Nachhaltig wachsen Die Ökonomie des Moores

Quelle: imago-images, dpa

Wie eine engagierte Gemeinschaft von Wissenschaftlern, Unternehmern, Tüftlern und Politikern nicht nur die Natur schützt, sondern damit den Standort vorantreibt. Teil 20 von „Nächster Halt: Aufbruch“, unserer Serie zur Bundestagswahl.

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Dieser Artikel ist Teil unserer Serie zur Bundestagswahl 2021. Wir folgen der längsten IC-Strecke Deutschlands – vom Südwesten bis in den Nordosten. Nächster Halt: Aufbruch – Fahrt durch eine unterschätzte Republik

In einem unscheinbaren Gewerbegebiet, ein paar Kilometer außerhalb der Greifswalder Altstadt, schraubt und sägt Torsten Galke an seiner Vision, einer sehr greifbaren Vision. Auf dem Hof, direkt hinter seiner Werkstatthalle, parkt sie: in Gestalt eines Tiny House – eines jener rollenden Mini-Häuser, die gerade so im Trend sind.

Allerdings handelt es sich hier nicht um ein normales Häuschen. Galke bitte hinein. Und erst jetzt kann man das Besondere sehen: An allen Wänden sind kleine Schaufenster platziert, die einen Blick auf das Innenleben der Konstruktion erlauben. Überall hat er außergewöhnliche Materialien verbaut: Schilf, Reet und Rohrkolben. Als Dämmstoff dient Feuchwiesengras. Verpresst als Platte schreinert Galke daraus sogar Treppen und Regale.

Tinyhouse-Konstrukteur Torsten Galke Quelle: Max Haerder für WirtschaftsWoche

Was all den Materialen gemein ist: sie stammen aus der Nutzung und Bewirtschaftung von Mooren. Moor and More heißt passenderweise Galkes Firma. In Greifswald hat der Wissenschaftler Hans Joosten, gerade erst mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet, dafür vor einigen Jahrzehnten sogar einen eigenen Begriff geprägt: Paludikultur – ein Kunstwort, abgeleitet vom Lateinischen palus für Sumpf, das mittlerweile weltweit gebräuchlich ist.

Paludi- statt Agrikultur, das ist das Greifswalder Leitmotiv. Denn entwässerte Moore sind zwar schlecht fürs Klima, heute aber dennoch die Regel, als trockengelegte Flächen für die konventionelle Landwirtschaft. Werden sie hingegen renaturiert, kann Moor im Kampf gegen den Klimawandel ungemein helfen. Aus dem Problem wird eine Lösung, wäre da nicht eine Hürde: einmal verwandelt, sind Moore bislang kaum mehr wirtschaftlich nutzbar.

Und genau hier setzt die Greifswalder Gemeinschaft an – und entwickelt in einem einzigartigen Netzwerk eine Ökonomie des Moores.

Tobias Galke ist ein Teil davon, und seine Biografie ist ebenso außergewöhnlich wie seine Baumaterialien: eine Handwerkslehre hat er nie gemacht, eigentlich ist der Heilpraktiker. Die Gruppe, rund um die Universität gewachsen, ist vereint im Ziel, die unterschätzten Naturwunderwerke in der Region nicht nur für den Klimaschutz zu reaktivieren, daraus neue Baustoffe zu entwickeln, sondern auch noch der Stadt und der regionalen Landwirtschaft neue Geschäftsmodelle zu erschließen.

Seite Mitstreiter warten auf einem Feldweg am anderen Ende der Stadt. Ringsherum Wiesen und Grünland: eine Ausgleichsfläche für ein Bauvorhaben der Stadt. Sie gehören als Wissenschaftler verschiedenen Fakultäten an, Landwirte sind darunter, Experten für Wissenschaftstransfer; es gibt hier sogar ein Greifswalder Moor Centrum. Es ist ein besonderes Ökosystem, dass sich da zusammengefunden hat:

 „Das Thema Moor beschäftigt uns hier an der Universität schon seit 200 Jahren. Entwässerte Moore bilden die größte Emissionsquelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Würde man sie wieder vernässen, können daraus langfristig wieder CO2-Senken werden. Das ist eine große Chance.“ – Franziska Tanneberger, Leiterin des Greifswald Moor Centrum

 „Wir wollen hier Nachhaltigkeit mit regionaler Wertschöpfung verbinden. Dazu suchen und entwickeln wir verschiedene nachhaltige Nutzungsformen für das Moor. Der Dreiklang heißt: Energie, Essen und Erleben. Der Grünschnitt wird also in den Stadtwerken für die Energiegewinnung genutzt. Gleichzeitig suchen wir Landwirte, die mit uns Moore noch in vielerlei andere Weise bewirtschaften wollen. Und wir kümmern uns um Bildungsangebote, von der Kita bis zur Erwachsenbildung. Nachhaltigkeit in die Köpfe bringen, darum geht es.“ – Michael Rühs, Netzwerk Vorpommern Connect und Uni Greifswald

Nächster Halt: Aufbruch

Fahrt durch eine unterschätzte Republik

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„Ich wurde vor fast 40 Jahren dazu ausgebildet, von einer Fläche den maximalen Ertrag zu holen – natürlich möglichst, ohne ihr zu schaden. Aber mein Sohn hat noch vor wenigen Jahren quasi das Gleiche gelernt. Das empfinde ich heute als Fehler. Zugegeben, es hat gedauert, bis ich bereit war, einen neuen Weg einzuschlagen. Wir sind schließlich Unternehmer und müssen von dem, was der Boden hergibt, leben können. Aber jetzt will ich helfen, Überzeugungsarbeit zu leisten. Weil ich ja nun selbst davon überzeugt bin, dass es geht: nachhaltige Landwirtschaft mit Mooren, die nicht die Existenz kostet.“ – Lorenz Rindler, Landwirt

„Unser Bündnis will den Strukturwandel in der Stadt durch Wissenschaft vorantreiben – nachhaltig im doppelten Sinne: wirtschaftlich und ökologisch. Wir nutzen zum Beispiel mittlerweile einen alten Kanal, der früher das Kühlwasser für das AKW Lubmin brachte, für den Algenanbau. Da zeigt sich unsere Philosophie: die Forschung nutzen, um aus Landwirtschaft, Meeren und Mooren neue Produkte zu gewinnen.“ – Christian Theel, Plant3 Zentrum für Forschungsförderung

Zum Schluss rollt ein Fahrrad über den Feldweg näher. Stefan Fassbinder, der grüne Bürgermeister Greifswalds, steigt vom Rad. Begrüßungen in alle Richtungen, man kennt sich. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt er hier. Und seitdem, erzählt er, hat mit dem Moor zu tun. Dem könne man in dieser Stadt ja nur entgehen, wenn mit verbundenen Augen durch die Gegend laufe.

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„Als meine Aufgabe sehe ich, das Wachstum unsere Stadt verträglich zu gestalten. Unsere Lebensqualität ist hoch – und das soll sie bleiben. Deshalb sind mir die Initiativen rund ums Moor so wichtig, weil sie Wertschöpfung in der Region schaffen und auch halten wollen – noch dazu eben auf hohem ökologischen Niveau. In einem Wort: enkeltauglich.“ – Stefan Fassbinder

Mehr zum Thema: Dieser Artikel ist Teil unserer Serie zur Bundestagswahl 2021. Wir folgen der längsten IC-Strecke Deutschlands – vom Südwesten bis in den Nordosten. Nächster Halt: Aufbruch – Fahrt durch eine unterschätzte Republik

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