Chance Industrie 4.0 Die vierte Revolution

Intelligente Bauteile, erhöhte Effizienz, aber auch Jobverluste: Die Digitalisierung der Produktion ist eine schöpferische Zerstörung mit Chancen und Risiken. Was ist alles nötig, damit die neue Industriewende gelingt?

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Industrie 4.0 soll die vierte Revolution in der Produktion sein und die Automatisierung vollenden. Quelle: dpa

Düsseldorf Industrie 4.0 soll die vierte Revolution in der Produktion sein. Die erste war die Mechanisierung der Produktion im 18. Jahrhundert, die zweite die Elektrifizierung der Produktion und die Einführung des Fließbandes am Ende des 19. Jahrhunderts, die dritte die beginnende Automatisierung der Produktion seit den Siebzigerjahren - und die vierte Revolution soll nun die Automatisierung vollenden.

Die IT fusioniert dabei letztendlich komplett mit der Produktion. Physische und virtuelle Welt verschmelzen und schaffen eine neue, vernetzte und sich selbst steuernde Produktion und Logistik, bis hin zum Daten sendenden fertigen Produkt. Bereits heute greifen 80 Prozent aller Innovationen in der Produktionstechnologie auf die Integration von Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Maschinenbau zurück, wie das Zukunftsbild Industrie 4.0 des Bundesbildungsministeriums feststellt.

Die Revolution ist in vollem Gange. Daher ist der Charakter der Industrie 4.0 auch eher evolutionär. Die Digitalisierung der Produktion ist ein Prozess, der sich durch neue Technologie aber nun rasant beschleunigen kann. Diese neuen Technologien werden unter dem Oberbegriff Cyber-Physical-Systems (CPS) zusammengefasst.

Diese CPS-Technologie bildet das Grundgerüst der Smart Factory, in der die Produktion sich selbststeuernd vollziehen soll. Grundbaustein der CPS-Technologie sind eingebettete Systeme. Dabei werden zum Beispiel Mikroprozessoren beziehungsweise Funkchips in Geräte, Gegenstände und Materialien eingebettet. Am Anfang der Produktion erhält der Rohling einen Funkchip, den sogenannten RFID-Tag (RFID steht für radio-frequency identification).

Durch diesen wird der Rohling zum intelligenten Werkstück: Ihm kann das Wissen über seinen Herstellungsprozess und seinen Zweck einprogrammiert werden. Der Rohling weiß, was aus ihm werden soll, was an ihm noch alles bearbeitet werden muss, und wann der nächste Produktionsschritt ansteht. Die RFID-Technik ist zwar nur eine Basistechnologie von vielen, aber sie macht deutlich, worum es bei der Industrie 4.0 geht: um Vernetzung.

Diese Entwicklung der Vernetzung wird möglich, weil das Material nicht mehr nur Objekt ist, sondern Züge einer eigenen Identität bekommt. Das Material wird selbst aktiv und kann prinzipiell mit allen anderen Dingen vernetzt werden. Der IT-Konzern Cisco schätzt, dass im Jahr 2020 bereits 50 Milliarden Gegenstände und Menschen durch das Internet verknüpft sein werden. So entsteht das Internet der Dinge. Und darin liegen die Chancen der Digitalisierung, erzählt Olaf Sauer, der sich am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung in Karlsruhe mit Automatisierung beschäftigt. „Die Potenziale der Digitalisierung können nur durch bessere Vernetzung ausgeschöpft werden.“


Effizientere Produktion dank Internet der Dinge

Das Internet der Dinge wird die Zukunft prägen. Für die Zukunft der Produktion bedeutet es fundamentale Veränderungen. So wird die Art des Produzierens sich komplett verändern. Das Zeitalter der Massenfertigung könnte ihr Ende erreichen. Früher galt, und heute gilt es meist immer noch: Je größer die Menge der hergestellten Teile beziehungsweise Produkte, umso geringer die Stückkosten. In der Sprache der Ökonomen nennt man das Economies of Scale und positive Skaleneffekte hätte nur die Massenfertigung. Industrie 4.0 widerlegt diese jahrzehntelange Weisheit. Denn durch sie könnte individuelle Fertigung zu Kosten der Massenfertigung möglich werden. Selbst Unikate könnten so rentabel werden.

Das bedeutet auch eine Dezentralisierung der Produktion, die durch neue Technologien wie 3D-Drucker noch unterstützt wird. Wenn große Mengen nun kein Zwang mehr zu der Entscheidung sind, überhaupt zu produzieren, könnte das für viele Innovationsprodukte von Vorteil sein, weil auch schon kleine Mengen wirtschaftlich rentabel produziert werden könnten und so ein Markteintritt bei überschaubaren Kosten getestet werden kann. Großunternehmen können so schnell große Konkurrenz von kleinen Unternehmen bekommen. So könnte sich die gesamte Wirtschaftsstruktur nach Jahrzehnten der Fusionierung und Oligopolisierung wieder ausdifferenzieren und eine neue Gründungswelle entstehen.

Für Deutschland bedeutet Industrie 4.0 konkret die Chance der Reindustrialisierung, weil durch die CPS-Technologie die Produktion kosteneffizienter wird. Wenn die Technologie in deutschen Unternehmen eingesetzt wird, steigert dies dann auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

Diese Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft könnte überdies dadurch gesteigert werden, dass die spezialisierten Unternehmen für Fertigungstechnik die neue Technologie auch in alle Welt verkaufen. „Als Ausrüster der Fabriken der Welt befinden wir uns in einer hervorragenden Ausgangsposition, um uns durch Industrie 4.0 auch als Leitanbieter vernetzter und anschlussfähiger Produkte sowie darauf aufbauender Dienstleistungen auf dem Weltmarkt zu positionieren“, sagt Peter Stephan, zuständig für CPS-Technologie bei der mittelständischen Wittenstein AG.

