Viele der Patienten, die eine psychosomatische Reha beginnen, haben die schlimmste Phase ihrer Erkrankung dank medikamentöser oder psychologischer Behandlung überstanden und sollen während der Rehabehandlung auf die Rückkehr an den Arbeitsplatz oder eine Ausschleichung der Medikamente vorbereitet werden. Mit einer solchen Patientin arbeitete ich kürzlich an der Vorbereitung auf den Berufsalltag.
Sie hatte eine schwere depressive Episode mit allen Begleiterscheinungen durchlebt, von der sie noch nicht vollständig genesen war, und war über eineinhalb Jahre arbeitsunfähig gewesen. Trotz einer deutlichen Besserung der Beschwerden beklagte sie noch Antriebsschwierigkeiten, leichte Stimmungstiefs, Schlafstörungen und außerdem Schmerzen am ganzen Körper, für die keine körperliche Ursache gefunden werden konnte.
Depression: Volkskrankheit mit Versorgungsdefiziten
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Bis 2020 werden sie laut Weltgesundheitsorganisation weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein, vor Diabetes mellitus (Zuckererkrankung) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dabei gibt es immer noch erhebliche Versorgungsdefizite, so das Robert Koch Institut (RKI).
Je nach Statistik haben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Menschen in Deutschland eine Depression. Nach Zahlen des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gab es 2015 insgesamt 1,12 Millionen stationäre Fälle von GKV-Patienten, die die Diagnose Depression hatten. Der weitaus größte Teil davon wurde jedoch wegen anderer Erkrankungen stationär behandelt. Depression war also häufig „nur“ Nebendiagnose. GKV-Patienten mit Hauptdiagnose Depression gab es insgesamt bei rund 316 500 stationären Fällen. Genaue Zahlen über ambulante Fälle gibt es nicht.
Betroffene leiden unter einer gedrückten Stimmung, Traurigkeit oder inneren Leere, Antriebs-, Freud- und Interessenlosigkeit. Weitere Symptome können Konzentrationsmangel, schwindendes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sein. Dann auch Müdigkeit, Schlafstörungen sowie Appetitlosigkeit und entsprechend Gewichts- sowie Libidoverlust. Auch Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit kommen vor. Wenn eine bestimmte Anzahl dieser Grund- und Zusatzsymptome über 14 Tage anhält, spricht man je nach Anzahl und Schwere von einer leichten, mittelschweren oder schweren depressiven Episode. Bei schweren Depressionen kann es zu lebensmüden Gedanken kommen, die das Risiko einer Selbsttötung steigen lassen.
Depressionen haben auch körperliche Grundlagen, denn im Gehirn findet da etwas statt oder besser nicht statt. Bisher geht man davon aus, dass in bestimmten Regionen des Gehirns die Botenstoffe zwischen den Nervenzellen reduziert sind, so dass nicht ausreichend oder falsche Signale übertragen werden. Einer dieser Botenstoffe ist Serotonin. Hier setzen auch die Medikamente an. Sie sollen die Konzentration dieser Botenstoffe an den sogenannten synaptischen Spalten erhöhen.
Grundsätzlich ja. Heute gehe man von einem bio-psycho-sozialen Erklärungsmodell für Depressionen aus, erläutert die Direktorin des Alexianer St. Joseph-Krankenhauses in Berlin-Weißensee, Iris Hauth. Bio meint dabei auch, dass man eine angeborene Empfänglichkeit haben kann. „Es gibt mehrere Gene, die mittlerweile in unserer Erbausstattung identifiziert worden sind, die eine mögliche Anfälligkeit für Depressionen mit sich bringen.“ Doch Depressionen müssten nicht zum Ausbruch kommen. „Da müssen psychische und soziale Faktoren hinzukommen.“ Etwa schlimmer akuter Stress nach einem Autounfall oder längerer Stress, etwa durch Arbeitslosigkeit.
Wird eine depressive Erkrankung frühzeitig erkannt, ist sie in den meisten Fällen gut behandelbar. Zwei Drittel der Episoden klingen laut Hauth gut ab, auch wenn eine erhöhte Sensibilität bleiben kann. 20 Prozent werden chronisch. In der Regel gilt: Leichte Depressionen werden mit psychotherapeutischen Maßnahmen behandelt, mittelschwere mit psychotherapeutischen und - wenn der Patient es will - mit Medikamenten. Bei schweren Depressionen kommt auf jeden Fall beides zum Einsatz.
