Börsen-Erinnerung Das Erbe des Neuen Marktes

Vor zehn Jahren, am 10. März 2000, erreichte der Neue Markt sein Allzeithoch. Dann kam der Absturz. WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas über das Ende einer Ära und geplatzte Anlegerträume, über Gründer, die weitermachen – und über respektable Unternehmen, die dem Börsencrash getrotzt haben.

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Geschäftige Händer an der Quelle: AP

Wenn man es genau nimmt, hätte sich Ulrich Dietz diesen Termin am vergangenen Montag sparen können. Diesen und all die anderen in den vergangenen zehn Jahren. Sein Leben könnte ein einziger langer Sonntag sein, auf den Seychellen, in der Schweiz, in Sydney oder in Singapur; er könnte sich der „Entdeckung der Langsamkeit“ widmen, wie sein liebster Romanheld, das „Leben eines Taugenichts“ führen, das „Tagebuch einer Schnecke“ verfassen, er könnte am Strand, im Sand, in der Sonne liegen, die Seele baumeln lassen und all die anderen Bücher lesen, die er schon immer einmal lesen wollte.

Stattdessen sitzt Ulrich Dietz an diesem Montagmorgen im Konferenzraum eines Stuttgarter Hotels, die versammelte Wirtschaftspresse vor sich, spricht vom „dynamischen Endspurt“, den sein Unternehmen 2009 hingelegt habe und natürlich von „zukunftsweisenden Lösungen“, die eine „exzellente Basis für nachhaltiges Wachstum“ versprechen. Nach Langsamkeit klingt das nicht. Eher nach Unrast, gestern, heute, morgen. Eine Stunde zieht Dietz Bilanz, dann muss er los und weiter, schnell, schnell zum Hauptbahnhof, zum ICE, zur Cebit nach Hannover.

Zwei Milliarden haben sie ihm geboten, damals, vor zehn Jahren. Zwei Milliarden für seine kleine Softwareschmiede, für GFT Technologies aus St. Georgen im Schwarzwald. Ulrich Dietz und seine Frau halten 53,5 Prozent der Aktien, ein Leben im Überfluss winkt, ein pralles Leben von Zins und Zinseszins. Die Börseneuphorie zieht das Land in ihren Bann, die ganze Republik träumt den Traum vom leistungslosen Reichtum, jede Aktienstory am „Neuen Markt“ wird so begierig gelesen wie in den Sechzigerjahren ein Heftroman von Perry Rhodan. Es gibt in diesen Monaten der Geldekstase und Hochstimmungsgier Arbeiter, die sich vom Fußball-Toto aufs Zeichnen indischer Internet-Aktien verlegen, Hausfrauen, die durch die Teletext-Seiten von n-tv blättern, und Beamte, die beim Blick aufs Börsenband ins Schwitzen geraten. Die berauschten Medien beschreien den „Urknall in der deutschen Börsenlandschaft“. Ein Staatsunternehmen wie die Deutsche Telekom lässt 300 Millionen Euro für die Bewerbung seiner „Volksaktie“ springen. Startups, die Partikel wie „tech“ oder „com“ in ihrem Namen tragen, sammeln ohne Ansehen der Geschäftsidee Millionen ein. Jeder mäßig begabte Gymnasiast weiß, was Konsortialführer, Bookbuilding-Spannen und Schulter-Kopf-Schulter-Formationen sind.

Versuchungen widerstehen

Nur Ulrich Dietz bleibt ruhig, lässt sich nicht irre machen von „den Heerscharen an Bankern und Beratern“, die ihn täglich belagern, die ihn zu Zukäufen drängen, zu Kapitalerhöhungen, zur Ausgabe von Wandelschuldverschreibungen, zum Umsatzwachstum um jeden Preis – oder zum Verkauf der Firma. Es sei „ungeheuer schwer“ gewesen damals, den Versuchungen zu widerstehen, sich den Plänen der Hochwellenreiter zu widersetzen, sich auf den Ausbau des Geschäfts zu konzentrieren, sich die Solidität zu erhalten. Sicher, es „ärgert einen manchmal schon, dass man das damals nicht gemacht hat“, sagt Dietz. Andererseits sei er, im Unterschied zu manchem Gründer, der eine fixe Idee hatte, flugs ein Unternehmen gründete und flink an die Börse ging, seither nicht permanent damit beschäftigt, sich gegenüber dem Finanzamt arm zu rechnen.

