5 Dinge, die Expats im deutschen Job-Alltag überraschen „Alles muss auf Papier sein, ausgedruckt und per Post verschickt werden“

Quelle: Getty Images

Wer für den Job ins Ausland geht, hat oft einen anderen Blickwinkel auf den Berufsalltag als die Kollegen. Expats in Deutschland verraten, was sie bei der Arbeit überrascht und was in ihrer Heimat besser läuft als hier.

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In unserer Interview-Reihe “A Job Abroad“ sprechen wir regelmäßig mit Menschen, die sich für einen Job im Ausland entschieden haben. Sie berichten über ihre Erfahrungen, die Eigenheiten der Wahlheimat und Tipps für Auswanderungs-Interessierte. Aber wie geht es eigentlich Expats, die in Deutschland leben und arbeiten? Wie sehen sie den Berufsalltag und was können ihre Kollegen daraus lernen? Wir haben mit sieben von ihnen gesprochen und sie gefragt, was sie persönlich in der deutschen Arbeitswelt überrascht (hat) und welche Anekdoten ihnen dazu einfallen.

1. Die Siez-Kultur

Tugce Inel-Özyurt hat sich vor fast drei Jahren für einen Job in Deutschland entschieden, um am selben Ort zu arbeiten und zu leben wie ihr Mann. Sie hatte zuvor bereits Jobs in den Niederlanden und in der Türkei. Als Marketing-Managerin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS ist Inel-Özyurt unter anderem für die Organisation von Veranstaltungen zuständig. „Die Siez- und Duz-Kultur kannte ich aus den Niederlanden so nicht“, sagt die 33-Jährige. „Man siezt sich dort zunächst zwar auch, aber wechselt schnell zum Du. Ich musste mich erstmal daran gewöhnen, dass das in Deutschland anders ist.“

Auch Kerli Saar aus Estland war darüber in ihrer Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundestag überrascht: „Da hatten Kollegen seit Jahren miteinander zu tun und siezten sich immer noch.“ Die 34-Jährige ist heute in Berlin Marketing-Managerin bei Tuum, einem Technologieanbieter für Banken und Fintechs. In dem Start-up geht es zu wie in ihrer Heimat: „Dort wird jeder geduzt, mit dem man zusammenarbeitet.“ So ist es auch bei Iga Kuczaj, Senior-Werkzeug-Ingenieurin beim Biotechkonzern Qiagen. Auch in der operativen Zentrale in Hilden bei Düsseldorf duzen sich die Mitarbeiter des Unternehmens – nicht nur am Sitz im niederländischen Venlo, erzählt die Polin.

Deutsche Auswanderer

In Tschechien hingegen werde sogar noch weitaus mehr gesiezt als in Deutschland, sagt Jan Mika aus Prag. Er ist Teamleiter im Bereich Technischer Support beim Gütesiegel-Anbieter Trusted Shops. In der Türkei gebe es zwar auch eine „Frau-Herr-Kultur“, erklärt Tugce Inel-Özyurt, aber dennoch sei der Austausch im Arbeitskontext dort persönlicher als in Deutschland: „Um zusammenzuarbeiten, ist Vertrauen wichtig und für den Beziehungsaufbau braucht es eine angenehme Atmosphäre beim Austausch mit Tee und Kaffee.“

2. Der Umgang mit Kritik und mit Humor

„Deutschland ist so langweilig, dort wird nie gelacht und niemand hat Spaß“, warnten viele Bekannte Tugce Inel-Özyurt, bevor sie nach Deutschland kam. Sie hatte großen Respekt vor den „hard working germans“ ohne Sinn für Humor. „Ich habe dann aber schnell herausgefunden, dass auch in Deutschland mal Witze gemacht werden – sogar im Büro“, sagt sie.

Jan Mika hat zudem beobachtet, dass „Arbeitnehmer in Deutschland im Umgang mit Führungskräften selbstbewusster sind als in Tschechien.“ Es sei hier viel selbstverständlicher, Kritik zu äußern.

Da hat Maria García (Name von der Redaktion geändert) wiederum andere Erfahrungen gemacht. Die Spanierin ist von ihrem Arbeitgeber, einem niederländischen Tech-Unternehmen, für zwei Jahre zu einem deutschen Maschinenbauer geschickt worden. Sie soll dort helfen, neue Prozesse einzuführen. „In den Niederlanden äußern wir sehr unverblümt unsere Meinung, manchmal wirkt das sogar fast unhöflich“, erklärt sie. Vielen der deutschen Mitarbeiter, die sie kennengelernt hat, falle das schwer: „Wenn sie anderer Meinung sind oder es Schwierigkeiten gibt, trauen sie sich nicht, den Mund aufzumachen – selbst, wenn es wichtig wäre, um Missverständnisse zu vermeiden.“

3. Die Liebe zum Papier und zu anderen Formalitäten

Neben der Siez- und Duz-Kultur ist Kerli Saar vor allem „die Liebe zum Papier“ in Deutschland aufgefallen. Sie beschreibt das so: „Alles muss auf Papier sein, es muss ausgedruckt und per Post verschickt werden. Das kenne ich so aus Estland gar nicht.“ Ihr Heimatland gilt als Vorreiter in Sachen Digitalisierung.

