Noch steht nicht fest, ob es im Herbst zu Neuwahlen kommt. Trotzdem ist der Wahlkampf schon in vollem Gange. Dabei ist bei allen Parteien zu erkennen, wie unverhofft sie die Entwicklung getroffen hat. Fieberhaft wird versucht, Diskussionen und Entscheidungsprozesse, die sonst innerhalb von einem Jahr abgelaufen wären, auf wenige Wochen zu verkürzen.
Jede Partei kämpft zurzeit noch mit der Frage, wie sie sich positionieren kann und will, und jede hat dabei ihr ganz spezifisches Problem. Vor den größten Schwierigkeiten steht die SPD, deren Streben nach Neuwahlen von der Mehrheit der Bevölkerung, auch von vielen SPD-Anhängern, als freiwilliger Verzicht auf die Regierungsverantwortung interpretiert wird.
Aber die Aura der Kapitulation ist nicht das einzige Problem der regierenden Volkspartei. Sie wirkt auf die Wähler zurzeit wie ein geschlagener Truppenverband, in dem die Autorität des Feldherrn von Zweifeln an seinem Kurs und seiner Führungskraft zermahlen wird. Kampfesmut und Disziplin erodieren, und Meuterei droht. Das ist das Schlimmste, was einer Volkspartei wenige Wochen vor einer Bundestagswahl zustoßen kann. Die Wähler vertrauen das Land keiner politischen Formation an, die sie in sich für uneinig halten.
Der Versuch der SPD-Linken, das Heil in der Abkehr von der Politik der vergangenen Jahre zu suchen und die Agenda 2010 zu einem historischen Irrtum ihrer Partei zu erklären, kann nur den Eindruck der Orientierungslosigkeit verstärken. Von der Regierungsbank her Opposition gegen sich selbst zu versuchen, ist wahltaktisch ein aussichtsloses Manöver. Verständlich wird die Breitseite gegen die eigene Politik – und Führungsmannschaft – nur, wenn man sie als das Einrammen von Pflöcken für den internen Macht- und Richtungsstreit nach einer bereits verloren gegebenen Wahl interpretiert. Derzeit ist kaum vorstellbar, dass es der SPD gelingen könnte, geschlossen und mit einem klaren Programm für die nächste Legislaturperiode vor die Wähler zu treten.
Die heillose Lage der SPD infiziert auch ihren kleinen Koalitionspartner, der die Ereignisse zumindest nach außen mit bemerkenswerter Fassung, ja geradezu Ergebenheit trägt. 2002 haben die Grünen zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Zweitstimmenwahlkampf geführt – mit großem Erfolg. Eine erfolgreiche Zweitstimmenkampagne baut jedoch auf zwei Voraussetzungen: Dass die angestrebte Koalition den potenziellen Wählern attraktiv erscheint und ihr Sieg als wahrscheinlich gilt. Zurzeit halten die Wähler einen erneuten Sieg von Rot-Grün aber für nahezu ausgeschlossen, eine Fortsetzung der Koalition auch für wenig verheißungsvoll.
In dieser Situation bleibt den Grünen nur die Option, sich über einzelne Ziele und Inhalte zu profilieren und dann zu hoffen, dass sie – Regierungsverantwortung hin oder her – um ihrer selbst willen gewählt werden.
Am komfortabelsten ist die Ausgangslage für die CDU/CSU. Die Auflösungserscheinungen der rot-grünen Koalition bescheren ihr enorme Windfall Profits. Zurzeit geht die Mehrheit der Wähler davon aus, dass nur eine der beiden großen Volksparteien wirklich regierungswillig und handlungsfähig ist. Dies wird bei der Wahl eine zentrale Rolle spielen, denn die Bevölkerung will vor allem anderen eine stabile, handlungsfähige Regierung. Gleichzeitig verbinden sich mit einem Regierungswechsel jedoch nur sehr eingeschränkt Hoffnungen. Die große Mehrheit der Wähler erwartet von der Union keine angenehme Politik, keine Geschenke und Dankopfer und schon gar keine Wunder. Sie erwartet auch keine Abkehr von den eingeleiteten Reformen, schon gar keine Rückkehr zu mehr Sozialstaat, sondern eher eine Verschärfung des Reformkurses.
Dies ist eine einmalige Ausgangskonstellation dafür, einen ernsthaften, glaubwürdigen Wahlkampf zu führen. In einer solchen Situation kann es sich auch eine Volkspartei leisten, statt Wahlgeschenke zu versprechen, nüchtern Sanierungsprogramme anzukündigen. Die oft zu hörende These, die Wähler seien opferbereit und lohnten Reformmut, ist empirisch inner- und außerhalb Deutschlands zwar zu häufig widerlegt worden, als dass sie Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte. Aber diesmal muss die Union nicht fürchten, die Wahl zu verlieren, wenn sie ankündigt, dass der Bevölkerung in der nächsten Legislaturperiode einiges abverlangt werden wird. Die Mehrheit weiß es ohnehin und sieht zurzeit keine Alternative.
In dieser Situation hat es die FDP schwer, eigene Akzente zu setzen und sich als ein Koalitionspartner zu empfehlen, der die nächste Regierung mit Mehrwert ausstattet. Das große Interesse für die unionsinternen Programmdiskussionen lässt die FDP zur- zeit im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit segeln. Dies gilt umso mehr, als zurzeit sogar eine absolute Mehrheit für die Union in Reichweite scheint. Mit dem Herannahen der Wahl wird jedoch die Frage für die Wähler an Bedeutung gewinnen, wie sich eine stabile Mehrheit sicherstellen lässt, und davon könnte dann die FDP durchaus profitieren.
Die Positionierung der fünften politischen Gruppierung steht bereits fest. Das neue linke Bündnis wird auf Unbehagen und Protest setzen. Wie erfolgreich, das hängt ganz wesentlich auch von der Positionierung der etablierten Parteien ab.
Wenn die Konflikte in der SPD anhalten und die Grünen verunsicherte linke Wähler nicht auffangen und binden können, wenn Union und FDP bei ihren Reformankündigungen nicht geschlossen und glaubwürdig wirken oder ohne Augenmaß und Bewusstsein für die durchaus verbreiteten Ängste agieren, kann das linke Bündnis zumindest vorübergehend reüssieren.