Ostsee-Pipeline Das Milliardenprojekt droht zu scheitern

In wenigen Wochen läuft die Maschinerie an für den Bau der Nord-Stream-Pipeline durch die Ostsee. Sie soll Deutschlands Erdgashunger stillen. Doch die Kosten sind außer Kontrolle, der politische Widerstand entlang der Route wächst. Scheitert das Milliardenprojekt?

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Mit 1200 Kilometern eine der Quelle: REUTERS

Der Tauchroboter an Deck der Pollux hat es den blau und khakifarben Uniformierten sichtlich angetan. Mal aus diesem, mal aus jenem Winkel fotografieren sie den Kasten von der Größe eines Smart, der vor Greifarmen, Messgeräten und Antriebspropellern strotzt. Schiffsbegehung im Hafen von Helsinki: Die Pipelinegesellschaft Nord Stream führt der finnischen Marine und Küstenwache das High-Tech-Arsenal vor, mit dem sie den Meeresgrund vor ihrer Küste untersucht. „Die Finnen wollten sehen, mit welcher Technik wir hier arbeiten“, sagt Erik Lindström, Untersuchungsleiter an Bord des Forschungsschiffs, als die Uniformträger von Bord sind, „und wahrscheinlich auch, wo genau wir untersuchen.“

Auf die Gunst der Finnen ist Nord Stream, das Joint Venture der Energiekonzerne Gazprom aus Russland, E.On Ruhrgas und Wintershall aus Deutschland, dringend angewiesen. Durch finnische Gewässer möchte das Konsortium seine Erdgas-Pipeline von Russland nach Deutschland verlegen. Für das Milliardenprojekt, das die Erdgas-Sicherheit hierzulande gewährleisten soll, hat sich das Joint Venture prominente Unterstützung gesichert – etwa von Altkanzler Gerhard Schröder. Der Erfolg steht dennoch in den Sternen.

Im Sommer 2009 wollen die Pipelinebauer damit beginnen, Röhren zu versenken. Doch das Misstrauen ist groß. Die Trassenarbeiten, fürchten die Regierungen der Ostsee-Anrainerstaaten, könnten giftige Sedimente aufwirbeln, die sich über Jahrzehnte auf dem Meeresboden abgelagert haben. Sie könnten brüchige Giftgasgranaten beschädigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Zehntausenden Tonnen in der Ostsee verklappt wurden. Und sie könnten alte Seeminen hochgehen lassen, die immer noch auf dem Meeresgrund lauern.

Für Nord-Stream-Geschäftsführer Matthias Warnig gibt es kein Zurück. In den kommenden Wochen wird er die gigantische Maschinerie zum Bau der Pipeline in Gang setzen. Was derzeit Gestalt in Warnigs Hauptquartier im schweizerischen Zug annimmt und bald auch in deutschen, österreichischen und russischen Stahlwerken, in internationalen Anwaltskanzleien und Ingenieurbüros, auf Ostsee-Forschungsschiffen, im Hafen von Mukran auf Rügen und auf den Schienen der Deutschen Bahn – das ist Europas größtes Energievorhaben der Gegenwart.

Mehr als eine Million Tonnen Stahl, verlegt von einem Koloss der Meere, mindestens fünf Milliarden Euro Investitionsvolumen auf 1200 Kilometern Länge zwischen dem russischen Wyborg und Lubmin in Vorpommern, angeschlossen an den voraussichtlich größten Erdgasspeicher Westeuropas: Die Nord-Stream-Leitung wird eine der teuersten und längsten Offshore-Pipelines der Welt. Und sie wird gebraucht. Nach Schätzungen der Unternehmensberatung A.T. Kearney schwillt der Gas-Importbedarf Europas von heute 270 Milliarden Kubikmetern jährlich auf 510 Milliarden Kubikmeter an. Ab 2011 soll Nord Stream deshalb pro Jahr 27 Milliarden Kubikmeter nach Deutschland leiten. Später, wenn der zweite Strang fertig ist, noch einmal so viel.

Wenn das Projekt denn Wirklichkeit wird. „Die politischen Widerstände der Ostsee-Anrainer sind das Risiko Nummer eins“, sagt Kurt Oswald, Energieexperte bei A.T. Kearney. Die Ängste reichen weit: Schweden und Esten sorgen sich nicht nur vor Umweltschäden, sondern auch vor russischem Militär und Spionen, denen die Leitung als Vorwand dienen könnte, vor ihren Küsten zu schnüffeln.

