Anne-Marie Slaughter "Deutschland ist ziemlich sexistisch"

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Eltern sind auch Top-Mitarbeiter

Wie soll dieser Wandel aussehen?
Frauen und Männer in meiner Stellung können sich Kinderbetreuung und Ganztagsschulen leisten. Aber viele können das nicht, sie müssen also oft darauf verzichten, in ihrem Job voranzukommen, während sie Kinder großziehen. Sie kommen schlicht nicht mehr in Betracht für Beförderungen, auch weil sie ständig überfordert sind, Büroalltag und Elternrolle auszubalancieren. Deswegen fordere ich eine Art Infrastrukturreform für die Kinderbetreuung.

Das wäre eine staatliche Aufgabe. Was können Unternehmen tun?
Die müssen begreifen, dass ihre Angestellten auch mal ein paar Jahre Teilzeit arbeiten oder vielleicht ein paar Jahre auf Beförderungen verzichten, weil sie sich mehr um ihre Familie kümmern wollen – aber trotzdem weiterhin Topmitarbeiter bleiben, denen man danach wieder mehr Verantwortung zutrauen kann. Und das muss für Männer genauso gelten wie für Frauen. Ich verstehe nicht, dass Unternehmen mit so einer Planung für einzelne Angestellte Probleme haben sollen. Sie haben doch auch alle Nachfolgepläne in der Schublade, sollte der Vorstandschef oder die Vorstandschefin von einem Bus überfahren werden.

Vielleicht ist das einfach zu teuer?
Klar, Unternehmen müssen auf Profitabilität achten, das verstehe ich. Aber es ist doch kein Zufall, dass Firmen, die sich besonders um qualifizierten Nachwuchs bemühen müssen, in dieser Hinsicht besonders fortschrittlich sind. Nehmen Sie nur die großen IT-Konzerne im Silicon Valley. Die wissen, dass sie talentierte junge Frauen – und zunehmend auch Männer – nur als Arbeitnehmer behalten können, wenn sie ihnen fortschrittliche Arbeitszeitmodelle und Karrierepläne anbieten. Das reicht so weit, dass in großen US-Wirtschaftsprüfungsfirmen mittlerweile sogar Partner Teilzeit arbeiten dürfen, wenn sie sich mehr um ihre Familie kümmern wollen.

Facebook-Chefin Sheryl Sandberg hat einen anderen Rat für junge Leute, die Familie und Karriere verbinden wollen. „Lean in“ schrieb sie in ihrem höchsterfolgreichen Buch – man solle also aggressiver auch mal nach einer Beförderung verlangen oder eben Familienverträglichkeit vom Unternehmen einfordern.
Ich bewundere Sheryl Sandberg ganz außerordentlich, auch für den Mut, mit dem sie ihre Thesen ausspricht. Aber ich habe Probleme mit der Schlussfolgerung, die sie zieht. Die impliziert nämlich – in durchaus amerikanischer Tradition –, dass man schon alles schaffen kann und dass es eine Art von persönlichem Versagen bedeutet, wenn man das nicht tut. Sicher, es wird immer ein paar herausragende Menschen geben, die Kinder großziehen, ihre Eltern betreuen und gleichzeitig noch Vorstandsvorsitzende sein können. Die allermeisten von uns schaffen das aber nicht. Und dafür sollte man nicht die Menschen verantwortlich machen, sondern die Strukturen, die das unmöglich machen – wie etwa das Fehlen einer geeigneten Infrastruktur für die Kinderbetreuung.

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Sind die Amerikaner uns Deutschen voraus?
Na ja, Deutschland ist immer noch ziemlich sexistisch. Als ich Dekan der Fakultät in Princeton war, in der mein Mann als Professor arbeitet, konnte ich Deutschen bei Besuchen nie erklären, dass ich sein Chef bin. Sie haben das einfach nicht geglaubt und mich nicht ernst genommen.

Zumindest haben wir eine Kanzlerin …
… und eine Verteidigungsministerin mit sieben Kindern, Ursula von der Leyen.

Stimmt. SPD-Chef Sigmar Gabriel muss sich aber Spott anhören, wenn er ein paar Tage Auszeit nimmt, um seine kranke Tochter zu betreuen.
Das zeigt nur, wie schwer es Männer manchmal noch haben. Ich finde, Herr Gabriel ist ein sehr mutiger Mann, wenn er das tut und dazu öffentlich steht.

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