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Es sei ein „abnormaler Börsenboom damals“ gewesen, sagt Dietz, ein „totaler Ausnahmezustand“ und daher alles in allem eine Charakterfrage – auch für sein Unternehmen. Als kurz vor dem Börsengang am 28. Juni 1999 die Deutsche Post bei GFT einsteigt, stößt das Papier bei Anlegern auf eine schier grenzenlose Nachfrage. Gleich am ersten Tag schnellt die GFT-Aktie von 23 Euro (Emissionpreis) über 44 Euro (Erstnotiz) auf 61 Euro (Schlusskurs) hoch, „acht Stunden, die ich im Leben nicht vergessen werde“, sagt Dietz, „es ist fantastisch mitzuerleben, wie sich die eigene Produkt- und Geschäftsidee in Mark und Pfennig niederschlägt“. Das Interesse der Anleger am Unternehmen ist so groß, dass das Papier im Dezember mit rund 100 Euro gehandelt wird und im März 2000 die 200-Euro-Marke überspringt.

Dann, plötzlich, knistert und kracht es an der Börse, die hochfliegenden Erwartungen erfüllen sich nicht. Ein Aktiensplit (1:3) im Mai nährt noch mal die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Party, das Papier schwingt sich zu einem letzten Höhenflug auf, doch längst ist klar, dass das Wachstum der meisten Unternehmen am Neuen Markt sich nicht in Ertrag übersetzt, Umsatz nicht in Gewinn, Größe nicht in Stärke – und Marktkapitalisierung nicht in betriebswirtschaftliche Gesundheit. Entsprechend rauscht der Kurs von GFT in den Keller, pendelt sich bei zwei bis drei Euro ein – und hält sich seither auf diesem Niveau. 89 Millionen Euro, sagen die Investoren, ist GFT heute wert.

Ulrich Dietz, Quelle: obs

Andere fallen tiefer. Bodo Schnabel erfindet 95 Prozent der Umsätze seines Telematik-Unternehmens – und geht ins Gefängnis. Thomas und Florian Haffa, die smarten Brüder von EM.TV, schönen Bilanzen – und werden zu Geldstrafen verdonnert. Gerhard Harlos und Alexander Häfele gründen mit Infomatec eine Internet-Schimäre – und müssen sich wegen Kursbetrugs verantworten. Zwölf Blue-Chips im Nemax 50 – man hat sie wirklich so genannt – gehen pleite, sieben werden geschluckt, fast alle, die den Crash überleben, notieren heute unter ihren damaligen Kursen. Am 10. März 2000 klettert der Nemax 50 auf 9665,81 Punkte, sein Allzeithoch. Die 229 Unternehmen am Neuen Markt kosten 234 Milliarden Euro. Dann kommt der Absturz.

„Es war ein Schock“, erinnert sich Dietz: „Zu sehen, wie der Kurs ins Bodenlose fällt, zu erleben, wie das Unternehmen an einem Tag 30 Prozent seines Wertes verliert, zu lernen, wie brutal der Kapitalmarkt funktioniert – das war für mich, einen Ingenieur aus Deutschland, eine Erfahrung wie aus einer anderen Welt.“ Doch Dietz behält die Nerven. 2001 erwirbt GFT eine Tochter der Deutschen Bank und ebnet seinem Unternehmen damit den Weg ins internationale Geschäft. 2005 schreibt die Firma erstmals Gewinne; bis 2008 kann sie ihren Umsatz verdoppeln und ihren Ertrag versechsfachen.

