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Weblog Leben+Literatur

Nachmittag eines Bahnfahrers

In unseren Bahnhöfen ist täglich Tag der offenen Psychiatrie. Vor allem auf den Bahnsteigen. Kein Wunder, sie führen Menschen aller Klassen und Milieus zusammen. Für einige Minuten stehen und sitzen da einander Unbekannte beisammen und bilden provisorische Gemeinschaften von Wartenden: Durchreisende, Pendler und Ausflügler, aber eben auch Betrunkene und Verwirrte, denen man in der Regel schnell anmerkt, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, weshalb es in solchen Fällen ratsam ist, auf Distanz zu gehen.

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Es könnte sonst unangenehm werden. Vor einer Woche zum Beispiel hörte ich in der B-Ebene des Kölner Hauptbahnhofs eine Frau jammern, stöhnen und schreien, sodass die Sitzplätze in der Nähe der Gequälten sich leerten, als ginge von ihr Ansteckungsgefahr aus oder eine diffuse Bedrohung. Manchmal kann es aber auch passieren, dass ein scheinbar normaler Zeitgenosse plötzlich sein zweites Gesicht zeigt.

So ist es mir am vergangenen Samstag gegangen, als ich mich auf dem Bahnsteig des Düsseldorfer Hauptbahnhofs auf eine Bank unter einem Glasdach setzte, mit dem Rücken zu einer Frau von schätzungsweise Mitte vierzig, die mir nicht weiter aufgefallen war. Ich nahm meinen Kugelschreiber und machte ein paar Korrekturen, als die Frau um die Bank herumging und sich mir zuwendete. „Ihr Haar“, sagte sie, „wird auch langsam schütter.“ Ich schaute zu ihr auf, sagte: „Tja, das ist halt der Gang der Dinge“, und wollte mich wieder meinem Text zuwenden, als sie sagte: „Es macht Ihnen wohl Spaß, andere Leute zu imitieren.“

Dazu presste sie die Lippen zusammen, wie ich es wohl getan hatte, als ich meine Notizen machte, und ich erwiderte: „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Hauptsache einen Job, was?“, gab sie zurück und sah mich missbilligend an. Es wurde ungemütlich, ich versuchte so zu tun, als kümmerte mich die Frau nicht weiter, was natürlich nicht stimmte, zumal sie sich schräg gegenüber von mir aufstellte und wieder meinen Gesichtsausdruck nachäffte.

So war ich dankbar, dass über Lautsprecher mein Zug angekündigt wurde. Ich stand auf, ging an ihr vorbei und sagte noch: „Ich wünsche Ihnen alles Gute“, „Ha!“, rief sie, und ich verschwand erleichtert in der Menge, die den Waggons zuströmte. Der Zug fuhr los, von meinem Sitz aus betrachtete ich mein Spiegelbild im Fenster und beschloss noch am selben Nachmittag, zum Friseur zu gehen.

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