Arbeit im Tiny House Wie eine New-Work-Pionierin auf dem platten Land zurechtkommt

Das Mini-Haus von Nicole Dau und ihrem Mann ist Wohnung und Arbeitsplatz in einem - auf zwei Etagen mit ingesamt ungefähr 20 Quadratmetern. Quelle: Nicole Dau

Die Kommunikationsberaterin Nicole Dau lebt und arbeitet seit einigen Monaten in einem selbstgebauten Mini-Haus fernab von ihren Kollegen in Hamburg. Das Einzige, was sie braucht, ist schnelles Internet.

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Wenn Nicole Dau morgens mit der Arbeit anfängt, kann es sein, dass pickende Hühner und fauchende Gänse sie kurz darauf wieder ablenken. Wären es Autos und Hupen, ginge ihr das wahrscheinlich nicht so. Die ungewohnte Umgebung fordert die Sinne der ehemaligen Stadtbewohnerin heraus. Während die PR-Fachfrau am Laptop in die Sphären der digitalen Welt eintaucht und nach Trends Ausschau hält, sitzt sie in einem acht mal zweieinhalb Meter großen Tiny House – ein schmales Brett an der Außenwand dient als Arbeitstisch, ein schlanker Hochstuhl als Sitzgelegenheit. Mit zwei Schritten kann Dau wahlweise Küche, Bad oder Sofa erreichen. Außerhalb dieser Miniaturwohnung gibt es nur noch Felder, Wiesen und Wälder.

Das Wendland ist eher das Reich der Bauern, der Schweinemastanlagen und der weiten Getreidefelder. Nicht das Reich von PR-Agenturen. Weder die Gänse noch die niedersächsischen Bauern interessieren sich für das, was Nicole Dau da in ihrem winzigen Büro tut. Das Internet, für ihr Homeoffice die allesentscheidende Bedingung, kommt durch ein selbstverlegtes, 150 Meter langes Erdkabel, das ihren Bauwagen mit dem eigens für sie freigeschalteten Anschluss im nahegelegenen Landwirtschaftsbetrieb verbindet. Die Leute hier, erzählt Dau, bräuchten zum Teil nur „dreimal im Jahr“ das Internet und wunderten sich bisweilen darüber, warum das eigentlich so ein großes Ding sein soll.

Genau das schätzt die 32-jährige Kommunikationsberaterin aus Hamburg, deswegen hat sie ihren Lebensmittelpunkt gezielt hierher verlegt. „Der Kontrast zwischen meiner Umgebung und meiner Arbeit erweitert die Perspektive. Manche Sachen halten wir inzwischen für selbstverständlich, zum Beispiel, dass jeder in diesen Digitaldingen drin ist. Seit ich auf dem Land lebe und mich mit den Leuten hier unterhalte, hat sich das verändert. Die haben von vielen Dingen noch nie gehört“, sagt sie. Wenn man sonst auf jeder digitalen Welle mitschwimmt, erdet es enorm, wenn man sieht, dass Menschen auch ohne Tools, Gadgets und andere Spielereien gut und zufrieden leben.

Vergangenes Jahr haben sich Nicole Dau und ihr Mann, ein selbständiger Heilpraktiker, für die radikale Lösung ihres Problems entschieden. Eine sich behäbig anfühlende Routine und das Gefühl von zu viel Ballast brachte die beiden zum Experiment des Lebens im Bauwagen. Leben und Arbeiten im Hamburger Szenekiez hatte für das junge Ehepaar an Reiz verloren. Im Dezember war es so weit: Sie gaben ihre Wohnung in Hamburg auf und tauschten sie gegen das zuvor über Monate selbstgezimmerte Tiny House auf der Basis eines alten DDR-Bauwagens. „Wir sind wahnsinnig oft umgezogen und haben festgestellt, dass viele Dinge nur noch von Keller zu Keller umgezogen sind. Man braucht das meiste nicht. Wir wollten uns davon befreien, gleichzeitig ein eigenes Haus besitzen und trotzdem mobil bleiben“, erzählt Dau.