Die Wittenstein AG gilt als Pionier in Sachen Industrie 4.0. In ihrer Fabrik in Fellbach nutzt sie bereits heute die Potenziale der CPS-Technologien. Beim sogenannten Milkrun, bei dem ein Mitarbeiter mit einem Elektrowagen durch die Fabrik fährt, um Fertigungsaufträge abzuholen, wird aktuell digitalisiert und vernetzt. Das bedeutet, dass der Elektrowagen nun besser ausgelastet ist und keine Abholflächen mehr angefahren werden, die leer sind. Das steigert die Effizienz und spart Ressourcen.

„Bei der Optimierung von Produktionsprozessen sind Effizienzpotenziale von 30 Prozent, beispielsweise in der Logistik, realistisch“, schätzt Stephan. Konkrete Daten für das volkswirtschaftliche Potenzial legt eine Studie des High-Tech-Verbandes Bitkom vor. Für die sechs Branchen des Maschinen- und Anlagenbaus, der Elektrotechnik, dem Automobilbau, der chemischen Industrie, der Landwirtschaft und der Informations- und Kommunikationstechnologie wird bis zum Jahr 2025 ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 78 Milliarden Euro und ein jährliches Wachstum von 1,7 Prozent durch Industrie 4.0-Technologien erwartet.


Was muss und kann der Gesetzgeber tun?

Der Chef des Maschinenbauers Festo, Eberhard Veit, forderte in der WirtschaftsWoche bereits vor zwei Jahren, dass die Politik Anreizsysteme für Forschung und Entwicklung schaffen solle. Etwa durch steuerliche Anreize, damit Unternehmen hierzulande investieren. Der Staat solle eine Agenda 2025 initiieren und die Unternehmen mit Staatsgeld bei der Industriewende 4.0 unterstützen.

Und tatsächlich hat das Kabinett im August eine Digitale Agenda verabschiedet. Allerdings drückt sich der Beschluss um konkrete finanzielle Zusagen. Es werden hauptsächlich nur Absichten formuliert und die Digitalisierung als wichtiges Zukunftsfeld gepriesen. Viel Rhetorik, wenig Inhalt. Konkrete Zusagen zu Industrie 4.0 sucht man auch vergeblich.

Dabei braucht die Digitalisierung, insbesondere die Industriewende 4.0, eine echte Agenda. Diese muss auch über reine Industriepolitik hinausgehen, sagt der Arbeitswissenschaftler Max Neufeind von der ETH Zürich. „Es braucht auch eine Arbeitsmarktpolitik 4.0, damit die Industriewende 4.0 nicht zur Gefahr für gute und sichere Arbeitsplätze in Deutschland wird.“

Eine große Befürchtung gegenüber der Digitalisierung ist nämlich, dass nicht so schnell neue Arbeitsplätze entstehen können, wie sie durch die Digitalisierung wegrationalisiert werden. Eine Studie von Oxford-Wissenschaftlern besagt, dass 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten bedroht sein könnten. Digitales Wachstum könnte so zwar mehr Wertschöpfung schaffen, aber auch zu mehr Arbeitslosigkeit führen.

Ein „jobless growth“ ist ein mögliches Szenario. „Diese Möglichkeit muss vom Gesetzgeber schon heute viel stärker bedacht werden. Es ist wichtig, vorsorgend aktiv zu werden und die Arbeitsmarktpolitik auf die Arbeit der Zukunft einzustellen“ so Max Neufeind. Er ergänzt, dass die Digitalisierung auch die Arbeitsorganisation völlig verändern könnte. „Neue, oftmals kurzfristige und projektbezogene Beschäftigungsformen werden an Bedeutung gewinnen. Weil die bisherigen Mechanismen der sozialen Absicherung hier nur teilweise greifen, braucht es dringend eine Arbeitsmarktpolitik 4.0, die den Sicherheitsbedürfnissen der Menschen auch in einer digitalisierten Arbeitswelt Rechnung trägt.“

Außerdem wird die Qualifizierung der Arbeitnehmer für die neuen Technologien sehr wichtig sein, meint Olaf Sauer. „Die neuen Technologien erfordern interdisziplinäre Entwicklung und Verständnis, also eher eine höhere Qualifikation. Gering Qualifizierte, Angelernte und Ungelernte werden es schwerer haben“. Qualifizierung, Weiterbildung, eine sozialstaatliche Organisation von Übergängen zwischen atypischen Beschäftigungsverhältnissen werden für das Gelingen der Industriewende 4.0 also wichtig sein. Ein politisches Programm für die Industriewende 4.0 geht weit über Wirtschaftsförderung hinaus.

Fazit: Der Staat hat bei der neuen Industriewende generell eine zentrale Rolle. Ohne Unterstützung und Steuerung des Staates bleiben manche Chancen der Industrie 4.0 ungenutzt, und manche Risiken unzureichend abgefedert. Die Digitalisierung hat schon vieles verändert und sie wird noch mehr verändern. Sie bedeutet eine große schöpferische Zerstörung: Es gibt kein Vorwärts ohne Veränderung des Vorhandenen. Daher braucht es einen Plan für die Gestaltung der Digitalisierung. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Bundesregierung eine Digitale Agenda aufsetzt. Aber diese muss der Anfang sein – nicht das Ende.

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