Strategie Fünf wegweisende Konzepte für neues Wissensmanagement

Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft haben einige Unternehmen ihre Organisationen radikal umgekrempelt. Statt auf Hierarchien setzen sie auf Kooperation oder teilen ihr Wissen mit Branchenfremden

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Kunden innovativer als der Chef

Wissen vermehrt sich nur, wenn man es teilt. Und so teilen sich nicht nur führende Vordenker von Henkel, Grohe oder Vodafone alle zwei bis drei Monate einen Raum – sie teilen auch ihr Wissen, ganz ohne Konkurrenzdenken. Das Ziel ihres branchenübergreifenden Brainstormings: Antworten finden auf die Frage, wie wir in 10 oder 20 Jahren leben, wohnen und arbeiten.

Es ist eine bunt gemischte Truppe aus rund einem Dutzend Vertreter unterschiedlichster Unternehmen und Branchen, die sich auf „Future Bizz“ zusammengefunden haben, einer Kooperationsplattform für innovative Unternehmen. Einer der Teilnehmer: Eckard Foltin.

Der 54-Jährige, intern in Anlehnung an den genialen James-Bond-Tüftler nur „Q“ genannt, leitet das Creative Center beim Kunststoffhersteller Bayer Material Science und gibt offen zu: „Die Zukunft kennt zwar keiner. Aber gemeinsam können wir sie immerhin mitgestalten.“

Matrix statt Pyramide

Und tatsächlich: So einiges, was Foltin und seine Kollegen vorausahnen, birgt ordentlich Zündstoff.

Fortschritt und Hierarchien – das verträgt sich demnach kaum noch. Stattdessen gleichen Organisationen künftig eher einer flexiblen Matrix: Projektteams und deren Zusammensetzung entstehen unternehmensübergreifend und ändern sich temporär – je nach Aufgabenstellung. Ist das Projekt abgeschlossen, lösen sich diese Gruppen oftmals genauso schnell wieder auf, wie sie entstanden sind.

„Nur geteiltes Wissen ist wertvolles Wissen“, sagt Lutz Leuendorf, Professor für Wissensmanagement von der Hochschule Furtwangen. „Es entscheidet darüber, wer in einem Unternehmen oder einer Branche etwas zu sagen hat – je nach Kontext, immer wieder aufs Neue“.

Der Gedanke ist, zugegeben, nicht allzu neu. Seit Jahren schon prophezeien Organisationswissenschaftler einen solchen Wandel und predigen die moderne Wissensgesellschaft, in der Manager statt nur zu führen umso mehr motivieren und integrieren können müssen.

Aus der Theorie ist inzwischen Praxis geworden. Schon jetzt gibt es eine ganze Reihe von Unternehmen, die diese radikalen Konzepte nicht nur vordenken, sondern auch anwenden. Ganz pragmatisch teilen sie Wissen, brechen Strukturen auf, bevor diese das Denken zementieren.

Etwa Mammut: Der Schweizer Hersteller von Wander- und Skikleidung suchte über die frei zugängliche Internet-Plattform Atizo einen leichten, robusten und spritzwasserfesten Reißverschluss. Innerhalb von vier Wochen stellten dort mehr als 200 Tüftler 345 Vorschläge online – der Gewinner ließ sich vom Schließprinzip eines Gefrierbeutels inspirieren. Zwei Monate später hatten fünf Teilnehmer, die sich zufällig auf der Plattform gefunden hatten, einen funktionstüchtigen Prototypen entwickelt.

Wieder andere geben ihren Belegschaften ein erstaunlich hohes Maß an Freiheiten – mit noch erstaunlicherem Erfolg:

Beim brasilianischen Industriekonzern Semco zum Beispiel können Mitarbeiter nicht nur ihre Arbeitszeit selbst festlegen, es darf auch jeder Meetings zu einem Thema seiner Wahl einberufen und diese im Intranet bewerben.

Was das soll? Zuerst einmal einen ständigen Fluss an neuen Ideen. Und weil die Teilnahme für alle stets freiwillig ist, kommt auch noch ein reger Austausch zustande. Denn, so die Idee von CEO Ricardo Semler: Nur wer motiviert ist, an einem Treffen teilzunehmen, lernt dazu und trägt auch viel dazu bei.