Obwohl die neue Umgebung für die Städterin geradezu einen Kulturschock darstellen muss, vermisst Nicole Dau die Großstadt nicht. Statt Zentralheizung bollerte in den ersten Monaten ein mit Holz betriebener Werkstattofen vor sich hin. Statt ins Fitnessstudio gehen sie in den Wald, statt Kinobesuch zimmern sie weiter an ihrem neuen kleinen Heim. Das Experiment begann schon mit dem Bau an sich: „Wir wollten selbst herausfinden: Was ist möglich mit wenig Geld. Wir wollten möglichst wenig selbst kaufen und auf Material zurückgreifen, das schon da ist. Unser neues Heim besteht zu 80 Prozent aus wiederverwertetem Material“, sagt Dau.

Ein Bauwagen als Tiny House und Büro
An einem schmalen Tisch verbringt Nicole Dau ihren Arbeitstag im Tiny House. Wenn sie eine Pause braucht, geht sie einfach nach draußen. Quelle: Nicole Dau
Fast alles in dem selbstgebauten Mini-Zuhause hat nichts oder sehr wenig gekostet - die Bauherren haben es zusammengesucht, geschenkt bekommen oder über Kleinanzeigen erworben. Quelle: Nicole Dau
Draußensein ist Teil des Zuhauses. Nach den ersten Monaten, in denen zum Teil klirrende Kälte draußen herrschte, genießt das Ehepaar jetzt den Frühling und das Gärtnern vor dem Bauwagen. Quelle: Nicole Dau
Offline sein ist im Emsland einfacher als in der Stadt. Viele Nachbarn dort sind es immer - und vermissen nichts. Quelle: Nicole Dau
Die Küche bietet alles, was man zum Kochen und Essen braucht – nur auf sehr kleinem Raum. Quelle: Nicole Dau
Blick auf Wohnzimmer und Arbeitsplatz. Der kleine Ofen sorgt bei Bedarf für Wärme. Quelle: Nicole Dau
Das Tiny House hat seinen Platz am Rand eines landwirtschaftlichen Betriebs gefunden. Die Stellplatzsuche ist in Deutschland nicht so einfach wie in den USA, wo die Bewegung ihren Ursprung hat. Quelle: Nicole Dau

Die Tiny-House-Bewegung stammt aus den USA, wo viele Menschen wegen Wohnungsnot, Armut, Pragmatismus oder ökologisch motivierter Selbstbeschränkung – häufig auch aus all diesen Gründen zusammen – auf die mobilen Mini-Häuser setzen, die in der Regel nicht viel mehr als 15 Quadratmeter Grundfläche besitzen. Auch bei Nicole Dau und ihrem Mann war Pragmatismus im Spiel bei der Entscheidung für ein Tiny House. Für die Selbermacher wäre ein fest gemauertes Haus eine zu große Herausforderung gewesen, es hätte auch nicht die gewünschte Unabhängigkeit gebracht, geschweige denn die extreme Selbstbeschränkung in Sachen Besitztümer befördert.

Abgesehen von den ungewohnten Tiergeräuschen tut das Wenig-Haben auch der Arbeit gut, hat Nicole Dau festgestellt. Sie fühlt sich durch den natürlichen Ausgleich, den Städter durch weite Fahrten ins Grüne anstreben und so oft doch nicht wirklich erreichen, frischer im Kopf. Durch die handwerkliche Arbeit fände sie neue Zugänge auch in der digitalen Welt. „Natur, Frischluft, Arbeit mit den Händen, offline sein, ein Haus bauen, statt Tastatur eine Kreissäge oder einen Pinsel in der Hand haben, überlegen, wie man aus den gesammelten Dingen etwas Schönes macht – das ist ein ganz anderes Denken, das andere Regionen im Hirn triggert“, schwärmt sie. Wenn sie Lust hat, geht sie jetzt manchmal ohne Handy in der Umgebung spazieren und lässt die Natur auf ihre Sinne wirken. In der Großstadt undenkbar.