Kalkuliertes Abenteuer

Dietz sagt, dass GFT es ohne den Gang an die Börse nicht so weit gebracht hätte. Die Gründung des Unternehmens lag zum Zeitpunkt des IPO zwölf Jahre zurück; die Notierung am Neuen Markt sei daher ein kalkuliertes Abenteuer gewesen. Das Unternehmen habe durch das Listing Bonität und Vertrauen ausgestrahlt; man habe die Finanzabteilung professionalisiert – und vor allem die Basis für eine gute Liquidität geschaffen. GFT ist seit dem Börsengang nicht auf Fremdmittel angewiesen, hat die Eigenkapitalquote auf fast 60 Prozent gesteigert und konnte Zukäufe durch den Verkauf von Anteilen tätigen. Bei aller Ansteckungsgefahr, der er mit Blick auf steigende Kurse damals ausgesetzt gewesen sei, so Dietz: „Letztlich habe ich immer gewusst, dass der Aktienkurs eine virtuelle Angelegenheit ist und dass die Entwicklung des Kurses nichts zu tun hat mit der Entwicklung des Unternehmens.“

Vielleicht liegt darin das große Geheimnis von Unternehmen wie Aixtron, BB Biotech und Qiagen, die vor zehn Jahren dem schnellen Börsentod entgingen: Dass deren Gründer und Vorstände den Börsenwert ihrer Unternehmen nie mit seinem inneren Wert verwechselt haben, dass sie die Fantasie, die am Future-Markt einer jeden Gründerzeit gehandelt wird, nicht für bare Münze nahmen, sondern als schöne, virtuelle Zukunft anerkannten, die vielleicht eintreten kann, wahrscheinlich aber nicht – und dass sie sich darauf konzentrierten, ihre Unternehmen abseits der verrücktspielenden Finanzmärkte weiterzuentwickeln.

Ruhe bewahren mitten im Wirbel

Es ist das Kunststück, sich mitten in der Euphorie nicht fortreißen zu lassen, sich im Wirbel der Ereignisse ins Auge des Sturms zu flüchten und in den seltenen Momenten der Ruhe die richtigen Entscheidungen darüber zu treffen, wohin der Kapitalsturm das Unternehmen tragen soll: immer weiter ins Reich der hochfliegenden Träume und des Umsatzwachstums – oder doch lieber in Richtung Profitabilität und Produktpflege.

Die Rede vom nachhaltigen Produktivitätsfortschritt, der in Gründerzeiten angeblich erzielt wird, ist eines der letzten Märchen der Wirtschaftswissenschaften. Die Wahrheit ist, dass sich Kapitalgeber nur eine bestimmte Zeit mit Reichtumsverheißungen unter Hochspannung setzen lassen – und dass auf eine kurze, hitzige Phase des Überschwangs eine längere der Abkühlung folgt. Damit ist nichts über die ruckartige Impulswirkung von Basisinnovationen gesagt: Die Verdichtung von Raum und Zeit, die Mitte des 19. Jahrhunderts von der Eisenbahn ausging, ist unbestritten. Unbestritten ist aber auch, dass dem gewaltigen, spekulationsgetriebenen Aufschwung, den Deutschland in der engeren Gründerzeit (1871 bis 1873) nahm, eine 20-jährige wirtschaftliche Stagnation folgte. Und unbestritten ist außerdem, dass die größten Wertsteigerungen der modernen Basisinnovationen (Computer, Internet, Mobilfunk), durch ihre Vernetzung erst nach dem Ende der jüngsten Gründerzeit erfolgten. Kurzum: Am Ball zu bleiben, sein Unternehmen zu sichern, es evolutionär fortzuentwickeln – das alles kann produktiver sein als Wachstum um jeden Preis.

Paulus Neef Gründer von Quelle: REUTERS

Paulus Neef kann ein Lied davon singen. Der 49-Jährige war vor zehn Jahren das Gesicht des „Neuen Marktes“, die Verkörperung der Internet-Branche, das digitale Zeitalter in Person. Neef hatte 1991 Pixelpark mitgegründet, ein Unternehmen, das der Old Economy internetgerechte Auftritte ermöglichte. 1996 stieg Bertelsmann als Mehrheitseigentümer ein, ein traditionsreiches Medienhaus, das wohl nur in einer Zeit des Blendens und Blasierens auf die Idee verfallen konnte, sich der Dienste eines Mannes wie Thomas Middelhoff zu versichern.

