Zivilschutz „Beim Lichtblitz einer Kernexplosion Gesicht abwenden“

Innenminister De Maizière rät in einem Zivilschutzgesetz auch zu Hamsterkäufen. Eine Idee, die schon seine Vorgänger priesen. Eine Broschüre aus den 1960er-Jahren informiert mit teils absurden Tipps über den Zivilschutz.

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Die Zivilschutzfibel aus dem Jahr 1964 enthält wichtige Informationen – für jeden Bürger zum Lesen, zum Aufbewahren und notfalls zur Anwendung.

Köln Es sind nicht die großen Dinge, die mir von meiner Oma, die vor ein paar Jahren gestorben ist und beinahe 90 Jahre alt wurde, geblieben sind. Ein altes Bauernhaus, das sie zusammen mit ihrem Mann aufgebaut hatte, haben meine Eltern verkauft. Ein bisschen Land drum herum und ein paar Hektar Wald teile ich mir mit meinem Bruder.

Was mir allerdings viel mehr bedeutet als die ungenutzten Wiesen- und Ackerflächen in Mittelhessen sind die kleinen Habseligkeiten, die ich gerade noch so vor dem Müllcontainer retten konnte. Alte Schulbücher, historische Postkarten, Hausaufgabenhefte aus Papas erstem Schuljahr, Zeitungen aus längst vergangenen Tagen und Gebetsbücher für Soldaten an der Front. Heute behüte ich die wenigen Kisten, in denen ich diese Dinge aufbewahre, wie einen Schatz.

Eine ganz besondere Papier-Zeitreise kam mir gerade wieder in den Sinn, als das neue Zivilschutzkonzept des Bundes für ordentlich Wirbel sorgte: „Bürger sollen sich einen Vorrat an Lebensmitteln anlegen.” Tagelang überschlug sich das Internet vor Spott und Häme über die sogenannte „Hamsterkaufliste“ von Innenminister Thomas de Maizière. War da nicht noch in einer meiner Schatzkisten im Keller so ein altes Heftchen für den Krisenfall? Tatsächlich, nach ein paar Minuten Herumkramen hielt ich sie in der Hand, die kleine Bonner Zivilschutzfibel aus dem Jahr 1964.

Ein reich bebildertes Kleinod mit teilweise absurden Ratschlägen – damals als Postwurfsendung des Bundesinnenministeriums an alle Haushalte verschickt. Was der zuständige Minister Hermann Höcherl (CSU) in seinem Vorwort schrieb, könnte leider auch heute noch kaum aktueller sein: „Täglich lesen oder hören wir von Unglücksfällen. Sie bedrohen uns im Haus und auf der Straße. Nicht einmal im Urlaub sind wir vor Ihnen sicher. Und immer wieder werden die Menschen von Naturkatastrophen bedroht. Es vergeht keine Woche, in der nicht irgendwo auf der Welt Männer, Frauen und Kinder die Hilfe ihrer Mitmenschen brauchen.”

Herbst 1964 also. In dieser Zeit hatte die Kuba-Krise (1962) die Stimmung zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion auf den Nullpunkt gebracht. Es herrschte Kalter Krieg und mit ihm, trotz intensiver Abrüstungsverhandlungen, die Angst vor einem Atomkrieg. Auch der Vietnamkrieg (1955-1975) war damals noch nicht beendet. Zeitweise schien ein dritter Weltkrieg wahrscheinlicher als dessen Vermeidung.


Schützen Sie sich vor Gewittern mit Blitzableitern

Die kleine Fibel ist auch deswegen so besonders, weil der Bundesrepublik lange Zeit aufgrund besatzungsrechtlicher Einschränkungen nach Ende des zweiten Weltkriegs Initiativen zum Luft- oder Zivilschutz vorläufig untersagt waren. Erst 1953, so informiert das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auf seiner Website, wurde nach der Lockerung des alliierten Verbotes die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) und die Bundesanstalt für zivilen Luftschutz (BzL) eingerichtet.