Noch nicht radikal genug? Kein Problem. Auf den folgenden Seiten stellen wir Ihnen eine Auswahl teils noch viel kühnerer Konzepte hiesiger Vorreiter-Unternehmen vor. Und wir sind sicher: Sie werden keine Ausnahmen bleiben.

Microsoft: Die Campus-Company

Microsoft

Anrufe wie diesen bekommt Sascha Grunow jetzt öfter: „Wir sitzen hier gerade mit einem Kunden zusammen, komm doch bitte mal dazu.“

Keine Minute später hat Grunow, Geschäftsführer des Software-Unternehmens Trinedy, sein Büro im zweiten Stock des Microsoft Campus am Kölner Rheinauhafen verlassen und sitzt eine Etage höher mit Vertretern von Microsoft und Qiagen zusammen. Das Biotech-Unternehmen möchte alle seine Standorte weltweit per Intranet verbinden und in die elektronische Plattform eine Suchfunktion integrieren.

„Auch in Zeiten virtueller Kommunikation sind kurze Wege ein großer Vorteil“, sagt Paul Meier, der die NRW-Zentrale von Microsoft in Köln leitet. „Dadurch können wir uns viel effektiver und intensiver austauschen als bisher.“

Genau das ist das Konzept des Kölner Campus: In dem futuristisch geschwungenen Neubau hat Microsoft auf fünf Etagen und 6750 Quadratmetern Bürofläche nicht nur Platz für seine derzeit 320 eigenen Mitarbeiter geschaffen, sondern bewusst auch Räume für Partner-Unternehmen wie etwa Trinedy eingeplant.

Offenbar ein attraktives Konzept: Beworben hatten sich auf Anhieb 80 Unternehmen, ein Dutzend bekam den Zuschlag.

Damit sind noch einmal rund 180 Fremdangestellte auf dem Campus-Gelände eingezogen. Und die machen dort nicht nur Geschäfte in ihren eigenen Räumen, sondern sind oft auch auf den Microsoft-Etagen zu finden. Mal buchen sie dort Konferenzräume für Kundenveranstaltungen, mal diskutieren sie mit Mitarbeitern von Microsoft.

„Ob morgens in der Cafeteria, nachmittags im Büro oder abends in der Tiefgarage – wir laufen uns hier permanent über den Weg“, sagt Martin Schauer. „Das macht die Kommunikation sehr unkompliziert.“

Vernetzung ist intensiver geworden

Schauer ist Vertriebsleiter von AddOn, einem mittelständischen IT-Systemhaus mit Stammsitz nahe Stuttgart und Partner-Unternehmen von Microsoft. Seit 2008 ist AddOn mit einem Büro auf dem Kölner Campus vertreten. Das Ziel: vor allem seinen Kunden aus Nordrhein-Westfalen die Vorzüge von Microsoft-Lösungen anschaulich machen.

So wie neulich bei einem Unternehmen aus dem Kölner Umland, das sich für einen neuen Server interessierte.

„Früher hätten wir für ein solches Meeting alle in die Microsoft-Deutschlandzentrale nach München reisen müssen“, sagt Schauer. Heute müsse er dafür nur ein paar Schritte gehen. Und sein Kunde nur wenige Kilometer fahren, um einen leibhaftigen Eindruck von der Kommunikationswelt der Zukunft zu bekommen.

Die Vernetzung zwischen Partner-Unternehmen, Kunden und Mitarbeitern sei so „viel intensiver“ geworden, bestätigt auch Campus-Standortleiter Meier. Der Campus wirke wie ein Magnet: „Dadurch bekommen wir Kontakte zu Kunden, die wir bislang nicht auf unserem Radar hatten.“

Als etwa kürzlich die Vertreter eines Telekommunikationskonzerns und eines Familienunternehmens ein neues Software-Projekt besprechen wollten, trafen sich die Manager nicht in der firmeneigenen Zentrale, sondern mieteten dafür ganz bewusst einen der Konferenzräume auf dem Kölner Microsoft Campus an. Insbesondere, weil sich die Telekommanager so gleich noch Vertreter des Hausherrn, ihres Partner-Unternehmens, mit an den Verhandlungstisch holen konnten. Ergebnis: Am Ende hatte auch Microsoft einen Auftrag in der Tasche.