Die größten Bedenken hegen die Polen: Bisher strömt russisches Gas für Westeuropa durch eine Pipeline auf polnischem Boden. Die Nord-Stream-Leitung aber soll an Polen vorbeiführen. Warschau befürchtet nun, dass es für Russland leicht sein werde, Polen bei politischen Streitigkeiten den Gashahn zuzudrehen und das Land zu erpressen. Weil sich die Genehmigungsverfahren bei den Ostsee-Anrainern noch Jahre hinziehen können, ist das Kostenrisiko des Bauvorhabens kaum zu überschauen. Dass Nord Stream die Unterstützung Deutschlands und Russlands hat, hilft dem von Ex-Kanzler Gerhard Schröder beaufsichtigten Unternehmen wenig. Denn der Widerstand unverzichtbarer Kooperationspartner wächst: Im Februar wies Schweden Nord Streams ersten Bauantrag für jene 500 Kilometer zurück, auf denen die Gasleitung durch die schwedische See-Wirtschaftszone führen soll.

Schwedens Umweltminister Andreas Carlgren verlangte von den Pipeline-Planern unter anderem, eine Alternativroute über Land zu prüfen. Damit spielt der Schwede Polen und den baltischen Staaten in die Hände, die statt der Seeroute eine Landleitung über ihre Territorien fordern und sich dafür bereits den Namen Bernstein-Pipeline ausgedacht haben.

Doch eine Landtrasse zieht das Konsortium nicht einmal in Erwägung – dem halbstaatlichen russischen Mehrheitsaktionär Gazprom geht es gerade darum, Gebühren kassierende Transitländer wie Polen zu umgehen. Unter den Gesellschaftern wächst der Frust: Wintershall-Chef Reinier Zwitserloot und der ehemalige Vorstandschef von E.On Ruhrgas, Burckhard Bergmann, fordern im Konflikt mit den kritischen Anrainern mehr Unterstützung der Europäischen Union.

Schwedens brüske Abfuhr könnte Nord Stream nicht ungünstiger treffen: Jede Verzögerung bedroht das Unternehmen mit immer höheren Kosten, die ohnehin schon außer Kontrolle geraten sind: Anstatt der anfangs für den ersten Leitungsstrang veranschlagten 4,5 Milliarden Euro hält Gazprom inzwischen sechs Milliarden Euro für möglich. Russischen Presseberichten zufolge hat Ex-Kanzler Schröder als Vorsitzender des Nord-Stream-Aktionärsausschusses sogar die Summe von acht Milliarden Euro ins Spiel gebracht.

Größter Kostenfaktor ist der Stahl für die Pipeline-Röhren. Seit der Gründung von Nord Stream vor gut zwei Jahren sind die Stahlpreise um mindestens 35 Prozent gestiegen. Walzstahlprodukte waren im Januar 2006 auf dem Weltmarkt noch für 544 Dollar pro Tonne zu haben; im Februar 2008 schlug die Tonne schon mit 833 Dollar zu Buche. Auch das zur Stahlherstellung nötige Eisenerz wird teurer: Ermutigt vor allem von der Stahlnachfrage aus China und Indien, erhöhten die Erzproduzenten ihre Preise im Februar um stolze 65 Prozent. Und das, prognostizieren Rohstoffexperten, sei noch nicht das Ende.

All das scheint Matthias Warnig, den stämmigen Nord-Stream-Geschäftsführer nicht zu berühren. Er gibt sich gelassen. Nervöse Betriebsamkeit umbrandet ihn, die Belegschaft wächst, in Nord Streams Büroräumen wird es eng. Warnig spricht ruhig, wählt seine Worte mit Bedacht: „Ich sehe nicht, dass bei den Gesellschaftern eine Kosten-Schmerzgrenze erreicht wird“, sagt er.

Schon in seinem früheren Leben, als Russland-Chef der Investmentbank Dresdner Kleinwort, pflegte er enge Kontakte zu Gazprom. Warnig kennt den langen Atem der Russen. 30 Prozent der Gesamtkosten, so der Plan, sollen die Aktionäre schultern, 70 Prozent will sich Nord Stream bei Banken borgen. Warnig wird nicht lange bitten müssen: Energievorhaben des weltgrößten Gasproduzenten Gazprom haben die Kreditgeber bisher noch immer in Verzückung versetzt. Doch die Eskalationsbereitschaft der Ostsee-Anrainer und die endgültigen Kosten können die Banken nicht abschätzen.