Ja, können sie haben. Um die Kriterien für eine Depression zu erfüllen, muss man sich ausdrücken und Gefühle äußern können. Ein Kleinkind, das keine Fürsorge bekommt, ist traurig und zeigt Zeichen einer frühkindlichen Depression. Aber eigentlich sieht man die klassischen Symptome einer Depression bei Kindern erst vom Schulalter an, erläutert der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Neuruppin, Michael Kölch. Bei Kindern und Jugendlichen gebe es einen hohen Anteil reaktiver Depressionen, etwa, wenn sich die Eltern trennen, wenn die Eltern umziehen oder wenn der geliebte Opa stirbt. Mobbing in der Schule ist ebenfalls ein Risikofaktor. Die kindliche Symptomatik sei nicht nur traurige und niedergeschlagene Stimmung, sondern drücke sich oft auch in einem gereizten Stimmungswechsel aus.
Im Alter setzen sich Menschen mit ihrem Leben auseinander. Traumatische Ereignisse aus der Vergangenheit können hoch kommen. Verlusterlebnisse beim Tod des Partners oder der Partnerin können Auslöser sein. Zugleich muss man sich immer mehr mit körperlichen Gebrechen und Krankheiten abplagen. Typisch für das Alter sind auch viele Medikamente. Das alles kann psychische Krankheiten nach sich ziehen.
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz gibt zu bedenken, dass rund 1,2 Millionen der über 60-Jährigen in Deutschland an Depressionen leiden. Doch nur sechs Prozent davon würden behandelt. Depressionen seien Hauptursache für Suizide. In Deutschland geht man insgesamt von 100.000 Suizidversuchen im Jahr aus. Etwa 10.000 Menschen bringen sich tatsächlich um.
Ja. Statistisch haben etwa 10 bis 25 Prozent der Frauen im Leben depressive Phasen, während es bei den Männern 4 bis 10 Prozent sind. Oberarzt Stefan Rupprecht vom Alexianer St. Joseph-Krankenhaus sagt, zwar sei die Depressionsrate bei Männern niedriger als bei Frauen, dafür aber die Suizidrate höher. Männer geben aber ihre Depressionen oft nicht zu, sind eher gereizt beziehungsweise aggressiv oder sind in sich gekehrt.
Die Ingenieurin war noch während des Studiums Mutter geworden und hatte sich mit dem Berufseinstieg deutlich überfordert, was in der besagten Depression gipfelte. Sie hatte zuvor einen beeindruckenden Aufstieg aus einfachen Verhältnissen geschafft und wollte nun die Früchte ihres langen, selbstfinanzierten Studiums ernten. Ihre gesamte Kindheit über hatte sie unter einem tyrannischen Stiefvater und einer verschreckten, abhängigen Mutter gelitten. Aufgrund der ständigen Bedrohung durch den Stiefvater, der zwar selten körperliche, dafür aber immer psychische Gewalt ausübte, hatte sie früh lernen müssen, jegliche Emotionen zu unterdrücken.
Verdrängung kann zu chronischen Schmerzen führen
Emotionen wurden vom Stiefvater als Schwäche ausgelegt und mit Erniedrigung bestraft, so dass meine Patientin eine rationale, autonome Persönlichkeit entwickelt hatte. Dank ihres Ehrgeizes hatte sie es geschafft, parallel zu einer Ausbildung die Fachholschulreife zu erlangen und schließlich ihr Studium abzuschließen, ohne dabei auf Unterstützung durch ihre Familie zurückgreifen zu können.
Die rationale Herangehensweise an Probleme und Herausforderungen hatten sich dabei als große Stärke erwiesen, der schlechte Zugriff auf Emotionen und psychische Gesundheit stellten sich jedoch als Kehrseite der Medaille heraus: Die Verdrängung psychischer Probleme und negativer Emotionen mündet nicht selten in der Entwicklung diffuser Schmerzen, die leider häufig einen chronischen Verlauf haben.