Aktienrally Angst vor kletternden Kursen

Eine fulminante Rally treibt die Börse seit acht Monaten. Niemand traut ihr so recht, Profis und Privatanleger warten auf den Rückschlag. Pro und Contra einer Trendwende und welche Aktien noch Potenzial haben.

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Dax-Kurve: Seit acht Monaten Quelle: dpa

Er fühle sich momentan ein bisschen "wie auf einem dieser elektrischen Rodeo-Bullen auf dem Volksfest", sagt Jörn Schmelzer, Privatanleger aus Franken. Bisher hat der Endvierziger ein glückliches Händchen bewiesen: Ende 2008, nach dem Crash, stieg er mutig bei Dax-Papieren ein, etwa bei Salzgitter, Siemens, BMW und Bayer. Doch nun ist er unsicher; die Rally ging ihm zu schnell, zu weit. Denn als Unternehmensberater weiß Schmelzer, dass die Lage in der Wirtschaft sehr viel schlechter ist als die Stimmung an der Börse.

Folgerichtig müssten sich "die Kurse bald wieder dem Boden der Tatsachen annähern", meint der Ökonom. "Mit einer Korrektur um 20 bis 30 Prozent rechne ich seit Monaten." Allein, die Korrektur kommt nicht. Also reite er den Bullen eben noch ein wenig, sagt Schmelzer, "und jede Woche, in der die grünen Zahlen in meinem Depot größer werden, schaltet der Bulle einen Gang höher. Er wirft mich wohl irgendwann ab."

Dax stieg seit März um 55 Prozent

Die sogenannte Erholungsrally läuft nun schon seit mehr als acht Monaten an der Börse; bald muss sie umgetauft werden. "Erholung" passt nicht mehr, weder für so eine lange Hausse noch für deren Ausmaß: Um 55 Prozent kletterte der Dax seit seinem Tief im vergangenen März, der japanische Nikkei stieg in der Spitze um 50 Prozent, der Dow Jones in New York stürmte sogar fast 60 Prozent nach oben.

Das liegt nicht etwa daran, dass nach dem Höhepunkt der Finanzkrise im vergangenen Herbst schon wieder alles beim Alten wäre, nach Bankenpleiten und einem Einbruch der Wirtschaftsleistung vieler Industrieländer um historische fünf Prozent. Große Sprünge nach oben gemacht haben vor allem weiche Stimmungs- und vorlaufende Indikatoren, die mehr über Hoffnungen und Erwartungen aussagen denn über die tatsächliche Lage der Unternehmen. Die reale Wirtschaft, gemessen an ihren Ist-Daten, erholt sich zwar ebenfalls – auch schneller als auf dem Höhepunkt der Krise im vergangenen Winter befürchtet. 

Unternehmen schreiben nach wie vor Verluste

Doch während die Anleger den Börsenwert vieler Unternehmen, etwa den von BASF, Siemens und Salzgitter, schon wieder auf die Niveaus von 2006 oder sogar 2007 getrieben haben, verdienen die Unternehmen gerade einmal ein Drittel der Rekordgewinne jener Jahre – im günstigsten Fall. Viele schreiben nach wie vor Verluste. Dass der überfällige Rückschlag an der Börse nicht schon längst eingetreten ist, liegt an einer historisch beispiellosen Liquiditätsschwemme. Geld als Treibstoff für Aktienkurse ist extrem günstig und steht fast unbegrenzt zur Verfügung.

Um den Zusammenbruch des Weltfinanzsystems zu verhindern, senkten die Notenbanken im Herbst 2008 weltweit die Leitzinsen auf nahe null und pumpten Unmengen an frischem Geld in die Märkte. Nach dem Motto "Viel hilft viel" fluteten sie die Banken, um den ins Stocken geratenen Kreditkreislauf wieder in Gang zu setzen. Dieses Geld ist noch im System. Großanleger wie Banken und Hedgefonds trieben damit die Preise vieler Anlagegüter hoch, auch die von Aktien. "Die Frage ist nicht, ob, sondern wann und wie schnell die Zentralbanken das Geld wieder abschöpfen", sagt Martin Hüfner, Chefvolkswirt des Luxemburger Assetmanagers Assénagon, "entweder, der Aufschwung trägt bis dahin von selbst – oder die Notenbanken werden für Turbulenzen an den Märkten sorgen, wenn sie die Zügel wieder anziehen".

