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Geistiges Dach Friedrich Merz über ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein in Deutschland

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Da ist in dieser Woche in Berlin, einen Tag vor der ersten Regierungserklärung der neu gewählten Bundeskanzlerin, etwas Bemerkenswertes geschehen: Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und die Leser einer großen Sonntagszeitung haben zum zweiten Mal einen Richter des Bundesverfassungsgerichts zum „Reformer des Jahres“ gewählt. Einen Richter, nicht einen Politiker! Kommen die Reformideen für unser Land, so könnte man geneigt sein zu fragen, jetzt nicht mehr von der Regierung und aus der Mitte des Parlaments, sondern von der rechtsprechenden Gewalt? Übernehmen jetzt die Richter die Debatte? 

Bei etwas genauerem Hinsehen sind Zweifel und Kritik vollkommen unbegründet. Die neue Bundesregierung hat mit der Regierungserklärung von Angela Merkel die Herausforderungen und die Aufgaben beschrieben und die politischen Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, die naturgemäß begrenzt sind in einer Koalition aus Union und SPD. 

Aber mit der Auszeichnung zum Reformer des Jahres hat sich Udo Di Fabio in zweifacher Hinsicht als Nachfolger von Paul Kirchhof aus der Mitte des Bürgertums zu Wort gemeldet. Ausgezeichnet wurde nämlich nicht der Verfassungsrichter, der Berichterstatter im Zweiten Senat des Gerichts zu schwierigen verfassungsrechtlichen Fragen. Nein, ausgezeichnet wurde ein Mann des Geistes, ein Intellektueller, ein umfassend gebildeter Mann, ein Wortführer im besten Sinne – einer, der unserer Gesellschaft in der Zeitenfolge der Politik- und Regierungswechsel den Spiegel vorhält. „Die Kultur der Freiheit“ heißt sein Buch. Es ist zu Recht zum Bestseller geworden. 

Di Fabio konfrontiert uns nicht nur mit den ökonomischen Fehlern und Versäumnissen der letzten 30 bis 40 Jahre. Er weist auf die geistigen Ursachen unserer heutigen Lage hin: Vor der Ignoranz gegenüber den Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten der sozialen Marktwirtschaft stand der Angriff auf die bürgerliche Wertewelt: 

„Vieles, was als Modernisierungs- und Befreiungsrhetorik in den Sechzigerjahren lautstark daherkam“, schreibt Di Fabio, „glich einem weiteren Sieg über den in der deutschen Nationalgeschichte ohnehin schwachen politischen Liberalismus ... Während die alten Institutionen der Staatlichkeit an Vertrauen verloren und der bürgerliche Rechtsgehorsam abnahm, die Konventionen bürgerlicher Lebensführung einer stärkeren Permissivität wichen, wurde der Staat mehr als ein Dienstleistungsunternehmen, eine nationale Versicherungsanstalt wahrgenommen. Die Steuerungsgläubigkeit dehnte den Staatssektor hemmungslos aus, machte Schulden für die öffentliche Hand, bürokratisierte und verrechtlichte das Leben, verteilte den Wohlstand um. Dabei wurden zunächst kaum merklich, aber stetig zunehmend diejenigen belastet, die bislang das Rückgrat des Wohlstandes waren: hart arbeitende Familien, die es zu etwas gebracht hatten und die jetzt immer deutlicher in die Steuerprogression gerieten, die steigende Abgabenlast und die Last für einen Kinderunterhalt trugen...“ 

Diese Debatte über die Ursachen der ständigen Überforderung der öffentlichen Haushalte, der Sozialversicherungssysteme und mit ihnen der Leistungsträger in unserem Land ist überfällig. Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für die Lösung der bestehenden Probleme. Aber zuerst müssen die tieferen Ursachen der Krise benannt werden. 

Deutschland steht vor der Notwendigkeit ganz grundlegender Richtungsentscheidungen, und man kann nur hoffen, dass es der neuen Bundesregierung gelingen wird, die viel zu hohe Staatsquote, die Steuer- und Abgabenlast eines nicht allzu fernen Tages auch wieder zu reduzieren und dem Bürger wieder mehr Freiheit zu geben. Dazu gehört Vertrauen in die Leistungsbereitschaft und in die Leistungsfähigkeit der Menschen. Es hat keinen Sinn, weitere Ruck-Reden in Deutschland zu halten. Die eine war gut und richtig. Wir müssen jetzt endlich mit den Veränderungen beginnen, die den Ruck auslösen. 

Der Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der „Reformer des Jahres 2005“, weist uns dazu vom Freiheitsverständnis unserer Gesellschaftsordnung kommend den Weg in die richtige Richtung. Er hat es immer und zu Recht abgelehnt, der Politik allzu direkte Anleitungen zu geben. In seiner ganzen Arbeit aber wird deutlich, wie ein stabiles gesellschaftspolitisches Fundament aussieht und welches geistig-kulturelle Dach die einzelnen Themen überspannt. Ohne stabile Familien, die vom Staat auch geschützt – nicht bevormundet! – werden, geht es nicht. Und ganz ohne nationales Selbstbewusstsein geht es auch nicht. 

Dieses Selbstbewusstsein, das sich auf Humanismus und Aufklärung, auf christlich-jüdische abendländische Kultur und europäische Geschichte stützt, wird wieder artikuliert. Das ist das wirklich Wichtige an der Auszeichnung für Di Fabio. Es gibt in Deutschland – langsam ansteigend – wieder eine Wertediskussion. Es gibt – langsam größer werdend – wieder eine im weitesten Sinne kulturelle Diskussion um die Zukunft unserer Gesellschaft. Es gibt in der Politik, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft und in der Publizistik eine größer werdende Zahl von Wortmeldungen, die „jenseits von Angebot und Nachfrage“ ganz im Sinne von Wilhelm Röpke nach den geistigen Grundlagen unserer Gesellschaft und nach dem belastbaren Fundament fragen, auf dem wir die Gesellschaft angesichts der rasend schnell voranschreitenden Globalisierung neu stabilisieren und ausrichten können. 

Vielleicht ist dieser Eindruck zu optimistisch, aber dann ist es eben noch eine Hoffnung: In Deutschland regt sich das Bürgertum! 

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