Dau tritt den Beweis an, dass New Work funktionieren kann

Wie aber harmoniert ihr Eremitendasein im Wendland mit der anspruchsvollen Tätigkeit als Festangestellte in der Agentur Oseon mit Dependancen in Hamburg und Frankfurt, mit Kundenterminen und Gesprächsbedarf ohne Ende? Erstaunlich gut, meint Nicole Dau und scheint selbst ein wenig überrascht zu sein. „Vieles ist gleichgeblieben. Als Kommunikationsagentur kommunizieren wir untereinander sowieso viel auf digitalem Wege, wir nutzen Slack und Trello, ein Projektmanagementtool. Auch die Zeiterfassung läuft über ein digitales Tool. Das kommt mir alles zugute“, erklärt sie. Ihren Schwerpunkt hat sie nach Beratungen mit ihren Vorgesetzten ein wenig weg von der Kundenbetreuung und hin zu Trendscouting verlegt, was sich leichter mit dem Bauwagen-Office vereinbaren lässt.

Dau legt Wert darauf, dass sie sich ihren neuen Status über mehrere Jahre erarbeitet habe. „Ich bin sehr gut eingearbeitet, kenne die Prozesse und das Team. Kollegen, die erst seit kurzem dabei sind, brauchen sicher eher noch etwas Training und aktiven Austausch“, sagt sie. Würden alle Kollegen es ihr gleichtun und aus Tiny Houses irgendwo in der Pampa, wie sie das Wendland selbst nennt, arbeiten wollen, würde es den Rahmen vermutlich sprengen. So betrachtet Nicole Dau ihr Homeoffice als Privileg, freut sich aber auch darüber, ihren Kollegen und Chefs zeigen zu können, was „man alles so machen kann“.

Nicole Dau ist damit eine typische Vertreterin der Generation „New Work“. Sie setzt auf flexibles, ortsungebundenes Arbeiten und will beweisen, dass die Arbeitsleistung darunter nicht leidet – im Gegenteil. Das scheinbar einsame Schaffen fernab von Kollegen – und überhaupt Menschen – ist dank digitaler Helfer alles andere als eintönig. Trotzdem ist es Typsache, ob diese extreme Form des Homeoffice gelingt. Es braucht Selbstdisziplin, Organisationstalent und Fokussierung. Nicole Dau ist dankbar, dass sie die Chance bekommen hat.

Ein typischer Arbeitstag im Tiny House beginnt um sechs Uhr morgens. Nach einem gemeinsamen Frühstück bringt Nicole Dau ihren Mann in dessen neue Praxis in einem nahegelegenen Ort. Mit einer Kanne Tee daneben startet Dau gegen acht Uhr ihren Laptop und öffnet ihr Telefon-Plugin, um Büroanrufe direkt weitergeleitet zu bekommen. Im Projektmanagementtool sieht sie, welche Aufgaben anstehen. Teaminterne Besprechungen laufen über eine Telefonkonferenz. Wenn alles geklärt ist, sagt Dau, sieht ihre Arbeit kaum anders aus als an einem Tag im Büro. „Nur gehe ich mittags im Wald spazieren statt über die Sternschanze in Hamburg.“

Einmal pro Woche ungefähr setzt sich Nicole Dau trotzdem in ihr Auto, um die Kollegen in Hamburg zu treffen und Kundentermine zu absolvieren. Das bedeutet Aufstehen um 4.30 Uhr und nach schnellem Frühstück los. Die Umstellung von vormals 15 Minuten per Rad auf zwei Stunden Pendlerverkehr nach Hamburg fiel ihr weitaus schwerer als das Wohnen im Tiny House. Der Pendlertag endet häufig erst gegen 21 Uhr, wenn Dau wieder im Wendland ankommt. Auch Termine bei den Kollegen in Frankfurt erfordern jetzt minutiöse Planung: „Ich muss schauen, wann der Zug fährt und ob es vernünftiger ist, zuvor bei Freunden in der Stadt zu übernachten“, sagt Dau. Ein weiterer neuer Zwang: „Mein Auto muss definitiv funktionieren, ohne funktioniert es hier draußen nicht.“

Die häufig erzwungene Zweisamkeit stellt für das Paar dagegen kein Problem dar. „Wir treten uns nicht auf die Füße, trotz des begrenzten Platzes hier“, sagt Dau. Das viele Draußensein erweitere tatsächlich eher den Raum im Vergleich zu früher. „Außerdem gehören wir zu den Paaren, die sehr gerne viel Zeit miteinander verbringen. Im Studium hatten wir auch immer nur ein Zimmer.“

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