Investmentguru Marc Faber Quelle: Laif

Klaus Kaldemorgen, Chef der Deutsche-Bank-Fondstochter DWS, rechnet wegen der überbordenden Liquidität mit steigenden Aktienkursen bis weit ins kommende Jahr hinein. "Ich glaube, dass der Aktienmarkt auch 2010 noch von der Geldschwemme profitieren wird", sagt der erfahrene Fondsmanager. "Es gibt wenige Alternativen zur Aktie, die derzeit preislich attraktiv sind." Mit anderen Worten: Die Kurse steigen, weil das viele Geld irgendwohin muss – nicht, weil Aktien per se attraktiv bewertet wären. Kaldemorgen rechnet mit einem Dax-Anstieg auf knapp 6500 Punkte 2010; das wäre noch einmal ein Plus von knapp 14 Prozent.

Die meisten Experten gehen nicht davon aus, dass diese Geldschwemme demnächst austrocknen wird. "Die Krise ist alles andere als ausgestanden, deswegen werden die Zentralbanken weiter Geld drucken", sagt der bekannte Vermögensverwalter Marc Faber aus Hongkong.

Endnachfrage bleibt dramatisch schwach

So ist die sogenannte Endnachfrage, die sich zusammensetzt aus privaten Konsumausgaben und Industrie-Investitionen, nach wie vor dramatisch schwach – China und Südamerika ausgenommen. Einzig die Konjunkturprogramme vieler Staaten begannen im dritten Quartal 2009 zu wirken, laufen aber, wie die Abwrackprämie, oft schon wieder aus.

Nahezu das gesamte Wachstum des chinesischen Bruttoinlandsprodukts von 8,9 Prozent im dritten Quartal speist sich aus staatlichen Konjunkturpaketen. Doch selbst wenn das hohe Wachstum in einen selbsttragenden Aufschwung Chinas mündet, würde das den meisten deutschen Unternehmen kaum helfen: Deutschland exportiert nicht mehr Waren und Dienstleistungen nach China als etwa in die Niederlande – und weit weniger als nach Frankreich oder in die USA. China ist selbst Exportnation und kann seine Wirtschaft nicht von heute auf morgen auf Binnenkonsum umstellen.

US-Konsumenten erhöhen Sparquote

Der wichtigste Endnachfrager der Welt ist und bleibt deshalb der US-Konsument. Der aber erhöht gerade seine Sparquote massiv, ächzt unter den Folgen der historisch beispiellosen Schuldenorgie seit 1982 und verliert seinen Job – oder hat Angst davor. Überkapazitäten und schwache Nachfrage drücken in den USA und Japan die Preise. Diese deflationären Tendenzen zusammen mit der steigenden Zahl von Unternehmenspleiten dürften den politischen Druck auf die Notenbanken, weiter billiges Geld zu pumpen, hochhalten. Jüngste Äußerungen von US-Zentralbankchef Ben Bernanke, der nach eigener Auskunft notfalls bereit ist, "Geld mit dem Helikopter abzuwerfen", bestätigen dies. Bundesbankpräsident Axel Weber und die japanische Notenbank, die ursprünglich das dritte Quartal 2010 als Zeitpunkt für eine Zinswende ins Gespräch gebracht hatten, ruderten inzwischen ebenfalls massiv zurück.

Die Frankfurter Bankenskyline, Quelle: dpa

Der nach der Lehman-Pleite im vergangenen Herbst zusammengebrochene Geldhandel der Banken untereinander hat sich wieder normalisiert, die Zinsen sind unten. Doch das Geld der Notenbanken ist noch im Bankensystem. "Das nutzen die jetzt, um auf eigene Rechnung Assets zu kaufen, darunter natürlich auch Aktien", sagt Bert Flossbach, Chef des zweitgrößten unabhängigen Vermögensverwalters in Deutschland und Ex-Banker von Goldman Sachs.

"Wenn man den Banken beliebig viel Kapital zu Billigstkonditionen zur Verfügung stellt, darf man sich nicht wundern, wenn diese das Geld zu teils spekulativen Geschäften nutzen, um anderswo höhere Renditen einzufahren", meint Hüfner, "die Europäische Zentralbank sieht das nicht gerne, kann die Banken aber auch nicht zwingen, riskante Kredite zu vergeben."

Treibstoff Liquidität wird zum Problem

Getrieben wird die Börse auch von sogenannten Carry Trades: Hedgefonds und Banken verschulden sich billig in Währungen mit niedrigen Zinsen, wie Yen oder Dollar, "und kaufen damit riskantere, renditestärkere Assets, auch Aktien, im großen Stil", so Nouriel Roubini, Wirtschaftsprofessor an der University of New York. Die Befürchtung: Carry Trader treiben die Kurse weiter; sobald die Zinsen in Yen oder Dollar aber wieder steigen, werden die Geschäfte aufgelöst. Aktien kämen auf die Verkaufsliste, damit Trader ihre Kredite zahlen können – die Blase endet im Crash.