„Ohne unser Campus-Modell“, sagt Standortleiter Meier, „hätte das nicht geklappt.“

Angesichts solcher Erfolge steht schon jetzt fest, dass das Objekt ausgebaut werden soll. In etwa einem Jahr sollen auf dem Campus Süd zusätzliche 2800 Quadratmeter Bürofläche bezugsfertig werden. Für den April 2012 ist bereits der Baubeginn für Campus West beschlossen. Dort gibt es dann ab Anfang 2014 auf rund 15500 Quadratmetern Platz für bis zu 30 weitere Partnerunternehmen.„Die Warteliste“, sagt Meier, sei schon jetzt „beträchtlich“.

Itemis: Vier Tage arbeiten, einen Tag tüfteln

Itemis

Mario Wündsch interessiert sich gerade sehr für die Zukunft der Smartphones: Überholen Android-Handys bald das iPhone? Falls ja, wie lassen sich dafür neue Applikationen entwickeln? Wündsch tippt die Fragen in den Computer seines Büros in Lingen. Und diskutiert sie mit zwei Kollegen in Pforzheim uand Kiel, die von dort über den Kommunikationsdienst Yammer zugeschaltet sind.

Nichts Besonderes, möchte man meinen.

Ist es aber. Denn Software für Smart‧phones zu entwickeln, gehört nicht zu Wündschs Aufgaben. Der Informatiker brütet eigentlich über maßgeschneiderter Unternehmenssoftware – jüngst entwickelte er für einen Baumarkt eine Kundenkarte mit Rabattsystem.

Doch heute ist Freitag. Und am fünften Tag der Woche sind solche scheinbaren Extratouren nicht nur erlaubt – sie sind ausdrücklich Pflicht bei Wündschs Arbeitgeber. Itemis, ein mittelständischer Software-Entwickler aus Lünen bei Dortmund, hat seiner Belegschaft ganz bewusst regelmäßige Weiterbildung verordnet. „4+1“ heißt die schlichte Formel, die seit knapp vier Jahren den Arbeitsrhythmus der 140 Mitarbeiter prägt – und seitdem jedem von ihnen 20 Prozent der wöchentlichen Arbeitszeit zur freien Fortbildung überlässt.

Ob die Kollegen dann, wie in Wündschs Fall, eine sogenannte Study Group gründen, um Lösungen außerhalb ihrer täglichen Projektarbeit zu finden, ob sie in der Zeit Fachartikel oder Fachbücher schreiben oder ihr Englisch aufmöbeln: Weiterentwicklung ist hier ganz bewusst ein dehnbarer Begriff – selbst die Runde Golf mit dem Chef gehört dazu.

„Unsere Mitarbeiter sollen sich nach Lust und Laune weiterentwickeln können“, sagt Itemis-Personalchef Jens Trompeter. Mit Altruismus hat das dennoch nichts zu tun: „Innovation ist unser Geschäftsmodell“, sagt Trompeter. Entsprechend kluge und entwicklungsfreudige Mitarbeiter brauche das Unternehmen. Die kämen aber nur, wenn der Arbeitgeber „interessante Angebote im Köcher“ habe.

Dass gerade hoch qualifizierte Programmierer dabei weniger an schicke Dienstwagen denken, stellte Itemis-Personalchef Trompeter in zahlreichen Bewerbungsgesprächen und einer Mitarbeiterbefragung fest: Dort standen vielmehr die „Beschäftigung mit neuesten Technologien“ und „Freiräume für eigenverantwortliche Weiterbildung“ ganz oben auf dem Wunschzettel.

Wie bei Holger Willebrandt. Für den Informatiker war das 4+1-System einer der Hauptgründe, sich nach dem Studium für Itemis zu entscheiden. Weil er zuletzt viele Monate am Stück in ein Kundenprojekt eingebunden war, hat er gerade eine ganze Woche Fortbildung nachgeholt, eine zweite folgt im Januar 2011. Auch das ist Teil des 4+1-Konzeptes: Die Lernzeit lässt sich aufsparen.

Und nicht selten entstehen aus diesen Denkzellen Ideen für neue Geschäftszweige: Seit Kurzem gibt es bei Itemis den Geschäftsbereich „Mobile Apps“.

