Alain de Botton über Work-Life-Balance Warum Arbeiten uns nur selten glücklich macht

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„Wer in einem Bereich extrem erfolgreich ist, der ist in anderen vermutlich ein Versager“

Dann fühlen sie sich vermutlich schrecklich.
Erinnern wir uns an den zentralen Moment der westlichen Welt – die Kreuzigung Jesu. Sie zeigt uns, dass Scheitern universell ist. Seien wir ehrlich, Jesus’ Leben war schrecklich. Es war kurz, er endete als armer Mann am Kreuz. Was für ein Verlierer! Und trotzdem ist er der König der Könige. In dieser Doppelidentität liegt so viel Großzügigkeit. Ich möchte, dass meine beiden Kinder wissen: Die Welt ist manchmal schrecklich, es wird Niederlagen geben, man wird sie hinwerfen, und sie werden fallen. Aber egal, was passiert, sie werden immer geliebt. Ihre Existenzberechtigung ergibt sich nicht aus beruflichem Erfolg.

Ihre Bücher sind Bestseller in 30 Ländern. Haben Sie also unglaubliches Glück?
Das auch, ja. Aber mein Weg führte mich nicht schnurstracks in die Bestsellerliste. Ich war immer schon eher introvertiert und ein Typ, der nun mal gern alleine in einem Raum sitzt und nachdenkt. Da lag es nahe, Philosophie zu studieren. Nach meinem Abschluss dachte ich zunächst, ich sei für ein Leben an der Hochschule gemacht – das erwies sich allerdings als Irrtum. Also schrieb ich mit 21 mein erstes Buch.

„Versuch über die Liebe“ verkaufte sich weltweit zwei Millionen Mal, danach folgten zwölf weitere Bücher. Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg?
Ich habe eine hohe Frustrationstoleranz und bin bereit, mich zu quälen. Außerdem hatte ich mit meinen ersten Büchern einen gewissen Erfolg, aber auch nicht zu viel – das hat mich davor bewahrt, abzuheben.

An Kritik mangelt es trotzdem nicht. Der „Spectator“ schrieb vor einigen Jahren, Ihre „esoterisch angehauchten Essays“ ließen Bestsellerautor Paulo Coelho „aussehen wie Dostojewski“.
Zu Beginn meiner Karriere fand ich negative Rezensionen zutiefst verstörend. Vermeintlich seriöse Philosophen warfen mir vor, ich hätte mich aus Kommerzgründen verkauft. Inzwischen weiß ich: Genau diese Einstellung ist der Grund dafür, warum es die Philosophie so schwer hat.

Welche Einstellung?
In gewissen Kreisen herrscht die Ansicht, dass populäre, massentaugliche Werke von minderer Qualität sind – und dass abseitige, aber kommerziell erfolglose Werke irgendwie besonders sind. Das hätten die ersten Philosophen nicht gewollt.

Sondern?
Sie wollten möglichst vielen Menschen dabei helfen, ein besseres Leben zu führen und vielleicht sogar den Sinn des Lebens zu finden. Genau das will ich auch.

Deshalb haben Sie im Jahr 2008 die „School of Life“ gegründet, die es seit einem Jahr auch in Deutschland gibt. Kann man Leben lernen?
Davon bin ich überzeugt. Zumindest lernt es an der Schule oder der Universität niemand. Wie führe ich eine Beziehung? Was macht eine Freundschaft aus? Wie werde ich im Job glücklich? Das sind wichtige Fragen, die wir in verschiedenen Kursen beantworten wollen.

Wie definieren Sie denn Erfolg?
Zunächst einmal müssen wir anerkennen, dass wir nicht bei allem erfolgreich sein können. Wer in einem Bereich extrem erfolgreich ist, der ist in anderen vermutlich ein Versager.

Wie steht es um Ihre Work-Life-Balance?
Ich mag den Begriff nicht. Ich glaube nicht an ein ausbalanciertes Leben, sondern ein erfülltes Leben – aber das bringt vieles aus der Balance. Sprechen Sie mal mit einer jungen Mutter oder einem überarbeiteten Gründer. Die werden Ihnen sicher nicht sagen, dass ihr Leben in der Balance ist. Erfüllt sind sie vielleicht trotzdem.

Plädieren Sie also dafür, unsere Vorstellungen von Erfolg aufzugeben?
Nein. Aber wir müssen anerkennen, dass es ein wunderschöner Traum ist, gleichzeitig erfolgreich und glücklich zu sein. Ja, er ist möglich, aber er ist unwahrscheinlich. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass wir nicht alles haben können – und dass wir trotzdem klarkommen.

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