Middelhoff und Neef bringen das Unternehmen 1999 an die Börse, klar, sie treiben den Kurs von 15 Euro auf 370, und sie heizen – unterstützt von Alexander Dibelius, der für Goldman Sachs Übernahmegeschäfte organisiert – mit dem Kauf kleiner Unternehmen die Spekulation an. Das Trio, erinnert sich Neef, fliegt damals in Privatjets um die Welt, trifft sich auf Golfplätzen zur Lagebesprechung, kreuzt in Limousinen über die Straßen europäischer Hauptstädte – und verschluckt sich bei der Übernahme eines dreimal größeren Internet-Unternehmens, als der Markt im März 2000 in die Knie geht und der Kurs der Pixelpark-Aktie dahinschmilzt. Als zwei Jahre später Vorwürfe ruchbar werden, Neef habe beim Kauf der Unternehmensgruppe ZLU einen überhöhten Preis bezahlt – einer Unternehmensgruppe, die dem Vater seiner langjährigen Lebensgefährtin gehört habe –, wird er fristlos entlassen. Das Kapitel Pixelpark ist für ihn beendet.

Heute sagt Neef, die Stimmung habe ihn damals gewissermaßen vor sich selbst hergetrieben. Analysten hätten ihm entgegengebrüllt, sich Marktanteile zu sichern, um jeden Preis zu wachsen. Sicher, er habe geahnt, dass das nicht lange gut gehen könne, dass alles ins Rutschen geraten müsse – aber er habe seine Zweifel damals nicht geäußert, um den geahnten Untergang nicht zu besiegeln. Über sein Vermögen will Paulus Neef nicht reden, auch nicht darüber, ob und wie viele Millionen er durch den Verkauf seiner Pixelpark-Anteile verdient hat – nur so viel: „Ich bin froh, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen.“

Selbstsicher trotz Absturz

Und so gehört es vielleicht zu seinen größten Erfolgen, dass er in den vergangenen acht Jahren seine Selbstsicherheit konservieren konnte. Die finanziellen Engagements bei TXTR („Die Lösung für die krisengebeutelte Publishing-Industrie), Perfect Stream („supergeile Technologie“) und in der Print Technology („Da bin ich ganz dick drin“) haben ihn auf Dauer nicht ausgelastet, weshalb Neef vor drei Monaten dazu übergegangen ist, eine neue Firma aus der Taufe zu heben: „Ich bin halt ein Vollblut-Unternehmer.“

Ja, das ist er ganz bestimmt, wie man ihn reden hört von der „Authentizität“, dem „klarem Wertesystem“ und von der „Mission“, bei all seinen Unternehmungen den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Mit „Mama“ wagt Neef also den Neuanfang, Mama wie Mutter Erde, „Mama Sustainable Incubation AG“, um genau zu sein, was in etwa bedeutet, dass das Unternehmen sich als eine Art Brutkasten versteht, als Fonds, der die (Markt-)Entwicklung nachhaltiger Lösungen auf den Gebieten alternativer Energien und „grüner“ Technologien finanziert und vorantreibt – „zur Gestaltung einer besseren Zukunft“, sagt Neef – versteht sich.

Vorwärts, immer vorwärts

Was aus den Unternehmen des Neuen Marktes geworden ist

Was sich ein bisschen zu wolkig und wohlig anhört, um wahr zu sein, ist durchaus mit Substanz unterlegt. Niemand unterschätze Paulus Neef! Das Dow-Jones-Unternehmen 3M ist bei Mama eingestiegen, um sein „Bekenntnis zu ökologischer und sozialer Verantwortung“ zu unterstreichen; der Aufsichtsrat tagt unter dem Vorsitz von Carlo Jäger, Professor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. 50 Millionen Euro will Neef fürs Erste einsammeln; 50 Projekte evaluieren, fünf auf den Weg bringen – und zeigen, dass die Kluft zwischen Grundlagenforschung und der „Marktfähigkeit von großartigen Ideen“ überbrückbar ist. „Ich will noch mal was Großes machen“, sagt Neef – und dabei nicht weniger, als sich selbst übertreffen: Paulus Neef, der Gründer, für den es keine Gründerzeit braucht.