Deutsche Post: Aufnahme in den Club der Denker

Deutsche Post

Die Vorgaben des Herstellers waren eindeutig: Alle 8000 Betriebsstunden, also etwa einmal pro Jahr, sollten die Drucker bei der Deutschen Post generalüberholt werden. Für den Hersteller ein lukratives Geschäft in Millionenhöhe – für Bernhard Birnbach und sein Team dagegen ein Ärgernis.

„Das geht billiger“, dachte sich der Ingenieur aus der Abteilung Materialwirtschaft am Standort Darmstadt. Erst fing er nur an zu rechnen, dann gründete er mit seinen Kollegen innerhalb weniger Wochen eine eigene Druckerwerkstatt. Die wartet die Geräte seit Februar dieses Jahres jetzt selbst – und zwar nur noch alle 16000 Betriebsstunden. Jährliche Ersparnis: rund 500000 Euro.

„Es hat mir Spaß gemacht, darüber nachzudenken, wie die Post Geld sparen kann“, erklärt Birnbach sein Engagement. Den anderen Grund nennt er aber auch: Umgekehrt bringe das Unternehmen ihn selbst ebenfalls voran.

Und zwar mit einem ausgeklügelten Konzept für Ideenmanagement: Der ‧Logistikkonzern melkt seine Mitarbeiter nicht nur als Ideenlieferanten, er belohnt sie auch fürstlich für ihren Einfallsreichtum. Wer Verbesserungsvorschläge macht, die sich langfristig bewähren, wird Mitglied im exklusiven „Club der Denker“.

Für die Neumitglieder bringt das zahlreiche Vergünstigungen: Sie werden mit zehn Prozent an der Summe beteiligt, die der Konzern jährlich durch das Umsetzen ihrer Idee spart.

Wichtiger aber noch als der finanzielle Lohn sind die immateriellen Anreize: regelmäßiger Erfahrungsaustausch mit den hellsten Köpfen des Unternehmens, gesponserte Weiterbildungsprogramme sowie reichlich Aufmerksamkeit durch die Konzernspitze, was nicht selten die Karriere befördert.

Das rechnet sich für alle Beteiligten. Rund 1,5 Millionen Verbesserungsvorschläge haben die weltweit knapp 500000 Post-Mitarbeiter ihrem Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren geschenkt. Und über 1,4 Milliarden Euro hat der Konzern dadurch gespart.

Die bessere Lösung liegt oft ganz nahe. So empfahl Michelle Merrick, Mitarbei‧terin der Post-Tochter DHL Global Forwarding in Dallas, die Verträge mit den Energielieferanten wieder auszuschreiben und neu zu verhandeln. Allein in Dallas sparte die Post dadurch knapp 150000 Dollar.

Merricks Vorschlag wurde daraufhin in allen nordamerikanischen DHL-Standorten aufgegriffen, Pilotprojekte in Großbritannien und den Niederlanden folgten.

Allein 2009 reichten die Post-Mitarbeiter mehr als 222000 Verbesserungsvorschläge ein. Hinweise auf eine effizientere Kühlung empfindlicher Waren waren ebenso dabei wie Empfehlungen für die Enteisung von Frachtflugzeugen oder Spritspartipps für Briefträger.

Dank dieses Engagements konnte die Post im vergangenen Jahr rund 274 Millionen Euro sparen. Im Vergleich zu 2008 noch einmal ein sattes Plus. Und 2010, so die interne Prognose, wird  höchstwahrscheinlich noch mehr gespart.

Nach den Berechnungen des Deutschen Instituts für Betriebswirtschaft nimmt die Post mit ihrem Ideen- und Innovationsmanagement seit Jahren den Spitzenplatz in der deutschen Unternehmenslandschaft ein. Mit weitem Abstand.

„Kreativität und Innovation sind die Garanten für den künftigen Unternehmenserfolg“, sagt Günter Raffel, Leiter des Ideenmanagements bei der Deutschen Post. Deshalb will der Konzern 2011 sein Ideenmanagement noch weiter ausbauen – insbesondere in den regionalen Niederlassungen und Tochtergesellschaften außerhalb Deutschlands.

