Börsen-Erinnerung Das Erbe des Neuen Marktes

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Ulrich Dietz, Quelle: obs

Andere fallen tiefer. Bodo Schnabel erfindet 95 Prozent der Umsätze seines Telematik-Unternehmens – und geht ins Gefängnis. Thomas und Florian Haffa, die smarten Brüder von EM.TV, schönen Bilanzen – und werden zu Geldstrafen verdonnert. Gerhard Harlos und Alexander Häfele gründen mit Infomatec eine Internet-Schimäre – und müssen sich wegen Kursbetrugs verantworten. Zwölf Blue-Chips im Nemax 50 – man hat sie wirklich so genannt – gehen pleite, sieben werden geschluckt, fast alle, die den Crash überleben, notieren heute unter ihren damaligen Kursen. Am 10. März 2000 klettert der Nemax 50 auf 9665,81 Punkte, sein Allzeithoch. Die 229 Unternehmen am Neuen Markt kosten 234 Milliarden Euro. Dann kommt der Absturz.

„Es war ein Schock“, erinnert sich Dietz: „Zu sehen, wie der Kurs ins Bodenlose fällt, zu erleben, wie das Unternehmen an einem Tag 30 Prozent seines Wertes verliert, zu lernen, wie brutal der Kapitalmarkt funktioniert – das war für mich, einen Ingenieur aus Deutschland, eine Erfahrung wie aus einer anderen Welt.“ Doch Dietz behält die Nerven. 2001 erwirbt GFT eine Tochter der Deutschen Bank und ebnet seinem Unternehmen damit den Weg ins internationale Geschäft. 2005 schreibt die Firma erstmals Gewinne; bis 2008 kann sie ihren Umsatz verdoppeln und ihren Ertrag versechsfachen.

Kalkuliertes Abenteuer

Dietz sagt, dass GFT es ohne den Gang an die Börse nicht so weit gebracht hätte. Die Gründung des Unternehmens lag zum Zeitpunkt des IPO zwölf Jahre zurück; die Notierung am Neuen Markt sei daher ein kalkuliertes Abenteuer gewesen. Das Unternehmen habe durch das Listing Bonität und Vertrauen ausgestrahlt; man habe die Finanzabteilung professionalisiert – und vor allem die Basis für eine gute Liquidität geschaffen. GFT ist seit dem Börsengang nicht auf Fremdmittel angewiesen, hat die Eigenkapitalquote auf fast 60 Prozent gesteigert und konnte Zukäufe durch den Verkauf von Anteilen tätigen. Bei aller Ansteckungsgefahr, der er mit Blick auf steigende Kurse damals ausgesetzt gewesen sei, so Dietz: „Letztlich habe ich immer gewusst, dass der Aktienkurs eine virtuelle Angelegenheit ist und dass die Entwicklung des Kurses nichts zu tun hat mit der Entwicklung des Unternehmens.“

Vielleicht liegt darin das große Geheimnis von Unternehmen wie Aixtron, BB Biotech und Qiagen, die vor zehn Jahren dem schnellen Börsentod entgingen: Dass deren Gründer und Vorstände den Börsenwert ihrer Unternehmen nie mit seinem inneren Wert verwechselt haben, dass sie die Fantasie, die am Future-Markt einer jeden Gründerzeit gehandelt wird, nicht für bare Münze nahmen, sondern als schöne, virtuelle Zukunft anerkannten, die vielleicht eintreten kann, wahrscheinlich aber nicht – und dass sie sich darauf konzentrierten, ihre Unternehmen abseits der verrücktspielenden Finanzmärkte weiterzuentwickeln.

Ruhe bewahren mitten im Wirbel

Es ist das Kunststück, sich mitten in der Euphorie nicht fortreißen zu lassen, sich im Wirbel der Ereignisse ins Auge des Sturms zu flüchten und in den seltenen Momenten der Ruhe die richtigen Entscheidungen darüber zu treffen, wohin der Kapitalsturm das Unternehmen tragen soll: immer weiter ins Reich der hochfliegenden Träume und des Umsatzwachstums – oder doch lieber in Richtung Profitabilität und Produktpflege.

Die Rede vom nachhaltigen Produktivitätsfortschritt, der in Gründerzeiten angeblich erzielt wird, ist eines der letzten Märchen der Wirtschaftswissenschaften. Die Wahrheit ist, dass sich Kapitalgeber nur eine bestimmte Zeit mit Reichtumsverheißungen unter Hochspannung setzen lassen – und dass auf eine kurze, hitzige Phase des Überschwangs eine längere der Abkühlung folgt. Damit ist nichts über die ruckartige Impulswirkung von Basisinnovationen gesagt: Die Verdichtung von Raum und Zeit, die Mitte des 19. Jahrhunderts von der Eisenbahn ausging, ist unbestritten. Unbestritten ist aber auch, dass dem gewaltigen, spekulationsgetriebenen Aufschwung, den Deutschland in der engeren Gründerzeit (1871 bis 1873) nahm, eine 20-jährige wirtschaftliche Stagnation folgte. Und unbestritten ist außerdem, dass die größten Wertsteigerungen der modernen Basisinnovationen (Computer, Internet, Mobilfunk), durch ihre Vernetzung erst nach dem Ende der jüngsten Gründerzeit erfolgten. Kurzum: Am Ball zu bleiben, sein Unternehmen zu sichern, es evolutionär fortzuentwickeln – das alles kann produktiver sein als Wachstum um jeden Preis.

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