
Die Staatsanwaltschaft München ist bis zur aufsehenerregenden Pleite von Wirecard in den vergangenen zehn Jahren kaum aus eigenem Antrieb gegen den Zahlungsabwickler aktiv geworden. Nur eines von 20 Ermittlungs- und Prüfverfahren, die in den Akten der Behörde zwischen 2010 und Anfang Juni 2020 verzeichnet sind, haben die Strafverfolger „von Amts wegen“ geführt, wie aus einer Aufstellung des bayerischen Justizministeriums hervorgeht, die Reuters am Donnerstag vorlag.
Das Ministerium reagierte damit auf eine Anfrage der Grünen im Landtag. Im November 2017 waren die Staatsanwälte laut der Liste auf eigene Faust dem Verdacht der „Beihilfe zur unerlaubten Veranstaltung eines Glücksspiels“ nachgegangen, nachdem ihr Transaktionen von Online-Casinos aufgefallen waren. Zu einem Ermittlungsverfahren kam es nicht.
Wirecard war Ende Juni in die Insolvenz gerutscht, nachdem das Dax-Unternehmen einräumen musste, dass 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz nicht existierten. Vor allem die „Financial Times“ hatte jahrelang über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard berichtet, doch der Zahlungsabwickler aus Aschheim bei München konnte die Anleger immer wieder beruhigen. Die Vorwürfe in der Zeitung führten aber nur zu Ermittlungen gegen den Autor der Artikelserie und nicht gegen das Unternehmen. Erst mit einer Sonderprüfung von KPMG zog sich die Schlinge im April allmählich zu.
„Es ist frappierend, dass von der Staatsanwaltschaft wenige eigene Impulse ausgingen, obwohl eine Vielzahl von Informationen auch auf ihrem Tisch lagen“, kritisiert der Landtagsabgeordnete Tim Pargent (Grüne) die einseitigen Ermittlungen.
Immer wieder ging es in den Verfahren um Online-Glücksspiel. Mit Betreibern von Internet-Casinos und Pornoseiten hatte das Unternehmen in seinen frühen Jahren große Teile des Geschäfts gemacht, später versuchte Wirecard ihre Rolle für die Erträge kleinzureden. Auch eine Geldwäsche-Verdachtsmeldung aus dem Jahr 2019, nachdem große Beträge auf den Konten von zwei Wirecard-Vorständen landeten, wurde zunächst abgehakt, weil die Bank die Ermittler beruhigte. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft wieder – diesmal geht es um Betrug wegen der Gewährung des Darlehens.
20 Verfahren listet das Ministerium bis zum 18. Juni auf, dem Tag, als die Wirtschaftsprüfer von EY Wirecard das Testat unter der Bilanz verweigerten und die Lawine damit ins Rollen brachten. Sieben davon waren Ende September noch anhängig. Erst danach hagelte es weitere Anzeigen, allein 89 bis Mitte August, die meisten von Anlegern, die sich betrogen fühlten.
Das Justizministerium räumt jedoch ein, dass die Liste aus den vergangenen Jahren möglicherweise nicht vollständig ist. Denn die Daten würden etwa bei Geldwäsche fünf Jahre nach der Einstellung des Verfahrens aus den Computern gelöscht.