Anleger können sich nicht darauf verlassen, dass der Treibstoff Liquidität auch 2010 die Kurse ununterbrochen weiter nach oben bringt. Kurzfristig werden die Notenbanken die Zinsen auf niedrigem Niveau belassen. Mit zunehmend robusterer Konjunktur aber müssen sie versuchen, die immense Liquidität wieder einzusammeln. Sonst rauschen die westlichen Volkswirtschaften ungebremst in die Inflation. "Der Entzug von Liquidität trifft dann zunächst die Banken", sagt Hüfner, "sie haben dann weniger Geld für den Eigenhandel" – und damit auch weniger für Aktien.

Angst vor neuer Blase wächst

Ein gewaltiges Problem werden auch Unternehmen in der Hand von Private-Equity-Fonds bekommen. Finanzinvestoren haben den Unternehmen in ihrem Besitz zusammen mehr als 1000 Milliarden Dollar Schulden aufgeladen, die von 2011 an refinanziert werden müssen. Wenn die Zinsen steigen, könnte laut Berechnungen des US-Autors Josh Kosman die Hälfte dieser Unternehmen bis 2015 pleitegehen – eine Katastrophe, die durchaus vergleichbar wäre mit dem Subprime-Debakel.

Für Anleger, die den Liquiditätsbullen noch eine Weile reiten wollen, dürfte es schwierig werden, den perfekten Zeitpunkt für den Absprung zu erwischen. Alexander Seibold, früher Chef des Anleihehandels der HypoVereinsbank und heute Vermögensverwalter, fürchtet einen "erheblichen Rückschlag", wenn die Zentralbanken mit dem Geldentzug ernst machen. "Liquiditätsgetriebene Rallys laufen länger und weiter, als die Pessimisten glauben wollen", sagt der Bayer "aber sie enden so gut wie nie glimpflich im schönen, selbsttragenden Aufschwung."

Viel Liquidität hilft den Börsenkursen auf die Sprünge, verhindert aber nicht den nächsten Crash

Liquidität ohne tragende Konjunkturbelebung ist ein gefährliches Spiel für Aktieninvestoren. "Natürlich ist es für die Börse per saldo immer gut, wenn Geld im Überfluss da ist", sagt Seibold, "Liquidität ist aber nur eine nötige Bedingung für einen Kursanstieg und noch lange keine hinreichende. Das ist, als wolle man einen Grill ausschließlich mit Spiritus befeuern, aber ohne Holzkohle." Kommt keine Kohle nach, bricht der Markt ein. In der Vergangenheit passierte das mitunter lange vor dem absoluten Höhepunkt der Geldschwemme.

Aktienkurse orientieren sich nicht nur an Umsatz, Vermögensgütern und Gewinnmarge, sondern werden auch von Angebot und Nachfrage getrieben. Das Geld der Notenbanken erhöht die Nachfrage und führt so zu Übertreibungen an den Börsen. Derartige Blasen waren in diesem Jahrzehnt schon zwei Mal zu beobachten, zunächst bei den Tech-Aktien bis 2000, dann bei Immobilien in den USA, Großbritannien, Spanien und Irland bis 2007/08.

Industrieländer erwarten 2010 nur mäßiges Wachstum

Abseits der Nachfrage gilt das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) als Kernmaßstab für die Aktienmarktbewertung. Um es zu berechnen, wird der Nettojahresgewinn eines Unternehmens – nach Gewinnanteilen Dritter – durch die Anzahl der ausgegebenen Aktien geteilt. Liegt das KGV – auf Basis der 2010er-Gewinne und bei 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum – unter 14, sind Aktien nicht überteuert.

Für die Industrieländer werden im kommenden Jahr aber nur mäßige ein bis zwei Prozent Wachstum erwartet. Gemessen am weltweit wichtigsten Index, dem S&P 500 der USA, werden Aktien derzeit jedoch mit dem rund 130-Fachen ihrer in den vergangenen zwölf Monaten erwirtschafteten Gewinne bewertet – und damit so hoch wie nie zuvor. Um auf einen halbwegs fairen Wert zu kommen, müssten US-Unternehmen in den kommenden zwölf Monaten ihre Gewinne verzehnfachen.

