Blick hinter die Zahlen #29 – Berufspendler Die Pendlerströme sprechen fürs Rad

Die Coronapandemie hat den Arbeitsplatz vieler Angestellten in die eigene Wohnung verlegt. Im Sommer und Herbst stiegen einige Berufstätige wieder langsam in den Zug, aufs Rad oder ins Auto. Vieles spricht dafür, dass der Post-Corona-Zeitgeist vor allem den Fahrradpendlern in die Hände spielt.

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Der erste Kaffee am Bahnhof, die Buchlektüre während der Zugfahrt oder der Podcast im Auto – Pendler ertragen ihren Weg zum Job oft stoisch dank ihrer Rituale. Doch die Zeiten haben sich geändert, das Homeoffice ist das neue Normal. Jeder Vierte arbeitet derzeit dauerhaft von zu Hause. Wegen Corona hat sich die Zahl der Heimarbeiter im Vergleich zu Vorkrisenzeiten auf einen Schlag verfünffacht. Und das Echo auf die neue Arbeitswelt ist branchenübergreifend positiv: Es funktioniere erstaunlich gut. Konzerne wie Siemens wollen Homeoffice ausbauen, anderen wie Adecco reduzieren ihre Büroflächen. Deutschland verändert sich.

Das dürfte auch den Pendelrhythmus der Arbeitnehmer verändern. Nicht nur, weil möglicherweise eine zweite Welle droht. Sondern auch, weil Zoom-, Team- und Skype-Calls ihre Vorteile unter Beweis gestellt haben. Arbeitnehmer könnten in Zukunft beispielsweise später zur Arbeit fahren, um den Verkehrsinfarkt zu umfahren, tageweise von zu Hause aus arbeiten, um sich nebenher um die Familie zu kümmern oder das Büro in ein näher gelegenes Co-Working-Büro verlegen, um schneller konzentriert arbeiten zu können. Alles scheint möglich – sofern der Arbeitgeber mitspielt. Es wäre gleichzeitig ein guter Zeitpunkt, seine Mobilitätsstrategie neu zu denken. Wie wollen wir Arbeitnehmer in Zukunft zur Arbeit pendeln, sprich: wie oft, wann und mit welchem Verkehrsmittel?

Die Distanz zur Arbeitsstelle ist für die Allermeisten in Deutschland vergleichsweise kommod. Fast jeder Zweite legte vor der Coronapandemie eine Strecke von unter zehn Kilometern zurück, bevor er seinen Arbeitsplatz erreicht. Das wäre mit dem Rad – teils auch zu Fuß – gut zu schaffen. Vor der Krise sind so aber nur rund 17 Prozent zum Job gependelt. Ein paar Leute fuhren auch mit der S-Bahn oder dem Zug – dank Maskenzwang heute kein echtes Vergnügen mehr. Die große Mehrheit, nämlich 68 Prozent, nutzte das Auto für den Weg zur Arbeit. Zu diesem Ergebnis kommen Zahlen des Statistischen Bundesamts.

Wie viele Kilometer Erwerbstätige zum Arbeitsplatz benötigen.

Die Frage ist: Gewinnt das Fahrrad nun an Bedeutung, weil die Maske im Nahverkehr viele Pendler nervt? Die Fahrradhändler sind schon jetzt die Gewinner der Coronakrise. Der Mai sei der stärkste Monat der Branche überhaupt gewesen, heißt es beim Zweirad-Industrie-Verband (ZIV). Besonders gefragt: Einstiegsräder und E-Bikes. In den vergangenen Wochen kam es zu Lieferverzögerungen – Luxusprobleme einer Boombranche.

Der Trend könnte anhalten. Einige Großstädte erweitern derzeit ihr Fahrradwegenetz, um den Autoverkehr zurückzudrängen und Fußgängern und vor allem Radfahrern mehr Fläche einzuräumen. Vorreiter ist Berlin. In der Hauptstadt sind viele Bezirke dazu übergegangen, kurzfristig Pop-up-Radwege auszubauen, die langfristig bleiben sollen. Zunächst wurden ganze Fahrstreifen dem Autoverkehr entzogen und mit rot-weißen Absperrungen für den Radverkehr vorübergehend umgewidmet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Spontan-Radwege baulich gefestigt werden.

Wie Erwerbstätige zum Job kommen.

Das dürfte vielen Pendlern in Berlin zugutekommen. Denn die Zahlen des Statistikamts zeigen, dass die Distanz zum Arbeitsplatz in Kilometern keine Aussage darüber zulässt, wie lange die Arbeitnehmer dafür brauchen. So ist etwa jeder Vierte in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg innerhalb von zehn Minuten von zu Hause bei der Arbeit. Vor allem Großstädter benötigen aber länger. In Bremen erreicht zwar immerhin fast jeder Fünfte seinen Arbeitsplatz innerhalb von zehn Minuten. In Hamburg und Berlin sind das aber nur jeder Zehnte. In der Hauptstadt benötigt gar mehr als jeder Zweite mindestens 30 Minuten pro Weg. 17 Prozent davon gar mehr als eine Stunde.

Die Berliner haben damit besonders viel Geduld bewiesen, wenn es darum ging, zum Job zu gelangen. Doch Corona verändert bekanntlich vieles. Dank Homeoffice werden sich viele Arbeitnehmer ihre Pendelei – zumindest tageweise – sparen können. Und neue Radwegen beschleunigen die Fahrtzeit, wenn sie denn mal ins Büro kommen müssen. Die Radpendler in der Hauptstadt gehören damit zu den Profiteuren der Coronakrise.

Wie viele Erwerbstätige weniger als zehn Minuten zum Arbeitsplatz brauchen.

Vielleicht ändert Corona noch etwas Grundsätzliches. Die Deutschen waren bislang ein Volk der Berufspendler. Eigenheimzulage und Entfernungspauschale haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass die Zahl der mobilen Arbeitnehmer in drei Jahrzehnten deutlich gestiegen ist. Im Vergleich zu 1990 erhöhte sich der Anteil der Pendler, die jeden Morgen mehr als 25 Kilometer Wegstrecke zurücklegen müssen, von zehn auf mehr als 17 Prozent.

Der Anteil derjenigen, die auf dem Weg zur Arbeit nur bis zu zehn Kilometer zurücklegen müssen, sank dagegen um acht Prozentpunkte auf 39 Prozent. Viele Arbeitnehmer werden ihre neuen Homeoffice-Erfahrungen möglicherweise auch dazu nutzen, neue Heimarbeitsfreiheiten beim Arbeitgeber einzufordern – und gar nicht mehr oder nur noch teilweise zu pendeln. Läuft doch.

Die Rubrik „Blick hinter die Zahlen“ entsteht mit Unterstützung des Statistischen Bundesamtes (Destatis). Für die Inhalte der Beiträge ist ausschließlich die WirtschaftsWoche verantwortlich.

Logo des Statistischen Bundesamtes (Destatis)

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