“

Dennoch wird Neid ihren Kader und ihre Ausrichtung überdenken müssen. Das Aus ist fast logische Konsequenz aus mehreren durchwachsenen Auftritten, Spiele gegen Nigeria, Kanada und Japan, in denen der Versuch, die eigene spielerische Linie zu diktieren absolut nicht fruchtete. Das Gemisch aus Routiniers und Nachwuchskräften erwies sich rund um den Fall Prinz als explosiv – nur leider nicht auf dem Platz. Es gibt eine Menge Rede- und Aufarbeitungsbedarf.

Die Option, dass das frühe Aus zum Teil auch an der von den Medien und den Fans geschürten Erwartungshaltung liegt, mag keiner so recht als Entschuldigung benutzen. „Wenn man das nicht gewohnt ist, kann Druck auch Belastungen und Hemmungen mit sich bringen“, überlegt Zwanziger vorsichtig, „das sei aber schwer zu analysieren.“ Shooting Star Célia Okoyino da Mbabi, gegen Japan eine der schwächeren Deutschen, widerspricht: „Im vierten Spiel muss man damit klarkommen.“

Das mit dem Klarkommen gilt jetzt auch für Fußball-Deutschland. Mit dem Ende der deutschen Titelhoffnungen droht der auch WM-Euphorie ein jäher Abbruch. Das Undenkbare trifft auch die Veranstalter, die Stadienbetreiber, den DFB und die Fifa hart. Die Halbfinals in Mönchengladbach und Frankfurt ohne deutsche Beteiligung werden zu einem kleinen Lackmus-Test, ob Frauenfußball  in Deutschland angekommen ist, oder ob die meisten nur gerne zuschauen wollten, wie die DFB-Frauen Weltmeister werden. Die deutschen Medien haben schon einen Großteil ihrer Reporter abgezogen.

Dass die Asiatinnen nicht als Kanonenfutter angereist sind, beweist nicht nur der Weltranglistenplatz vier. Allerdings nimmt Japan die Rolle des Underdogs dankbar und mit beiden Händen an. Vielleicht jubeln die Deutschen ja jetzt auch für Japan. Denn das Fazit von Trainer Sasaki stimmt auffällig: „Sie sind kleine Mädchen, aber sie haben Großes erreicht.“

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