Alexander Olek ist auch so einer. Der promovierte Molekulargenetiker hat bereits zwei Unternehmen geführt und sich aus beiden zurückgezogen: Epigenomics, ein Biotech-Startup aus dem Jahre 1998, und Phorms, ein Bildungsunternehmen, das in Deutschlands Großstädten bilinguale Privatschulen betreibt. Olek muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er es an Konstanz und Ausdauer vermissen lässt – und dass er seinen Unternehmen immer dann den Rücken kehrt, wenn sie eine Formschwäche zeigen. Lange hat er der Versuchung widerstanden, Epigenomics an die Börse zu bringen – bis er es im Jahr 2004 dennoch tut. Der Neue Markt ist damals schon beerdigt, Epigenomics geht an die Nachfolger-Börse Prime Standard – und rutscht gleich am ersten Tag unter den Ausgabepreis. Im Sommer 2006 trennen sich die Wege von Epigenomics und Olek – kurz bevor der Pharmazie-Gigant Roche seine Zusammenarbeit mit dem Unternehmen beendet und der Aktienkurs um 40 Prozent einbricht. Vor zwei Monaten wiederum beendet Olek sein Engagement bei Phorms – kurz nachdem bekannt wird, dass dem Unternehmen bei seiner Expansion schwere Planungsfehler unterlaufen sind. Ob Olek mit seinem Kopf schon wieder woanders war? „Das nicht“, sagt Olek, „aber es stimmt schon, dass ich mich sehr schnell motivieren und demotivieren kann.“

olek

Finanziell gereicht es ihm nicht zum Nachteil. Mit dem Verkauf der Epigenomics-Anteile habe er sein Vermögen verdoppelt, sagt Olek, mit dem Verkauf der Phorms-Anteile noch einmal. Man sei sich in beiden Fällen über die weitere Unternehmensstrategie nicht mehr einig gewesen, sagt Olek, so etwas passiere. Während es anderen um die Konsolidierung des Geschäfts gegangen sei, habe er auf Wachstum und Dynamik gedrängt: „Ich bin nun mal ein Vorwärtsdenker, ein Unternehmer, ein Überzeugungstäter.“ Und natürlich ein Chaot, Olek weiß es, ein großes Kind, dem sein Spielzeug schnell langweilig wird, ein leicht Entflammbarer, ein unverbesserlicher Weltverbesserer, ein unruhiger Geist, der nicht mal seine Marlboros genießen kann, weil sich die vielen Gedanken in seinem Kopf immer einen Tick zu schnell drehen.

Olek gehört zu den Menschen, die im Hauptbahnhof 20 Eterna-Hemden für 59,90 Euro das Stück kaufen, nur um ein paar Jahre ihre Ruhe zu haben und nicht shoppen gehen zu müssen. Geld interessiert ihn nicht, er hat es ja, das reicht – nicht, um es auszugeben („schale Sache!“), sondern um es einzusetzen: für seine Träume, für die Zukunft seiner Kinder. Olek hat vier, sie sind acht und sechs und vier und zwei Jahre alt; er hat sie Nelson (wegen Mandela) und Jeanne (d’Arc) und Robin (Hood) und Sophie (Scholl) getauft – und er hat sich damit ziemlich genau die heldenhaft-solidarische Welt zurechtfantasiert, an der er so tatkräftig herumzimmert.