Als die Bundesrepublik zwei Jahre später der Nato und der Westeuropäischen Union beitrat, konnte der Schutz der Bevölkerung nun gemäß den Nato-Empfehlungen aufgebaut werden. Dieser sah unter anderem die Aufklärung der Bevölkerung über die Gefahren von Luftangriffen und die Intensivierung der Selbstschutzvorbereitung der Bevölkerung vor – auch über die kleine Zivilschutzfibel. Irritierenderweise sorgt sich Innenminister Höcherl auf den ersten Seiten zunächst einmal um den Schutz vor Gewittern und rät Hausbesitzern dazu, einen Blitzableiter auf das Dach ihres Hauses zu setzen. „Sicher ist sicher”, so Höcherl und: „Man muss eben vorsorgen für jede Katastrophe. Man muss wissen, was zu tun ist.”

Danach geht es aber dann doch relativ unvermittelt zur Sache – mit den schaurig formulierten Themen Spreng- und Brandbomben sowie einem atomaren Vernichtungsschlag gegen die Bevölkerung. Vermutlich um den Vorwurf der Panikmache zu entkräften, erklärte man den Atomkrieg für „wenig wahrscheinlich.” Denn: „Jeder Angreifer könnte das angegriffene Gebiet nicht betreten; alle Menschen wären tot, alle Industriebetriebe – auch solche, die ihm nützen könnten – wären zerstört.” Dabei hatten Ost und West damals schon den Finger am Knopf zur Freigabe ihrer mit atomaren Sprengköpfen bestückten Raketen.

Auch über kleine Kästchen am Seitenrand wird immer wieder auf die Unwahrscheinlichkeit eines Atomkrieges hingewiesen. So heißt es unter der Überschrift „Der kleine Trost” auf Seite sieben: „Nicht nur wir, Millionen Menschen in fast allen Ländern der Erde müssen mit diesen Gefahren rechnen. Wenn alles kaputt ist, gibt es nichts zu erobern. Wer weiß, vielleicht sichert uns diese Überlegung den Frieden. Aber niemandem bleibt es erspart, ob Amerikanern oder Russen, Schweizern oder Schweden, auch uns nicht, den Gefahren ins Auge zu sehen und Vorsorge zu treffen.”

Bevor es zur Hamsterkaufliste und zur Anleitung für einen Bunkerbau in den eigenen vier Wänden geht, erhalten die Bürger anschließend noch einen ordentlich populistischen Überblick („heimtückisch”, „pulverisierend”, „entsetzlich”) zu Pistolen und Revolvern, Panzern und Kanonen sowie ABC-Waffen. „Kommen Sie mit. Sie werden erschüttert sein, wenn wir uns jetzt die große Waffenkammer ansehen.”

Dabei fallen auch einige krasse Formulierungen, die heutzutage in einer Broschüre der Regierung undenkbar wären. Etwa dort, wo es um chemische Kampfstoffe geht: „Der Gaskrieg, der im Ersten Weltkrieg Tausende von Menschen zu Krüppeln machte…(...).” Um diese verbalen Fehlgriffe mit den Worten des Innenministers zu kommentieren: „Man könnte verzweifeln nach diesem Gang durch die Waffenkammer des 20. Jahrhunderts. Aber man muss sie kennen.”


Wenn das Feinkostgeschäft zu hat...

Etwas skurril mutet denn auch der Teil zur „Hamsterkaufliste“ anno 1964 an. „Vielleicht haben Sie schon einmal vor den geschlossenen Eisengittern eines Delikatesswaren-Geschäftes gestanden und erst dann gemerkt: Richtig, heute ist ja Sonnabend-Nachmittag. Und mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.“ Wer denkt heutzutage im Katastrophenfall wohl an Feinkost?

Anders der Innenminister 1964: „Wenn Sie daran denken, dass im Ernstfall kein Feinkostgeschäft mehr geöffnet sein wird und Sie auch gar nicht mehr dazu kommen werden, die Einkaufstasche vollzupacken, dann erscheint dieser Lebensmittelvorrat noch in einem ganz anderen Licht. Glücklich, wer dann eine eiserne Reserve hat, mit der jedes Familienmitglied für die nächsten zwei Wochen auskommt!“

Auf der Liste:

  • Fleisch- und Wurstkonserven, Dauerwurst, geräucherter Speck und Fischkonserven
  • Reis, Teigwaren, Haferflocken, Hülsenfrüchte und Knäckebrot
  • Zwieback, Hartkeks und Dosenbrot
  • Schmalz, Plattenfett, Speiseöl
  • Zucker, Honig, Marmelade
  • Kondensmilch, Milchpulver
  • Gemüse- und Obstkonserven, Trockenobst
  • Tomatenmark, Kaffee-Extraktpulver in Dosen,
  • Tee, Kakao, Schokolade und Fruchtbonbons
  • Wenn Säuglinge oder Kleinkinder zur Familie gehören: Baby-Nahrung auf Milch-, Stärke- und Gemüsebasis

