Die plötzlich wieder anschwellende Debatte über die europäische Dienstleistungsrichtlinie wirft ein Schlaglicht auf gleich zwei Sachverhalte: den noch immer nicht vollendeten EU-Binnenmarkt und die Angst der politischen Akteure vor dem Wettbewerb. Beides kostet Arbeitsplätze und bremst das Wachstum.
Eigentlich sollte der Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen, Kapitalverkehr und den Personenverkehr in der EU schon zum 1. Januar 1993 vollständig in Kraft treten. Das „Weißbuch Binnenmarkt“ der Delors-Kommission und die sich daran anschließende Gesetzgebung der EU und der Mitgliedstaaten haben damals die Eurosklerose überwunden, einen erheblichen Wachstumsschub und noch größere Erwartungen ausgelöst. Zusammen mit der Einführung des Euro und der Osterweiterung sollte der Binnenmarkt die europäische Antwort auf den sich verschärfenden globalen Wettbewerb mit Amerika und den asiatischen Staaten sein.
Das Projekt war zunächst ein großer Erfolg. Aber Europa darf nicht auf halber Strecke stehen bleiben! Denn die Lücken und Defizite im Binnenmarkt sind unübersehbar. Nach wie vor fehlt ein binnenmarktkonformes Mehrwertsteuersystem. Der Übergang zum Herkunftslandprinzip – es gilt der Steuersatz des Ursprungslandes der Ware, aber das Bestimmungsland erhält die Steuereinnahmen – wird seit Jahren von fast allen Mitgliedstaaten blockiert. Stattdessen verlieren sich die Institutionen der EU – die Kommission ebenso wie die unübersehbar gewordene Zahl der Ministerräte und nicht zuletzt das Europaparlament – im Kleinklein der Details von Sachverhalten, die nun wirklich nicht europäisch einheitlich geregelt werden müssen.
Die Barroso-Kommission hat deshalb völlig zu Recht die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit in der Europäischen Union zum strategischen Kernthema des Jahres 2006 gemacht. Die Grundsatzentscheidung ist dabei längst getroffen: Alle Mitgliedstaaten haben sich im EU-Vertrag zur Dienstleistungsfreiheit verpflichtet und grundsätzlich auch zum Herkunftslandprinzip. Das bedeutet nichts anderes, als dass Dienstleistungen in allen Mitgliedstaaten nach den Bedingungen erbracht werden dürfen, die in dem Land gelten, in dem der Erbringer seinen Sitz hat.
Seit der Erweiterung um die osteuropäischen Staaten macht sich allerdings in Westeuropa die Angst vor Billiglohnkonkurrenz aus diesen Staaten breit. Manches an den Befürchtungen ist durchaus berechtigt, denn es ist nicht nur die Lohnkonkurrenz, die uns fürchten lässt, sondern auch die kaum zu gewährleistende Kontrolle der unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Bestimmungen aus den vielen verschiedenen Rechtsordnungen.
Jede Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit und jede Überfrachtung mit nationalen Regelungen auch für EU-Ausländer wird letztendlich aber auch diejenigen benachteiligen, zu deren vermeintlichem Schutz die Beschränkungen aufrechterhalten werden. Denn bei offenen Grenzen und bereits bestehenden Freizügigkeiten wird sich ohnehin nicht verhindern lassen, dass der Wettbewerb zunimmt.
Im Übrigen ist der deutsche Arbeitsmarkt nicht wegen zu viel Wettbewerb in eine Krise geraten, sondern wegen der permanenten Verstöße der Tarifvertragsparteien und der Gesetzgeber gegen die Regeln des Marktes. Gerade dort, wo es im Interesse des Wohlstandes und der Beschäftigung ein Höchstmaß an Freiheit und Wettbewerb geben sollte, im Arbeitsmarkt, besteht bei uns ein Höchstmaß an Regulierung und Unfreiheit.
Die Dienstleistungsrichtlinie ist deshalb im Grundsatz eine große Chance gerade für Deutschland. Sie zwingt uns, Regelwerke und Verhaltensmuster zu überprüfen, die mitverantwortlich sind für unsere hohe Arbeitslosigkeit.
Wenn es noch eines Beweises für die Richtigkeit dieser Vermutung bedurft hätte, dann sind es die Januar-Zahlen zum Arbeitsmarkt: Wenn nämlich die Zahl der Langzeitarbeitslosen ebenso zunimmt wie die Zahl der älteren Arbeitslosen, dann zeigt dies, dass alle Bemühungen der Vergangenheit gerade um diese Gruppe der Betroffenen vergebens waren – und wie viel Geld uns dies gekostet hat. Deshalb sollte gerade Deutschland im Zweifel für mehr Wettbewerb und eine weitere Öffnung der Märkte eintreten. Der Mut dazu wird schon mittelfristig belohnt werden.
Ein Erfolg am Arbeitsmarkt setzt aber neben der Verabschiedung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie auch voraus, dass wir endlich unsere eigenen Hausaufgaben machen. Dazu zählt besonders, die Kosten zu mindern, die auf den Schultern von immer weniger Arbeitnehmern zu Gunsten von immer mehr Sozialleistungsempfängern lasten. Wir können nicht länger damit fortfahren, fast das gesamte Sozialversicherungssystem über die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu finanzieren.
Wenn uns dazu die Kraft fehlt, wer-den andere Volkswirtschaften das entstehende Vakuum schnell ausfüllen. Es liegt allein an uns selbst, was wir aus den Chancen machen!