Triumph der Bodenständigen

Vor drei Monaten hat sich Olek in Berlin-Mitte ein neues Büro gemietet, 200 Quadratmeter, dunkel gebeiztes Stabparkett, weiße Regale, dazwischen viele Umzugskartons, ein paar Computer und drei Mitarbeiter, die er von Phorms mitgenommen hat. Sein neues Unternehmen heißt Themes – und die Themes-Idee fängt ziemlich genau da an, wo die Phorms-Idee aufhört. Mit Phorms hat Olek „bilinguale Weltklasse-Bildung auf Grundschul-Niveau“ anbieten wollen; mit Themes will Olek ein Netzwerk internationaler Schulen für 14- bis 18-Jährige aufbauen, die sich auf alle Kontinente verteilen, je ihren eigenen Fokus haben und „great global themes“ bearbeiten, also „Nachhaltigkeit“, „Energie“, „Nahrung“, „Religion“ und „Musik/Kunst“. In Kenia hat Olek sich am Rande des Tsavo-Nationalparks bereits ein Stück Land gekauft. Hier entsteht die erste Themes-Schule, Schwerpunkt „Natur- und Artenschutz“.

Tapferer als die Höhenflieger schlagen sich in den Jahren nach dem Crash die Bodenständigen. Und so ist es vielleicht bezeichnend, dass eines der wenigen Unternehmen aus dem Neuen Markt, dessen Aktienkurs heute über dem Emissionspreis liegt, ein Unternehmen ist, das diesen Neuen Markt nie repräsentiert hat: Pfeiffer Vacuum. Und es ist ganz sicher die schönste Pointe in der jüngeren Börsengeschichte, dass ausgerechnet ein Unternehmen, das über die Herstellung von Vakuumpumpen buchstäblich mit dem „Nichts“ Geld verdient, sich als Substanzwert erwiesen hat, während die frech behauptete Substanz so vieler Internet- und Biotech-Firmen sich buchstäblich in Nichts auflöste.

Pfeiffer Vacuum war gleich in doppelter Hinsicht kein typischer Neuer-Markt-Wert. Erstens wurde das hessische Unternehmen bereits 1890 gegründet und zweitens bereits 1996 an die Börse gebracht: in New York, nicht in Frankfurt – ein Jahr, bevor es den Neuen Markt überhaupt gab. Damals, 1996, gehörte Pfeiffer Vacuum zum Oerlikon-Konzern, der sich einen weiteren Wettbewerber einverleibt und von der Kartellbehörde die Auflage erhalten hatte, Pfeiffer Vacuum im Gegenzug abzustoßen. „Es war gewissermaßen unsere Zweitgründung“, sagt Vorstandschef Manfred Bender. Der Erlös des Börsengangs sei an die Mutter geflossen, man habe sozusagen bei null angefangen, bei 6,26 Euro pro Aktie – und das Wunderbare sei, dass der Kurs seither nie unter den Emissionspreis gefallen sei.

Analysten forderten mehr Aggressivität

Natürlich, sagt Bender, habe Pfeiffer Vacuum schon 1996 versucht, in Deutschland gelistet zu werden, „aber als mittelständisches Unternehmen mit 25 Millionen Euro Marktwert hatten wir damals keine Chance“. Die Aufnahme in den Neuen Markt erfolgte 1998 daher im Wege des Zweitlistings. Der Wert der Aktie hatte sich zwischenzeitlich verachtfacht – und das Papier seine steilste Karriere in dem Moment hinter sich, als die Internet-Buden an den Neuen Markt drängten.

Bender ist stolz darauf, dass Pfeiffer Vacuum seit dem Börsengang profitabel, zu keiner Zeit Banken verpflichtet war – und dass das Unternehmen seine Kapitalbasis durch die Thesaurierung von Gewinnen sukzessive hochschrauben konnte. „Es gab in der Hochphase des Börsenbooms viele Analysten, die sich von uns mehr Aggressivität gewünscht haben“, sagt Bender. Letztlich sei das Unternehmen jedoch stets von Aktionären getragen gewesen, die langfristig gedacht hätten. „Wirklichen Einfluss aufs Tagesgeschäft hatten die Bocksprünge am Aktienmarkt daher für uns nie“, sagt Bender.

lehmann

Andere, weniger erdnahe Charaktere haben diese Bocksprünge aus der Bahn geworfen oder mitten hinein ins Leben eines Millionärs – oder beides. Mark Lehmann war schon Spekulant, als mit dem Börsengang der Telekom 1996 in Deutschland das Wettfieber einsetzt. 5,1 Millionen Mark stehen an einem Tag im Juni 1997 in seinem Depot zu Buche – 5,1 Millionen Mark, drei Jahre vor dem großen Crash, nur einen Anruf weit entfernt... Doch Mark ruft seinen Bankberater nicht an.