Bernd Birnbach denkt schon jetzt über neue Verbesserungen nach: „Ich habe noch ein paar Ideen im Köcher“, sagt Birnbach, „da wird es bei einigen Herren klingeln.“

Procter: Erweckung per Mitarbeitertausch

Procter

Mit der Seifenmarke Ivory fing es an. Ende des 19. Jahrhunderts startete Procter & Gamble eine bis dahin nie gekannte Werbeoffensive: Das Unternehmen schaltete landesweit Anzeigen in praktisch jedem Periodikum – von Tageszeitungen über Fachblätter für Farmer bis hin zu ‧wöchentlich erscheinenden Bibelblättchen. Danach bombardierten die Seifenmacher potenzielle Konsumenten in Radio und Fernsehen, integrierten ihre Seifenspots permanent in zahlreichen täglichen Episoden der Unterhaltungsserien, bis die Zuschauer diese gar auf den Namen „soap operas“ umtauften. Kurz: Procter schrieb Medien- und Werbegeschichte. Damals.

Die Zukunft des Marketings schien das Unternehmen dagegen zu verschlafen: Mit einem Volumen von rund acht Milliarden Dollar ist der Konzern zwar bis heute weltweit der unangefochtene Werberiese – mit einem Anteil von gerade mal zwei Prozent im Online-Marketing allerdings bis vor Kurzem im Web ein Zwerg. Eine Todsünde in Zeiten, in denen potenzielle Käufer mehr Zeit im Internet als vor dem Fernseher verbringen.

Und ein Dorn im Auge von Jim Stengel. Also schlug der damalige Procter-Marketingvorstand dem Internet-Riesen Google vor gut drei Jahren einen spektakulären Deal vor: Die Unternehmen sollten über mehrere Wochen hinweg Mitarbeiter austauschen. Das Ziel: Beide sollten Geschäftsmodell und Unternehmenskultur des anderen besser kennenlernen und einer vom anderen profitieren.

Keine Frage, anfangs prallten Welten aufeinander: Während die Procter-Mitarbeiter weiterhin auf TV-Spots setzten, wunderten sich die neuen Google-Kollegen, warum etwa zu einer Pressekonferenz für die Windelmarke Pampers nicht auch die gefragtesten Blogger rund um das Thema Mutterschaft eingeladen wurden.

Die teils hitzigen Diskussionen, die daraus entstanden, kamen jedoch einer Erweckung gleich. Aufgerüttelt durch die Hinweise der Googler entwickelte Procter eine mehr als ungewöhnliche Online-Kampagne. Darin forderte der Konsumgüterhersteller Verbraucher auf, einen aktuellen TV-Spot, mit dem Procter den Fleckenentferner-Stift Tide bewarb, mal so richtig durch den Kakao zu ziehen. Antiwerbung also – aber mit viralen Effekten.

Um die technischen Hürden so niedrig wie möglich zu halten, installierte Procter einen eigenen Kanal auf der Videoplattform Youtube und unterstützte alle Spaßvögel mit einem Set elektronischer Werkzeuge, mit deren Hilfe sich Sounds, Grafiken und Logos leicht integrieren ließen.

Insgesamt rund 230 Videos wurden während der Aktion hochgeladen, einige davon zeigte Procter sogar später im Fernsehen. „Früher“, sagt Stengel, „wäre das undenkbar gewesen.“

Zwar hat Procter seitdem seine Mitarbeiter nicht mehr in andere Unternehmen geschickt. Doch die bahnbrechende Kooperation mit Google hinterließ nachhaltige Spuren im Marketing-Verständnis: Erstmals entdeckte der Konzern Blogger als Multiplikatoren für sich. So luden die Verantwortlichen kurz nach besagter Pampers-Pressekonferenz rund ein Dutzend Bloggerinnen zu einem Besuch der P&G-Babysparte ein und filmten das Ereignis, um das Video anderen Marken zu Schulungszwecken zur Verfügung zu stellen. Die Mummy-Blogger wiederum berichteten Millionen ihrer Fans via Internet von ihren hautnahen Erfahrungen mit dem Konsumgüterriesen.

„Für uns war das ein völlig neuer Kommunikationsansatz“, sagt Bryan McCleary. Online-affine Konsumenten mögen keine plumpe Werbung, so die Erkenntnis des Pampers-Sprechers aus der Kooperation mit Google, „aber für spannende Geschichten sind sie immer zu haben“.

