




Meine Patientin kam in die Klinik und klagte über völlige Erschöpfung. Sie hatte ihren ganzen Jahresurlaub für die Planung und Umsetzung der Renovierung des Elternhauses geopfert, außerdem beklagte sie Probleme mit ihrem Ehemann, verschiedenen Familienmitgliedern und einer Nachbarin. Sie berichtete, sie überlege, diese zu verklagen, da sie bei Umbaumaßnahmen die Grundstücksgrenze um einige Zentimeter verletzt hatte. Freizeitaktivitäten hatte sie stark vernachlässigt, um sich voll und ganz den aktuellen Problemen in ihrem Leben zu widmen.
Ihre Geschichte erzählte sie völlig kontrolliert und fast gänzlich frei von Emotionen. Mehr als ein kleines Lächeln hier und da konnte ich ihr nicht entlocken; die für weinende Patienten bereitstehende Box mit Taschentüchern benötigte sie nicht einmal, um sich die Nase zu schnäuzen. Sie sorgte sie sich um die vielen Therapietermine und fragte mich, was passiere, wenn sie zu einem Termin mal zu spät erscheinen würde.
Wenn ich sie in der Klinik sah, klammerte sie sich in der Regel an ihren Wochenplan und hangelte sich anhand des umständlichen Wegweisersystems von A nach B. In einem der Gespräche fragte sie mich, warum sie sich häufig so anders fühle und wie sie andere Menschen dazu bringen könnte, sie endlich zu verstehen.
In acht Schritten zum Burn-Out
Es beginnt alles mit dem Wunsch, sich zu beweisen. Dieser aber treibt einen in den Zwang, sich noch mehr anzustrengen, noch mehr zu leisten bzw. es allen recht zu machen. Man nimmt jeden Auftrag an, sagt immer seltener Nein. Jettet von Termin zu Termin. Und nimmt abends Arbeit mit nach Hause.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Man nimmt seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahr. Schläft zu wenig, isst hastig oder gar nichts. Sagt den Kinobesuch mit Freunden ab.
Man missachtet die Warnsignale des Körpers, wie Schlafstörungen, Verspannungen, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, flaches Atmen, Konzentrationsschwäche.
Um wieder funktionieren zu können, greifen manche zu Drogen wie Schmerzmitteln, Schlaftabletten, Alkohol, Aufputschern.
Das eigene Wertesystem verändert sich. Die Freunde sind langweilig, der Besuch mit dem Kollegen im Café verschwendete Zeit. Die Probleme mit dem Partner oder Familie nimmt man einfach nicht mehr wahr. Man zieht sich zurück aus gesellschaftlichen Kontakten. Und endet oft in völliger Isolation.
Die Persönlichkeit verändert sich. Alles dreht sich nur noch darum, zu funktionieren, zu arbeiten. Gefühle und Emotionen werden verdrängt. Man verliert den Humor, reagiert mit Schärfe und Sarkasmus, empfindet Verachtung für Menschen, die das Faulsein genießen. Man verhärtet.
Man verliert das Gefühl für die eigene Persönlichkeit. Spürt nur noch Gereiztheit, Schmerzen, Erschöpfung, Überlastung, Angst vor einem Zusammenbruch. Und sonst nichts mehr. Keine Freude, keine Fröhlichkeit, keine Neugierde. Der Mensch funktioniert wie eine Maschine. Die Seele erstarrt.
Die wachsende innere Leere, genährt von dem Gedanken "Wenn ich nicht arbeite, was bin ich dann?", führt zur Depression, zur völligen Erschöpfung, zum Zusammenbruch, zum Ausgebranntsein.
Die Persönlichkeitsstruktur, die meine Patientin zeigte, nennen Psychologen zwanghaft. Zwanghafte Menschen sind geprägt von hohem Kontrollbedürfnis, Perfektionismus, Vorsicht und mangelnder Flexibilität. Sie führen oft ein anstrengendes, scheinbar biederes Leben, das von Anspannung, Planung, Kontrolle und wenig Kreativität geprägt ist. Bei Patienten mit psychosomatischen Beschwerden sind zwanghafte Züge keinesfalls ungewöhnlich. Anspannung, ständige Sorge und Vorausplanung führen schnell zu Spannungskopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und Schlafstörungen.
In bestimmten Umgebungen, die klar strukturiert sind oder penibles Arbeiten erfordern, wie vielen Verwaltungen oder Behörden, fühlen zwanghafte Menschen sich oft sehr wohl und können es weit bringen, in hektischen Arbeitsumgebungen sind sie jedoch schneller als andere überfordert, besonders, wenn Kreativität gefordert wird. In der Regel sind sie bei Arbeitgebern sehr beliebt – sie arbeiten zuverlässig und ehrgeizig, definieren sich mehr als andere über Leistung, wagen es aber selten, Forderungen zu stellen.
Hinter Perfektionismus und Kontrollwahn steckt oft eine panische Angst, wegen Fehlern kritisiert oder bloßgestellt zu werden, was biographische Gründe haben kann. Diese biographischen Faktoren sollten er- und bearbeitet werden, damit die Ängste nachhaltig als irrational und unnötig betrachtet werden können. Praktische Übungen können dabei unterstützen, beispielsweise durch das aktive Aushalten von nicht perfekt gemeisterten Situationen.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
Dies können kleine, absichtliche Verspätungen sein oder das Durchbrechen von im Alltag angeeigneten Routineabläufen, wie eine Fahrradtour ohne Ziel oder ohne Navigation. Wenn zwanghafte Menschen lernen, dass ihnen Fehler oder nicht perfekte Arbeiten nicht lange übel genommen werden und Probleme oft auch spontan gelöst werden können, können sie gelassener leben.
Meine deutlich erholte Patientin konnte ich schließlich ruhigen Gewissens in den Alltag entlassen. Sie hatte einiges über ihre Eigenheiten gelernt, nachdem sie mit anderen Patienten hatte erarbeiten können, warum sie auf andere Menschen möglicherweise penibel und unnahbar wirkte. Sie war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, in denen die Überzeugung herrschte, dass nur hart arbeitende Menschen etwas wert wären und viel mehr kritisiert als gelobt wurde. Bedingungslose Liebe kannte sie nicht, was sie durch genaues Arbeiten zu kompensieren versuchte. Ihre Ehekrise hatte sich etwas entschärft, als sie lernte, ihre Gefühle gegenüber ihrem Mann aktiv zu kommunizieren und automatisches Verständnis nicht vorauszusetzen. Sie freute sich, zur Arbeit zurückzukehren zu können – der technischen Prüfung in einer Baubehörde.
Geritt Müller heißt eigentlich anders. Er arbeitet als Psychotherapeut in einer Klinik im Sauerland. Um die Identität seiner Patienten zu schützen, und damit er freier schreiben kann, haben wir ihm einen anderen Namen gegeben.