Auch für Nord Streams wichtigsten Lieferanten, den Röhrenhersteller Europipe in Mülheim an der Ruhr birgt der Megaauftrag Risiken: 990 Kilometer Röhre sind zum Festpreis bestellt. Aber das Joint Ven-ture der Stahlproduzenten Dillinger Hüttenwerke und Salzgitter Mannesmann muss den Stahl immer teurer einkaufen: „Ein solch volatiler Stahlmarkt ist Neuland für alle Beteiligten“, sagt Axel Ester, Europipe-Verkaufsleiter für Europa, Russland und den kaspischen Raum. In den vergangenen Jahrzehnten stagnierten die Preise meist, manchmal sanken sie sogar.

Zu Europipes Rechnungssumme für Nord Stream – über eine Milliarde Euro für 75 Prozent der Röhren des ersten Strangs – kommen die 250 Millionen Euro für die 25 Prozent, die der russische Stahlkonzern OMK liefert. Dann Kosten für den Bahntransport der Röhren an die Ostsee, die Betonummantelung auf Rügen und in Finnland, die Kosten für die Trassenvorbereitung auf dem Meeresgrund, für den Umbau von Fischtrawlern zu Positionierungsschiffen, für den Seetransport der Röhren.

Und schließlich für das Versenken im Meer. Mit einem der größten Unternehmen dieser Spezialistenzunft, der italienischen Saipem, hat Nord Stream bereits eine Absichtserklärung unterschrieben: Nächstes Jahr soll einer der schwimmenden, bis zu 87 Meter breiten Leviathane aus Saipems Flotte von Verlegeschiffen die Ostsee durchmessen – einen Pipeline-Strang hinter sich ausscheidend wie eine Spinne ihren Faden (siehe Grafik Seite 45). Saipem hat bereits Mittelmeer-Pipelines von Nordafrika nach Italien verlegt. Und die teils über 2000 Meter tiefe, von Saipem für Gazprom installierte Leitung Blue Stream im Schwarzen Meer gilt als technisch schwierigste der Welt.

Doch bevor die Arbeiten in der Ostsee beginnen, müssen die schweren Hydraulikpressen im Salzgitter-Werk in Mülheim ihre Arbeit verrichten: Vom kommenden Monat an werden sie die zwölf Meter langen, bis zu dreieinhalb Zentimeter dicken Grobbleche aus der Dillinger Hütte zunächst in U-Form, dann mit bis zu 60.000 Tonnen Druck in O-Form pressen. „Da wirken Urgewalten“, sagt Ester, „und zugleich ist es absolute Präzisionsarbeit.“ Noch im Werk wird jede Röhre unter anderem mit Röntgentechnik und Ultraschall untersucht. Denn peinlich wäre es, wenn die Mannschaft des Verlegeschiffs beim Zusammenschweißen der Röhren feststellten müsste, dass zwei Enden nicht zusammenpassen.

Insgesamt 860.000 Tonnen Röhren will Europipe, verteilt über zwei Jahre, ausstoßen. Nicht minder gigantisch ist der logistische Aufwand, der folgt: Vorsichtig werden Saugnapf-Kräne die mit Kunststoff ummantelten, elf Tonnen schweren Ungetüme auf Güterwagen der Deutsche-Bahn-Tochter Railion heben.

15 Züge mit bis zu 30 Waggons sollen pro Woche voll beladen nach Rügen rollen und leer wieder zurückkehren, um neue Fracht aufzunehmen. Die Sonderfahrten an die Ostsee muss die Bahn zwei Jahre lang in ihren regulären Verkehr eintakten. Mit einem Volumen von 20 Millionen Euro sind sie einer der größten Frachtaufträge ihrer Geschichte. Am Ziel, im Fährhafen Mukran auf Rügen, errichtet gerade der Pipeline-Logistik-Dienstleister Eupec eine Fabrik zur Ummantelung der Röhren.

Ab Januar 2009 will das französische Unternehmen die Stahlrohre in zwei Hallen von 150 Mitarbeitern mit einer 6 bis 15 Zentimeter dicken Ballastschicht aus Beton umkleiden lassen. Sie soll verhindern, dass der Auftrieb des Gases die Pipeline vom Meeresgrund hebt. Für den Auftrag auf Rügen und eine zweite Fabrik im finnischen Kotka wird die ehemalige Europipe-Tochter 650 Millionen Euro kassieren.

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