Tauchsieder
Putin nimmt sich die Ukraine und radiert eine Nation aus. Quelle: imago images

Krieg – und Frieden?

Russland nimmt sich die Ukraine. Zerrüttet ein Land. Vernichtet einen Staat. Radiert eine Nation aus. Mitten in Europa. Darum geht es. Aber Deutschland muss jetzt erstmal seine Kampfpanzer zählen. Peinlicher gehts nicht.

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Russland foltert, verschleppt, vergewaltigt und mordet sich seit elf Monaten durch einen souveränen Staat in Europa, man muss vor allem die Deutschen wieder und wieder daran erinnern: „Nie wieder“ sollten Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg der Willkür und den Wahnideen eines politischen Schwerverbrechers ausgeliefert sein.

Wladimir Putin, der regierende Schwerverbrecher im Kreml, hat nicht nur in Butscha und Borodjanka, Irpin, Isjum und Mariupol Menschen in Keller gepfercht und ausgehungert, sie gequält und hingerichtet. Er zerstört seit mehr als drei Monaten auch systematisch Kraftwerke, Wasserversorger und Fernwärmesysteme in der Ukraine, um im ganzen Land Männer und Frauen, Alte und Kinder erfrieren und hungern zu sehen, sie zu töten und zu vertreiben.

Seine Soldaten und Söldner demoralisieren, ängstigen und terrorisieren Ukrainerinnen und Ukrainer, jeden Tag, vernichten ihre Städte und Dörfer, verheeren ihre Landschaften, bombardieren Wohnhäuser, Krankenhäuser und Kindergärten. Es ist ein Völkermord in Zeitlupe. Und mit Ansage. Russland nimmt sich die Ukraine. Zerrüttet ein Land. Vernichtet einen Staat. Radiert eine Nation aus. Denn Russland will, „dass die Ukraine in zwei Jahren von der Weltkarte“ verschwunden, „unser heimatliches Kleinrussland“ geworden ist, so Putins medialer Chefzyniker Dimitri Medwedew. Darum geht es.

Und darum, dass auch und gerade Deutschland helfen kann, es zu verhindern oder nicht. Dass Deutschland sich jeden Tag die Frage stellt, ob es wirklich genug dafür tut, dass Putin diesen Krieg verliert, dass die territoriale Integrität der Ukraine wieder hergestellt wird – dass Russland (und Belarus) durch diesen Krieg gründlich geschwächt werden, damit die Ukraine sich nicht mehr fürchten muss vor dem imperialen Hunger Russlands und sich auch alle übrigen europäischen Nationen vorerst wieder einigermaßen sicher wähnen dürfen.

Für einen kurzen Moment meinte man, Bundeskanzler Olaf Scholz hätte verstanden, worum es geht, im Februar 2022, gleich zu Beginn des Krieges, drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, als er sagte: „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht Recht brechen darf… oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“ Aber leider hat er seither immer wieder Signale der Schwäche gesendet – und seiner Diagnose einer „Zeitenwende“ keine Politik der „Zeitenwende“ folgen lassen.

Deutschland selbst steht militärisch mutmaßlich schwächer da als vor einem Jahr. Und Scholz hat in der EU und in der Nato nie darauf gedrängt, die Ukraine zu stärken, sie mit Waffen zu beliefern. Er hat sich lange nicht zu einem Besuch in Kiew aufraffen können, in den ersten Monaten stattdessen regelmäßig in Moskau angerufen und im Kreml um Frieden gebarmt, dem Aggressor versichert, er, Scholz, habe Angst vor einer Eskalation des Krieges und einem Atomschlag Russlands.

Entsprechend hat Scholz nie mehr als das minimale Kriegsziel definiert, dass es „keinen Diktatfrieden“ nach dem Willen des Kremlchefs geben, Russland „den Krieg nicht gewinnen“ dürfe – zwei Formeln, mit denen er vor allem routiniertes (Des-)Engagement durchblicken ließ: Offenbar hatte man sich im Kanzleramt früh arrangiert mit der vom Kreml geschaffenen Tatsache einer teilannektierten, zwangsamputierten Ukraine, offenbar will man der Ukraine in diesem Krieg – nach allem, was geschehen ist – bis heute nicht mehr als eine Rückkehr zum status quo ante zugestehen, Russland jedenfalls keinen Verzicht auf Krim und Donbass zumuten.

