WirtschaftsWoche: Herr Glaveski, Sie beschäftigen sich mit Zeitmanagement und wie man Ablenkung vermeidet. Da kann man viel optimieren – aber gibt es auch eine Grenze, an der es nicht mehr effizienter und zeitsparender geht?
Steve Glaveski: Natürlich. Heute können Menschen Zeit sparen, indem sie verschiedene Techniken anwenden. Viele stumpfsinnige Tätigkeiten nehmen uns Computer und Algorithmen ab. Wir können Aufgaben auslagern und delegieren. Und wir können Aufgaben effektiv priorisieren. Unsere natürliche Grenze ist, dass wir Menschen den natürlichen Drang haben, immer die einfachsten Dinge zuerst zu machen und Energie zu sparen. Was dabei im Büro herauskommt: Erst einmal eine Stunde E-Mails bearbeiten, dann mal bei Linkedin vorbeischauen – statt die schwierige und schmerzhafte Arbeit zu erledigen, etwa die Präsentation oder den Artikel. Da kann man sich zwar disziplinieren und verbessern, aber dieser „innere Schweinehund“ wird uns immer ärgern.
Zusätzlich prasselt ja auf jeden Bildschirmarbeiter eine Menge an Nachrichten, Kalender-Pop-ups und so weiter ein.
Das ist ein Problem der Kultur in vielen Unternehmen. Alles wird als dringlich gesehen, wir erwarten sofortige Antworten auf Mails und Slack-Nachrichten. Dadurch hat niemand genug Raum, um in die kreative Zone zu kommen. Damit meine ich echte Konzentration, in der wir fünfmal so produktiv sind. Aber wenn wir den ganzen Tag Mails checken und bei jedem Brummen sofort zum Smartphone greifen, werden wir permanent aus dem Flow gerissen – oder kommen nie hinein. Jedes Mal dauert es 23 Minuten, um zurückzukommen. So können viele Leute den ganzen Tag busy verbringen, ohne etwas zu erreichen.
Haben Sie selbst schmerzvolle Erfahrungen damit gemacht?
Ja, sicher. Ich habe fast zehn Jahre in der Unternehmenswelt verbracht, bei großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Investmentbanken. Ich verbrachte sehr viel Zeit in Meetings, Treffen mit mehr als zehn Leuten am Tisch, obwohl zwei gereicht hätten. Noch so ein Thema bei der Unternehmenskultur: Wenn Leute keine Eigenverantwortung übernehmen, muss für alles irgendwo eine Zustimmung eingeholt werden. Das erzeugt mehr Arbeit, Politik und noch mehr Meetings. Schnelle Organisationen verzichten auf diese Absegnungskultur und setzen auf Vertrauen.
Zur Person
Steve Glaveski ist Berater und Autor, außerdem Gründer und CEO von Collective Campus, ein Unternehmen mit Sitz in Singapur und Melbourne, das Unternehmen und Startups mit innovativen Ideen berät und fördert.
Glaveski ist Autor von Employee to Entrepreneur: How To Earn Your Freedom and Do Work That Matters und Time Rich: Do Your Best Work, Live Your Best Life (erscheint 2020).
Was ist für Sie heute, als Selbständiger, anders?
Seit sieben Jahren bewege ich mich selbst als Unternehmer in der freien Wirtschaft und sehe die großen Unterschiede zwischen den beiden Welten. Ich kann mich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren. Mein Output ist, so wage ich zu behaupten, mindestens drei oder viermal höher als damals – obwohl ich weniger arbeite.
Haben wir nicht Vermeidungsstrategien, egal welche Technologie gerade herrscht? Heute ist es das Smartphone, vor 30 Jahren war es die Zigarette oder ein Kaffee mehr. Endet es also damit, dass wir das, was wir tun, gerne tun müssen?
Das kommt noch dazu. Wenn eine Organisation ein X vorgibt, ich strebe aber zu einem Y, dann gibt es einen Konflikt. Dann hänge ich im Internet oder in der Kaffeeküche herum und bin nicht motiviert. Wir brauchen also eine intrinsische Motivation. Unternehmen können ihre Mitarbeiter zusätzlich auch extrinsisch motivieren durch Geld, Boni und Extraleistungen. Das funktioniert aber nur bis zu einem gewissen Grad, solange die Werte des Mitarbeiters um Geld und Anerkennung kreisen.
Flexibilität gilt als Lösung für viele Probleme, die das moderne Arbeitsleben mit sich bringt. Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen Flexibilität – die ja auch immer heißt, dass man Dinge später noch tun kann – und Ablenkung?
Das kommt auf die Person an. Wenn ich flexibel bin, besteht das Risiko, dass ich erst einmal mit meinen Kindern in den Park gehe, dann machen wir Abendessen und trinken ein Glas Wein. Und dann gehe ich an die Arbeit – das wird für viele Menschen nicht funktionieren. Es stimmt aber auch: Manche werden nachmittags und abends erst produktiv, andere sind es am frühen Morgen. Durch den vielerorts noch strikten Arbeitsrhythmus von 9 bis 17 Uhr fühlen sich tatsächlich bis zu 40 Prozent der Arbeitnehmer – die vom Typ Eule – von ihrer Arbeit entfremdet, weil das einfach nicht ihrer Natur entspricht. Flexibilität ist gut, erfordert aber wieder einen gewissen Grad an Eigenverantwortung. Und man sollte sie als Privileg, nicht als Recht ansehen.
