Medikamente Prellböcke gegen die Preispolitik der Pharmariesen

Ein kleines Institut in Köln entscheidet, ob Medikamente ihren Preis wert sind – und steht deshalb unter dem heftigen Beschuss der Pharmabranche.

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Das Haus mit der roten Klinkerfassade thront auf dem 107 Meter hohen Seidenberg, auf dem schon in der Frühzeit Menschen siedelten. In dem modernen Gebäude lockern nur ein paar bunte Bilder an den Wänden die weiße Sterilität auf. Hier, im Gebäude mit der Hausnummer 3a in Siegburg nahe Bonn, residiert der oberste Hüter über alle Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen, der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). Regelmäßig streiten sich in den Konferenzräumen die 21 Vertreter der Ärzte, der Krankenhäuser, der nicht stimmberechtigten Patientenvertreter mit den Krankenkassen, welche Medikamente und Behandlungsmethoden die Deutschen auf Kassenrezept bekommen. Die wissenschaftliche Basis für die Entscheidungen des GBA liefert Peter Sawicki, der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) aus dem nur wenige Kilometer entfernten Köln-Kalk. Der grau gelockte Mediziner hat es geschafft, binnen Kurzem zum wohl meistgehassten Mann der Pharmaindustrie aufzusteigen. Das lässt den 50-jährigen Diabetologen kalt, er verfolgt eine heikle Mission: Mit seinen 70 Mitarbeitern stellt er die Medizin in Deutschland auf den Prüfstand. In die Schusslinie der Pharmaunternehmen geriet Sawicki schon bald nach der Gründung des Instituts 2004, als er mit Blick auf die Gesundheitsreform einen Richtungswechsel in der deutschen Gesundheitspolitik forderte. „Die Pharmaindustrie muss sich daran gewöhnen,dass sie nicht mehr die Deutungshoheit bei der Bewertung von Arzneimitteln hat“, sagt Sawicki, der zuvor zehn Jahre lang Mitherausgeber des pharmakritischen „Arznei-Telegramms“ und zudem Leiter der Inneren Medizin am Kölner St.-Franziskus-Hospital war. Für die Pharmaunternehmen waren das ungewohnte Töne. Nie zuvor war in Deutschland untersucht worden, ob teure Medikamente oder neue Behandlungsmethoden einen nachweisbaren Nutzen haben. Diese Aufgabe hat das Kölner Institut übernommen, das von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird. Die Pillenkontrolleure prüfen, ob neue Medikamente im Vergleich zu bereits vorhandenen Arzneien einen Zusatznutzen bieten. Im Kern geht es um die Frage: Sind teure Arzneimittel wirkliche Neuheiten oder nur Scheininnovationen? „Nur maximal ein Drittel der weltweit neu zugelassenen Medikamente sind echte Neuerungen“, behauptet Sawicki. Schon bald soll das IQWiG noch mehr Macht und Verantwortung bekommen: Vom 1. April an wird das Institut auch Kosten-Nutzen-Untersuchungen anstellen – bisher untersuchten die Kölner nur, ob Medikamente oder eine Behandlung tatsächlich einen messbaren Zusatznutzen haben. Künftig sollen auch die Kosten bewertet werden: Was kostet das zusätzliche Lebensjahr eines Krebspatienten? Und: Wie viel Geld ist den Krankenkassen der medizinische Fortschritt wert?

Eine Revolution in der Medizinkultur könnte am Ende der Entwicklung stehen. Nötig ist sie allemal. Denn die Gesundheitsausgaben steigen ständig, alleine für Arzneimittel gaben die Kassen vergangenes Jahr rund 25,4 Milliarden Euro aus. „Es kann nicht mehr alles bezahlt werden, was irgendwie wirksam ist“, sagt Sawicki. Dafür seien viele Medikamente heute einfach zu teuer. „Das Budget ist begrenzt. Wir müssen mit unseren Ressourcen so umgehen, dass wir damit möglichst viele Menschen retten können.“ Sawicki nennt das „Rationalisieren statt rationieren“. Von Anfang an gab es Ärger um die wissenschaftliche Methode, mit der dieser Nutzen gemessen wird. Sawickis Institut hat sich nach internationalem Vorbild der sogenannten evidenzbasierten Medizin verpflichtet (EbM). Diese versucht, aus dem Wust an Daten und internationalen Studien die Perlen herauszufischen. Zu den Perlen zählen wissenschaftlich hochwertige Untersuchungen, die klären: Übersteigt der Nutzen eines Medikaments oder einer Therapie tatsächlich die möglichen Nebenwirkungen? Für eine solche Studie teilen Ärzte Patienten nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die eine Gruppe erhält den Wirkstoff, die andere ein Placebo. Weder Arzt noch Patient wissen, welche Gruppe die Wirksubstanz erhält. Diese sogenannten randomisierten Studien stellen den Goldstandard der Medizin dar. „Ist der Vorteil von Insulinanaloga“ – das sind im Labor hergestellte Insuline, die den Blutzucker des Menschen regulieren – „wirklich bewiesen?“ Diese schlichte Frage brachte Sawicki vor einem Jahr den ersten richtigen Ärger. Anlass war die Veröffentlichung des Abschlussberichts „Kurzwirksame Insulinanaloga zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2“. Was wissenschaftlich trocken daherkam, versetzte Pharmamanager in Alarm. Denn laut Sawicki bieten die untersuchten Analoginsuline, die heute allein in Deutschland 40.000 Diabetespatienten spritzen, im Vergleich zu herkömmlichen Humaninsulinen trotz 30 Prozent höherer Kosten keinerlei erkennbaren Zusatznutzen. Externe Gutachter, meist Diabetologen, hatten dafür weltweit über 1000 medizinische Studien gesichtet – und alle Studien aussortiert, die nicht den Regeln der evidenzbasierten Medizin entsprachen. Disqualifiziert wurden auch Untersuchungen, deren Finanzierung unklar war. Zudem lud Sawicki Industrievertreter, Patientenorganisationen und Fachgesellschaften zu Fachgesprächen ins Institut. Er hörte sich an, was sie über die Medikamente sagten. Doch so sehr auch die Pharmavertreter die Vorteile der Medikamente priesen – am Ende stand stets die Frage: „Wo ist die klinische Studie, die das belegt?“ Für die Pharmaindustrie kam das IQWiG-Fazit einer Ohrfeige gleich. Denn die Analoginsuline sind seit rund zehn Jahren auf dem Markt. Zeit genug also, wissenschaftlich nachzuweisen, dass sie besser sind als die billigeren Humaninsuline. Doch in keinem der wichtigen Zielkriterien fanden die Kölner Kontrolleure einen Beleg für einen Patientennutzen. Weder ging die „Krankheitshäufigkeit“ noch die „Sterblichkeit“ oder die „Rate der schwerwiegenden Unterzuckerungen“ zurück, noch stieg nachweisbar die „Lebensqualität“ oder die „Therapiezufriedenheit“.

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