So viel zum Essen. Aber da der Mensch in der Not ja auch trinken muss, empfiehlt die Zivilschutzfibel noch zwei Liter Flüssigkeit pro Person und pro Tag. „Diese eiserne Reserve sollten Sie ab sofort gut verpackt in Ihrer Wohnung aufbewahren. In unruhigen Zeiten wandert sie dann gleich in den Schutzraum.“


Wie Sie sich einen Schutzraum bauen

Die Bürger von damals konnten sich in der Broschüre nicht nur über die Rettung von Verschütteten und das Verhalten im Ernstfall („Beim Lichtblitz einer Kernexplosion Gesicht abwenden“), sondern auch über den Bau eines eigenen Bunkers informieren und „schon heute dafür sorgen, dass Ihr Schutzraum nicht der schlechteste ist.“

So sollte ein Schutzraum Marke Eigenbau „zumindest eine Decke haben, die die Trümmerlast des Hauses tragen kann. Wände und Decke müssen so dick sein, dass sie vor den Einwirkungen des radioaktiven Niederschlages schützen. Außerdem muss der Raum gegen das Eindringen biologischer und chemischer Kampfmittel abgedichtet und auch hier mit einer Belüftungseinrichtung versehen sein.“

Und wenn das Haus keinen Keller hat? „Auch dann sollten Sie etwas tun“, so der Innenminister. „Einen betonierten Schutzraum kann man auch als Außenanlage bauen; auch ein mit Erde abgedeckter, verstärkter Deckungsgraben bietet einen gewissen Schutz, er muss jedoch außerhalb des Bereichs liegen, in den die Trümmer einstürzender Gebäude fallen können.“

Nicht zu vergessen ist auch die Ausstattung des Schutzraumes, der neben der Hausapotheke („...eine nützliche Anschaffung, wenn man bedenkt, dass Sie die Hausapotheke vielleicht schon morgen gebrauchen können,...“) inklusive „1 baldrianhaltiges Beruhigungsmittel“ und den „Siebensachen“ („Seine Siebensachen zusammenhaben...das ist für den ordentlichen Menschen schon zu normalen Zeiten selbstverständlich“) wie Renten- und Pensionsbescheinigungen, Erkennungsmarken für Kinder und Berufsunterlagen vor allem folgendes beinhalten sollte:

  • Sitz- und Liegemöglichkeiten
  • Wolldecken, etwas Warmes zum Anziehen und ein Behelfs-Klo
  • Notbeleuchtung, vor allem Kerzen und Taschenlampen
  • Rundfunkgerät für Netz- und Batteriebetrieb („Anschluss für Außenantenne vorsehen!“)
  • Schaufel, Spaten, Axt, Beil, Brechstange, Stemmeisen, schwerer Hammer und Kreuzhacke
  • Einstellspritze mit Wassereimern, eine alte Badewanne mit möglichst großem Wasservorrat
  • Kiste zum Ablegen von Kleidung, die mit radioaktivem Niederschlag oder chemischen Kampfstoffen behaftet ist
  • „Denken Sie schließlich an die persönliche Ausrüstung: Schutzmaske und Schutzhelm.“

Aktualisiert werden sollte die Zivilschutzfibel erst 20 Jahre später durch den Leiter der Kieler Forschungsstelle, Soziologieprofessor Lars Clausen, der den Bundesinnenminister im Katastrophenschutz beriet. Seine Ratschläge, die er Anfang der 80er-Jahre an alle Haushalte verteilen lassen wollte, kamen allerdings bei der Politik gar nicht gut an. Dabei standen darin drängende Fragen und wichtige Antworte. Etwa, wie man im Krisenfall vorgeht, wenn kein Arzt in der Nähe ist, aber das Bein amputiert werden muss. Doch als die Regierung den Entwurf der Broschüre sah, landete sie kurzerhand in der untersten Schublade im Ministerium. Wer weiß, vielleicht gibt es irgendwo eine kleine modrige Kiste mit Habseligkeiten, die uns noch mehr Geschichten wie diese erzählen – ich würde gerne nach ihr suchen.

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