Wie formell es hier zugeht, fällt auch Beatrijs Mertens aus Belgien im Arbeitsalltag in Deutschland noch oft auf. Sie lebt und arbeitet seit 2008 hier, momentan als Assistenz der Geschäftsführung bei einem Industrieunternehmen. Ihr fällt der formelle Umgang durch das Siezen auf, aber auch durch die Kleidung im Büro: „In Deutschland sieht man selten eine Frau mit Blümchenkleid zur Arbeit gehen, in Frankreich passiert das zum Beispiel viel häufiger.“ Als Mertens in Frankreich arbeitete, beobachtete sie dort mehr Spontaneität als in Deutschland. Sie habe den Eindruck, dass sich die Menschen hier mehr an Regeln halten. „Das hat natürlich auch viele Vorteile: Wenn sich alle an Uhrzeiten von Meetings halten, macht das die Tagesabläufe sehr viel einfacher.“

Es sei aber unglaublich schwer, neue Prozesse einzuführen und Strukturen zu ändern, weil es so viele Regeln in Deutschland gebe, sagt Iga Kuczaj. Sie lebt und arbeitet seit 2018 in Deutschland und hat den Satz „Das haben wir immer schon gemacht“ bedeutend öfter gehört, als ihr lieb ist. „Zunächst dachte ich, es gebe vielleicht keine Motivation, Dinge zu verändern“, sagt sie. „Aber dann habe ich gemerkt, dass es die vielen Regeln, die man vorher auch verändern müsste, so schwer machen.“

4. Die Work-Life-Balance

Jan Mika überraschte die „sehr klare Trennung von Arbeit und Privatsphäre in Deutschland“, als er 2014 nach Köln kam. Habe man ein Problem und die Person, die es lösen könnte, ist im Urlaub, sei es ein absolutes No-Go, sie zu kontaktieren. „Die Work-Life-Balance ist hier wichtiger als in meiner Heimat.“ Maria García hat gemerkt, dass die Deutschen mehr Wert auf Pausen legen: „Sie sagen mir ganz klar: Wir möchten nicht ausbrennen.“ Sie seien sich der Risiken von zu viel Arbeit sehr bewusst. Aus den Niederlanden kenne sie es so, dass es ganz normal sei, zum Beispiel mal keine Mittagspause zu machen.

„Im Unternehmen, in dem ich in Polen gearbeitet habe, wurden viel mehr Überstunden gemacht“, sagt auch Iga Kuczaj. Natürlich gebe es auch in ihrem Job in Deutschland mal Überstunden. „Aber es gibt schon ziemlich feste Arbeitszeiten und wenn eine Aufgabe nicht superwichtig ist, gilt: Morgen ist auch noch ein Tag.“ Lili Wu, die im selben Unternehmen wie Beatrijs Mertens arbeitet, kam 2003 aus China nach Deutschland. Ihr fällt auf, dass in ihrem Heimatland einige Menschen ein unrealistisches Bild von der Arbeitswelt und der Work-Life-Balance in ihrer Wahlheimat haben: „Manche denken wirklich, hier macht niemand Überstunden.“

5. Das Verantwortungsgefühl

„In den Niederlanden versuchen die Mitarbeiter, den Mond zu erreichen und wenn sie die Hälfte der Strecke geschafft haben, sind sie zufrieden“, sagt Maria García. „In Deutschland verpflichten sich die Mitarbeiter nicht, etwas zu schaffen, das sie nicht erreichen oder einschätzen können. Sie sind sehr realistisch.“ Bei der Arbeit seien die Deutschen etwas langsamer als die Niederländer, dafür aber strukturierter und verantwortungsbewusster: „In den Niederlanden ist es nicht so schlimm, wenn etwas nicht gelingt, in Deutschland übernehmen die Mitarbeiter mehr Ownership.“

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Außerdem sei ihr aufgefallen, dass die Deutschen sehr hilfsbereit sind. Auch Iga Kuczaj hat diese Erfahrung gemacht. Als sie anfing, in Deutschland zu arbeiten, bemühten sich ihre Kollegen nicht nur, den Onboarding-Prozess so gut wie möglich zu gestalten, sondern auch, sie privat zu integrieren und luden sie sogar zu Dorffesten ein. „Meine Kolleginnen und Kollegen haben sich für mich verantwortlich gefühlt, das war sehr süß.“

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