Im April 2022 versprach Scholz gleichwohl, er werde der Ukraine helfen, sie so auszurüsten, „dass ihre Sicherheit garantiert ist“. Ein leeres Versprechen, weil die Ukraine den Krieg seither vor allem erdulden, nicht aber wenden, zu ihren Gunsten entscheiden durfte. Scholz hat der Ukraine sogar angeboten, Deutschland werde ihr künftig einmal als „Garantiemacht zu Verfügung“ stehen. Ein schlechter Witz, weil Deutschland sich Kiew gegenüber seither nie als eine Führungsmacht in Europa zu erkennen gab, der Ukraine im Gegenteil immer nur spät, nachholend und verschämt Waffen lieferte („Nur zur Verteidigung.“ „Der Gepard ist kein Panzer“) – und ihre Begründungen, es schließlich doch zu tun, dabei permanent dem internationalen Druck anpasste. Noch Ende November, im zehnten Monat des Kriegs, lobte sich Scholz im Bundestag ausdrücklich dafür, die Ukraine mit seiner Defensivität in ihrer Duldsamkeit zu stärken: „Es ist diese Bundesregierung, die entgegen einer jahrzehntelangen Staatspraxis die Entscheidung getroffen hat, die Ukraine mit den Waffen zu unterstützen, die sie in ihrem tapferen Verteidigungskampf Tag für Tag braucht.“

Man kann für diese Politik des Säumens und Schwankens, Tastens und Testens, Zögerns und Zauderns Gründe suchen. Und findet sogar welche.

Erstens haben die Deutschen nach 1945 und 1990 mental abgerüstet, das strategische, militärische, konfliktbeladene Denken verlernt: Rund die Hälfte der Deutschen zögert gern mit dem Kanzler, auch heute, spricht sich (inzwischen) zwar für die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine aus, nicht aber dafür, dass die Ukraine mit diesen Kampfpanzern versucht, die Krim zurückzuerobern.

Zweitens steht die Bundeswehr bekanntlich blank da und hat nichts mehr abzugeben, will sie ihren Bündnispflichten im Ernstfall auch nur halbwegs genügen, die Verteidigung des Landes auch nur viertelwegs garantieren können.

Drittens hat sich die „Natur“ des Krieges mehrfach verändert. Die Ukraine benötigte in den ersten Wochen vor allem leichte Waffen für den mobilen, teils partisanenhaften Widerstand (Panzerfäuste), seit Sommer dann Luftabwehrraketen (Gepard), Artillerie (Himars) und Truppenverlegungs-Marder im Drohnen-, Raketen- und Stellungskrieg.

Viertens wollten die Nato-Partner nicht riskieren, dass Putin auf die Idee verfallen könnte, die Transporte von Lenkwaffen, Haubitzen und Raketenwerfern bereits in Polen, Tschechien oder Deutschland anzugreifen – also hat man die Intensität, Verdichtung und „Schwere“ der Waffenlieferungen nur schrittweise erhöht, der Intensivierung, Verdichtung und Schwere des Krieges seitens Russland gleichsam angepasst.

Fünftens liefert der Westen seine Systeme bisher zwar mit deutlich abgestuftem politischen Nachdruck, aber am Ende stets abgestimmt und koordiniert, um dem Kreml-Potentaten jederzeit zu verdeutlichen: Lege Dich bloß nicht mit uns allen an!

Sechstens lässt sich das jüngste, vom neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius dementierte Junktim Olaf Scholz‘ – wenn die USA (Abrams-)Kampfpanzer liefern, liefern wir auch (Leopard-)Kampfpanzer – nur so lesen, dass der Bundeskanzler die Atommacht USA im Fall einer Eskalation des Krieges in Europa verantwortlich an seiner Seite wissen will, weil er um die flagrante Verteidigungsunfähigkeit Deutschlands weiß: Hier schließt sich der Kreis zum ersten Argument.

Im Übrigens darf man siebtens nicht vergessen, dass auch US-Präsident Joe Biden sich in den ersten Wochen des Krieges durchaus nicht sicher war, wie entschlossen er dem „Schlächter“ im Kreml in den Arm fallen möchte: „Es wird (Putin) niemals gelingen, die gesamte Ukraine zu beherrschen und zu besetzen“, sagt Biden im April 2022, nachdem Russland die Einnahme Kiews misslungen war – es hörte sich an, als würden die westlichen Bündnispartner die Ukraine, Europa und die Welt nach der Vertreibung der Russen vor Kiew bereits auf eine Nachkriegsordnung mit einer geteilten Ukraine vorbereiten, auf einen „eingefrorenen Konflikt“ entlang neuer Demarkationslinien, die marodierende Söldnersoldaten und mordende Armeebanden auf Putins Befehl für Russland gezogen hatten.

Doch wie immer man die Argumente und Gründe dreht und wendet: Deutschland hat in den vergangenen Monaten allen voran (!) nicht die historische Dimension dieses Krieges begriffen – und viel zu lange nicht wahrhaben wollen, dass Putin uns, „den Westen zu seinem Feind erklärt“ hat, so sagt es jetzt endlich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der frühere Außenminister und Berlin-Moskau-Brückenbauer im Interview mit der WirtschaftsWoche.

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