Schon als 16-Jähriger hatte er Bücher über Getty und Rockefeller gelesen und sich vorgenommen, reich zu werden. Mark hat ein eigenes Depot – und einen sicheren Tipp vom älteren Bruder: die Papiere eines kleinen Software-Unternehmens, die jedes Jahr zur Cebit steigen. Und siehe da, es funktioniert. Jahr für Jahr verwandeln sich 2000 in 2500 Mark – und Mark „entwickelt die Sichtweise, dass man mit den richtigen Entscheidungen an der Börse gutes Geld verdienen kann“. Mark bricht ein BWL-Studium „wegen Statistikdefiziten“ ab, studiert visuelle Kommunikation, fotografiert für eine Agentur, er hat mit 23 eine Goldene Mastercard und nie weniger als 10 000 Mark auf dem Konto. Anfang 1996 ahnt er, „dass die neuen Technologien den Kapitalmärkten einen Schub geben werden“. Mark kauft für 15 000 Mark Optionsscheine. Das Unternehmen „Ich werde Millionär“ beginnt.

Richtig Entschieden, Gutes geld

Anfangs läuft die Sache prima. Ende 1996 hat Mark 44 000 Mark auf dem Konto, er kauft und verkauft Calls der Telekom, er hat im Mai eine Million gewonnen – und im Juni fünf. Theoretisch. Denn Mark kann sich nicht dazu durchringen, die Papiere zu verkaufen, ihn stören die Gebühren, noch dazu muss alles schnell gehen – und so ist der Tag plötzlich vorbei, die Möglichkeit verstrichen. Marks Papiere sind nicht wertlos geworden, im Gegenteil. Als er am Jahresende Bilanz zieht, stehen immer noch rund 2,4 Millionen Mark zu Buche. Also macht Mark weiter, er spürt, „dass der Markt nach oben will“, und sein Gespür trügt nicht – nur dass er diesmal auf die falschen Pferde setzt. Bis Ende 2008 schrumpft sein Vermögen auf 406 000 Mark. Gleichzeitig flattert ihm ein Bescheid des Finanzamts in Haus: Der Fiskus fordert 900 000 Mark Steuern aus den Spekulationsgewinnen des Vorjahres. Mark Lehmann ist jetzt kein Buchwert-Millionär mehr. Mark Lehmann ist bankrott.

Als Millionär habe er sich nie gefühlt, sagt Mark heute, dafür war die Zeit zu kurz. Er gönnt sich damals einen Ralph-Lauren-Sessel und einen Design-Herd, das ist alles, er zieht in eine größere Wohnung und wieder retour, kein Problem, nur die Motivation, die ist im Keller. Erst als das Finanzamt auf seine Forderungen verzichten muss, hellt sich Marks Stimmung wieder auf. Plötzlich steht er mit 200 000 Euro im Plus. „Andererseits sind 200 000 Euro eine blöde Summe“, sagt Mark, man kann sich vielleicht eine Wohnung kaufen, aber nicht leisten. Seine Freundin warnt ihn: „Wenn du das wieder verzockst, dann möchte ich nicht mehr.“ Doch Mark kauft Calls der Telekom, verliert bis Mitte 2006 sein Geld – und seine Freundin. Geblieben ist ihm seine Faszination für die Börse. Er hat psychologische Hilfe in Anspruch genommen, er hat sich berappelt – und er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass, wenn er einmal von sich selber absehe, „die Börse eine großartige Investitionsmaschine ist, die Träume hervorbringt, realisiert – und die sie manchmal auch befriedigt“. 

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