Gore: Startup-Klima dank Zellteilung

Gore

Mit Funktionstextilien unter der Marke Gore-Tex hat sich das Unternehmen einen Namen gemacht. Seit Jahren steht es in den Top Ten der 100 besten Arbeitgeber in den USA, Deutschlands und zahlreichen anderen europäischen Ländern. Rund 9000 Mitarbeiter arbeiten weltweit aktuell für Gore – und doch herrscht dort noch immer das Klima wie in einem Startup in der zweiten Finanzierungsphase.

Forscher, Vertriebsmitarbeiter, In‧genieure und Chemiker arbeiten oft noch im gleichen Gebäude. Diese Nähe er-zeugt regen Austausch, auch jenseits der eigenen Fachkompetenz. Damit das auch so bleibt, hat eine Niederlassung nach Möglichkeit nicht mehr als 200 ‧Mitarbeiter. Wächst der Standort wesentlich darüber hinaus, wird eine neue Einheit aufgemacht. Nur durch die regelmäßige Zellteilung bleibe die Atmosphäre bestehen, die nötig ist, um das kreative Potenzial jedes Mitarbeiters optimal auszuschöpfen, sagt Eduard Klein, einer von drei Geschäftsführern von Gore Deutschland.

Ständig wird im Unternehmen an Hunderten neuen Projekten gleichzeitig gearbeitet. Rund 1000 Produkte hat Gore in ‧seinem Sortiment, darunter ebenso widerstandsfähige wie flexible Kunststoffein wasserdichten Sportschuhen, in Prothesen, Brennstoffzellen, in medizinischen Diagnosegeräten oder gar im ‧Spaceshuttle. Ein klassisches Kerngeschäft gibt es nicht – die DNA des Unternehmens ist eine Art Ideenmarkt.

Und es darf auch mal länger dauern, bis etwas Zählbares dabei herauskommt. Drei Jahre tüftelte etwa der Ingenieur Dave ‧Myers daran, wie man das Gore-Tex-Gewebe auch für Gitarrensaiten verwenden könnte – obwohl das Unternehmen zu dem Zeitpunkt nicht in der Musikindustrie tätig und Myers eigentlich mit der Entwicklung von Herzimplantaten beschäftigt war. Dennoch fing er an, sich an diesem Thema regelrecht festzubeißen.

Myers sammelte ein kleines Team um sich, das jahrelang herumexperimentierte, ohne sich je um offizielle Rückendeckung der Geschäftsleitung bemühen zu müssen. Und das zahlte sich aus: Am Ende entwickelte Myers’ Gruppe eine ‧Saite, die den Ton bis zu fünf Mal länger hält als Konkurrenzprodukte. Heute sind Gitarrensaiten der Marke Elixir sogar Marktführer.

„Make money and have fun“ – verdiene Geld und hab Spaß dabei, nach diesem Leitmotiv gründete der damals 45-jährige Chemiker Bill Gore 1958 das Unternehmen, das seitdem alles daransetzt, auf die üblichen Kontrollmechanismen zu verzichten. Ein Unternehmen, in dem Chefs und Hierarchien die Ausnahme und Aufsichtspersonen überflüssig sind. Das flach wie ein Pfannkuchen ist und sich organisiert wie ein Gitternetz: Mit Teams aus gleichberechtigten Mitarbeitern, die eng vernetzt, aber auch fachübergreifend zusammenarbeiten. Kurz: Eine dichte Struktur, in der die Informationen nicht nur von oben nach unten, sondern in alle Richtungen fließen.

Auch, weil die Ideen nicht das Eigentum der Person bleiben, die sie gebiert. Das Not-invented-here-Syndrom – Vorschläge anderer werden erst einmal abgewatscht – kennt man bei Gore nicht. Einfluss gewinnen kann prinzipiell jeder Mitarbeiter – wenn er beweist, dass er Aufgaben lösen und Teams formen kann.

Deutschland-Geschäftsführer Klein etwa ist permanent in einem halben Dutzend Projektteams dabei, mal als Teamleiter, mal als einfaches Mitglied. „Das hängt letztlich vom Thema ab“, sagt er.

Nur eines ist immer gleich: Statussym‧bole spielen keine Rolle. Auch eine Sekretärin brauche er nicht. Lieber erledige er alles im direkten Gespräch. Auch mit den Mitarbeitern des Reisebüros: „Meinen Terminkalender und meine Flüge“, sagt Klein, „kann ich auch selbst organisieren.“

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