ThyssenKrupp mit riesigem Verlust

Kurs-Gewinn-Verhältnis für den S&P 500 seit knapp 140 Jahren

Deutliche Gewinnsteigerungen dürften wegen der schlechten Vorjahresbasis zwar drin sein, und die Zahl der Verluste schreibenden Unternehmen sollte sinken, doch eine solche Ertragsvervielfachung ist reine Fantasie. Auch der Dax ist mit einem laufenden KGV von 55 teuer. Industrien wie Stahl und Chemie, die stark von der Konjunktur abhängen, kämpfen mit Verlusten oder sind gerade wieder in die Gewinnzone gekrabbelt. ThyssenKrupp verlor 2008/09 knapp 2,4 Milliarden Euro vor Steuern.

BASF verdiente in den zwölf Monaten bis zum 30. September netto rund 640 Millionen Euro oder 70 Cent je Aktie. Bei einem Kurs von 40 Euro kostet die Aktie damit den 60-fachen Gewinn der vergangenen vier Quartale. Der Kurs liegt nur noch 20 Prozent unter seinem Allzeithoch von Ende 2008. Damals erzielte BASF in der Zwölfmonatsperiode bis zum 30. September 2008 aber einen fast siebenmal so hohen Nettogewinn: vier Milliarden Euro. Kein noch so optimistischer Analyst rechnet auf absehbare Zeit wieder mit solchen Gewinnen.

Was Anleger beunruhigen sollte: Die Kapazitätsauslastungen in der Industrie sind in den meisten Ländern nach wie vor auf Rezessionsniveau, die Erholung reicht nicht, um alle Werke unter Dampf zu setzen. Daimler etwa könnte leicht 30 Prozent mehr Automobile produzieren.

Gelingt in naher Zukunft keine zweistellige Umsatzsteigerung, dürfte der Konzern kaum mehr verdienen als im dritten Quartal dieses Jahres, als netto 41 Millionen Euro hängenblieben, nach über zwei Milliarden Verlust im ersten Halbjahr.

Trotz Krise haben einige Konzerne den Sprung in die schwarzen Zahlen geschafft – meist jedoch nur wegen Kostensenkungen. Werkschließungen und Entlassungen helfen zwar, Umsatzrückgänge um die 20 Prozent wie bei Daimler, Siemens oder BASF auszugleichen. Doch um an die Rendite-Träumereien der Börsianer heranzureichen, müssten die Umsätze steigen – und zwar um ein Mehrfaches stärker als die Weltwirtschaft.

Banken haben Finanzkrise noch lange nicht verdaut

Hinzu kommt: Die Banken haben die Finanzkrise noch lange nicht verdaut. Zwar weisen viele Großbanken wieder Gewinne aus. Diese stammen aber zum größten Teil nicht aus dem Kredit- und Einlagengeschäft, sondern aus Anlagen an den Kapital- und Rohstoffmärkten, aus der Platzierung von Unternehmensanleihen und aus für die Banken günstigen Bilanzänderungen, die die eigentlich gebotenen Abwertungen verhindert haben.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die europäischen Banken erst rund 40 Prozent der Verluste aus Krisen-Wertpapieren in ihren Bilanzen verarbeitet haben. Weltweit könnten in den kommenden zwölf Monaten noch 1000 Milliarden Dollar an neuen Abschreibungen auf die Branche zurollen; Europas Banken allein bräuchten dann noch einmal 380 Milliarden Dollar an frischem Eigenkapital, so der IWF. An die undurchsichtigen Bankaktien sollten sich private Anleger also besser nicht wagen.

Aktien mit Vorsorgecharakter

Wer jetzt noch Geld anlegen möchte, sollte sich Aktien von Unternehmen suchen, deren Geschäfte eher Versorgercharakter haben. Etwa Biotech- und Laborzulieferer wie Qiagen, Biotest und Sartorius, oder Aktien der Deutschen Telekom und RWE. Konjunkturabhängige Werte aus der zweiten Reihe sind zwar riskanter, bieten dafür aber höheres Kurspotenzial, etwa der Motorenhersteller Deutz oder der Maschinenbauer Bauer. Eine hohe, sichere Dividende bietet der Modeschmuckvertrieb Bijou Brigitte. Der Personalsoftwarehersteller Atoss überzeugt mit starken Cash-Zuflüssen.

Wer es sicherer mag, kauft dividendenstarke Werte mit stabilen Bilanzen: "Aktien wie Nestlé, Total, Shell oder France Télécom rentieren höher als die Anleihen hoch verschuldeter Firmen, das Risiko ist eher geringer", sagt Vermögensverwalter Flossbach, "am Anleihemarkt dagegen haussiert Schrott; Anleger blenden die Risiken dort vollständig aus."

Das billige Geld der Notenbanken hat eben nicht nur an der Aktienbörse die Preise verdorben.

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