Was können Unternehmen noch tun, um Ablenkungen zu minimieren? Großraumbüros sind weit verbreitet, aber da lauert überall Ablenkung: Was hat sie heute an, wo geht der hin, was erzählen die da hinten…
Studien haben gezeigt, dass selbst ohne direkte Unterbrechung der Lärmpegel eines Großraumbüros einen aus dem Flow reißen kann. Viele Unternehmen schaffen jetzt neben den großen Flächen auch kleinere Rückzugsmöglichkeiten, um konzentrierteres Arbeiten zu ermöglichen. Sie ermutigen ihre Mitarbeiter, auch von zu Hause oder in einem Coworking Space zu arbeiten, wenn es für sie besser ist. Ursprünglich ging es bei den offenen Büroflächen um mehr Zusammenarbeit, aber auch um Kostenersparnis. Albert Einstein entwickelte seine Relativitätstheorie auf einer Cocktailparty, andere Menschen müssen sich einschließen, bis sie ihr Projekt geschafft haben. Alle haben verschiedene Bedürfnisse, deshalb ist es so wichtig, offen darüber zu sprechen.
Zehn Tipps gegen Ablenkung
Es ist okay, E-Mails dann zu beantworten, wenn es einem selbst am besten passt. Ein wenig Zeit verstreichen zu lassen, führt meist auch zu einer ausgeruhteren Antwort.
Wer seine Mails genau genug formuliert, vermeidet zudem längere Mailwechsel. Formulieren Sie ausreichend Details, klare Handlungsanweisungen, Zeitfenster beziehungsweise Fristen sowie Angaben dazu, wie und wann Sie bei Rückfragen erreichbar sind.
„Nur mal kurz checken“ gibt es nicht. Selbst wenn es nur eine Zehntelsekunde ist, in der das Auge auf die Posteingangsfenster schielt – das kann sich im Laufe des Tages auf bis zu 40 Prozent Produktivitätsverlust summieren. Denn es dauert bis zu 23 Minuten, bis die Konzentration auf das Eigentliche wieder aufgebaut ist. Deshalb ist es zeitsparender, sich ein Zeitfenster freizuhalten, innerhalb dessen man dann alle Nachrichten prüft. Wer sich damit schwertut, kann auch Apps nutzen, die den Posteingang stummschalten – oder einfach das Mailprogramm beenden.
Wer nicht gestört werden will, sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Im Großraumbüro ist es nicht leicht, andere nicht zu stören. Abgestimmte Zeichen können helfen, sich gegenseitig nicht zu unterbrechen, etwa Kopfhörer. Damit zeigt man anderen: „Ich bin gerade in der Konzentration – oder versuche, sie zu erreichen.“
Es ist vielerorts akzeptiert, dass man über Outlook und andere Programm über die Zeit anderer verfügen kann, indem man schaut, wann sie keine Termine haben – und dann welche ins System einstellt. Dagegen hilft es, meetingfreie Zeit für andere zu blocken, damit einem selbst längere Zeitfenster für konzentriertes Arbeiten bleiben.
Nichts ist schlimmer, als wenn ein Meeting das nächste heraufbeschwört, weil man mit einem unverbindlichen „wir gucken mal“ auseinandergeht. Wichtig ist, dass die nächsten Schritte klar sind und auch, wer für was verantwortlich ist.
Was dazu gedacht ist, alle auf dem neuesten Stand zu halten, artet häufig in unergiebiges Geplapper aus, das andere von der Arbeit abhält. Besser ist, einfach auch mal selbst Entscheidungen zu fällen, ohne es wahllos jeden wissen zu lassen.
Wenn alles nichts hilft und das große Büro eine Hölle der Ablenkung bleibt, bleibt manchmal nur die Flucht. Suchen Sie nach einem ruhigen Raum in ihrem Unternehmen, weichen Sie in einen Coworking Space aus oder bitten Sie um einen oder mehrere Tage Homeoffice.
Der durchschnittliche Entscheider erhält am Tag 46 Push-Nachrichten am Tag. Wenn Sie diese deaktivieren, müssen Sie auch 46 mal weniger dem Impuls widerstehen, nachzusehen.
Sie können auch ganz einfach für bestimmte Phasen des Tages ihr Handy in den Flugmodus schalten. Dann kommen überhaupt keine Nachrichten und Anrufe mehr an – und Sie können diese gebündelt checken, wenn es passt – siehe Punkt zwei.
Eine Organisation entbürokratisiert sich selbst, wenn nicht mehr jede Kleinigkeit einer Zustimmung bedarf. Für kleinere Dinge muss nicht jeder Kopf in der Hierarchie eine Unterschrift setzen. Das schafft Freiräume für alle.
Was ist Ihre persönliche Smartphone-Strategie?
Ich schalte es sehr häufig in den Flugmodus und erlaube sonst nur wenigen Nummern, im Notfall anzurufen. Ich habe alle Push-Benachrichtigungen deaktiviert. Und zu Hause möchte ich für meine Familie präsent sein, daher deponiere ich das Handy dort in einem anderen Raum. Wenn es direkt vor mir ist, ist der Drang zu groß, sich mal kurz ein bisschen Dopamin abzuholen. Wenn ich dafür aufstehen muss, komme ich gerade so dagegen an. Was auch hilft, sind Apps zur Bildschirmzeitkontrolle. Solange ich da pro Tag unter einer Stunde bleibe, ist es okay. Viele Menschen kommen auf drei bis vier Stunden pro Tag – das summiert sich auf sechs bis acht Wochen pro Jahr!