Arbeitsalltag Achtsamkeit kann Sie zu einer besseren Führungskraft machen

Achtsamkeit und Meditation im Büro Quelle: imago images

Atemübungen vor Meetings, spezielle Führungskräfte-Trainings und Meditation nach Feierabend: Unternehmen finden Gefallen an Achtsamkeitsmethoden, die Mitarbeiter gelassener machen – und produktiver.

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Christian Weihers Welt besteht aus Zahlen. Der Chemieingenieur arbeitet als Entwicklungslaborleiter bei BASF Coatings. Wenn er eine Entscheidung trifft, basiert sie auf Fallstudien, Laborwerten und ähnlichen Ergebnissen. Doch seit Kurzem bezieht der 37-Jährige noch einen weiteren Faktor ein: seine Intuition.

Das ist nicht die einzige Veränderung in Weihers Arbeitsalltag. In Konflikten agiert der Personalverantwortliche besonnener, bei der Suche nach Lösungen legt er mehr Kreativität an den Tag. Nach Feierabend kann Weiher jetzt besser abschalten. Die Eigenschaft, der Weiher seine neue Gelassenheit verdankt, heißt Achtsamkeit.

Diese besondere Art der Aufmerksamkeit, bei der es darum geht, den gegenwärtigen Augenblick wach und präsent zu erleben, lässt ihn einen kühleren Kopf bewahren. Die am weitesten verbreitete Methode, um Achtsamkeit zu erlernen, heißt Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR). Sie wurde Ende der 1970er-Jahre von dem US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt.

Lange Zeit wurde MBSR vornehmlich im klinischen Bereich eingesetzt, etwa bei Angststörungen, Depressionen und zur Schmerzprävention. Doch in Zeiten von Dauerstress und Burnout interessieren sich auch mehr und mehr Unternehmen dafür: Bosch, SAP und BASF sind einige der Firmen, die momentan auf Achtsamkeitsseminaren über ihre Erfahrungen berichten. Die bekannteste Technik, um Achtsamkeit zu schulen, ist Meditation. Diese und andere Übungen können in achtwöchigen MBSR-Trainings gelernt werden, aber auch in anderen, mitunter kürzeren Workshops.

Bei Weiher war es ein Führungskräfte-Coaching, das Personalverantwortliche auf einen bevorstehenden Change-Prozess vorbereiten sollte. Zwar beinhaltete das Seminar gängige Themen wie Change- und Konfliktmanagement sowie Führung der eigenen Person.

Diese waren aber immer mit der Fragestellung verknüpft, wie man künftig achtsamer mit sich und anderen umgehen kann. Dazu wurden die Führungskräfte in Präsenzübungen wie Atemfokussierung, Gehmeditation und Bodyscan geschult. Bei den ersten beiden Übungen geht es darum, sich auf den Atem – beziehungsweise auf die Schritte – zu konzentrieren. Die dritte ist eine gedankliche Reise durch den Körper.

Stress lass nach: 10 Aha-Momente für jeden Arbeitstag

Alles Humbug? Mitnichten. Die Diplom-Psychologin und Neurowissenschaftlerin Britta Hölzel hat an der Harvard Medical School in Boston analysiert, wie sich Achtsamkeitspraktiken auf Strukturen und Funktionsweisen im Gehirn auswirken. Dafür untersuchte sie die Teilnehmer von MBSR-Trainings vor dem Kurs und danach. Sie fand heraus, dass sich die Struktur der grauen Substanz im Hippocampus – einem Hirnbereich, der für Gedächtnis, Lernprozesse und Emotionsregulation zuständig ist – verstärkt hatte. In der Amygdala – dem Teil im Gehirn, der unseren Körper in Alarmbereitschaft versetzt und bei Gefahr dafür sorgt, dass wir kämpfen oder weglaufen – hatte sich diese Substanz einhergehend mit dem reduzierten Stressempfinden verkleinert.

Hirnforscher finden Veränderungen durch Achtsamkeitsübungen

Die Veränderungen zeigen Hölzel zufolge, dass sich beide Bereiche während des MBSR-Trainings von Belastungen durch Stress erholt hatten: Der Hippocampus hatte beschädigtes Gewebe wieder aufgebaut, die Amygdala, die sich bei Stress vergrößert, war kleiner geworden. Wie lange solche Veränderungen anhalten, kann Hölzel nicht sagen. Wohl aber, dass es sie gibt – und dass regelmäßiges Achtsamkeitstraining wesentlich zur Bewältigung von Stress beitragen kann.

Für Weiher sind es zehn Minuten Meditation täglich und einige kurze Übungen, die er bei Bedarf einstreut. Er ist überzeugt, dass sich Achtsamkeit bei jedem anders anfühlt. Wie er sich fühlt, beschreibt er so: „Es gibt einen winzigen Moment zwischen Reiz und Reaktion, den es zu bemerken und zu nutzen gilt. In diesem Moment habe ich die Wahl: Verfalle ich in alte Denk- und Handlungsmuster, oder ändere ich etwas?“

Dieses „etwas“ kann bedeuten, sich in einem Konflikt in sein Gegenüber hineinzuversetzen und nach einem Kompromiss zu suchen – statt zum Angriff überzugehen. Oder Lehren aus einem missglückten Versuch zu ziehen – statt ihn frustriert als Zeitverschwendung abzustempeln. Oder beim Anblick einer langen To-Do-Liste kurz innezuhalten und die Aufgaben in Ruhe zu priorisieren, statt in Panik zu verfallen. Oder Dinge, die man schon immer so gemacht hat, einmal anders zu machen – und so bei der Suche nach einer Innovation vielleicht einen Schritt weiter zu kommen.

Achtsamkeit fühlt sich für jeden anders an

Wie kommt die Achtsamkeit ins Unternehmen? Expertin Hölzel zufolge gibt es viele unterschiedliche Programme, die auf Mitarbeiter und Führungskräfte abzielen – das in Skandinavien häufig eingesetzte „Corporate-Based Mindfulness Training“ und das beim Suchmaschinengiganten Google entwickelte Programm „Search Inside Yourself“ zählen zu den bekannteren. Auf dem Markt gebe es viele individuelle Anbieter, die ihre Schulungen auf die jeweiligen Bedürfnisse abstimmen.

Schlussendlich fühlt sich Achtsamkeit nicht nur für jeden anders an – der Erfolg von Schulungen und Workshops steht und fällt mit den Teilnehmern. In Weihers Fall sieht es so aus: Seine Weiterbildung hat ihn zu einem überzeugten Praktizierenden gemacht. Die Entscheidung, ob weitere Angebote zum Thema Achtsame Führung folgen, steht bald an. Die Entscheidung steht noch aus. Vielleicht ist auch das ein Fall für seine Intuition.

Bei der Agentur Virtual Identity hat sich Achtsamkeit als Teil der Meetingkultur durchgesetzt. „Zu Beginn gibt es eine Einstimmung auf das Thema des Treffens“, sagt Personalleiterin Kirsten Heller. „Sie wird in den Teams unterschiedlich umgesetzt.“ Manchmal sitzen die Teilnehmer zunächst eine Minute still zusammen, bevor der erste spricht. Oder jemand äußert seine Gefühle, positive wie negative. Letzteres kann die Furcht sein, zusätzliche Aufgaben nicht zu schaffen, oder Wut über ein Projekt mit geringen Erfolgsaussichten. „Damit sind Konflikte gleich zu Beginn auf dem Tisch“, sagt Heller.

Zudem werden im Vorfeld Ziele definiert und wie viel Zeit das Thema in Anspruch nehmen soll. Am Ende folgt eine Ausstimmung mit der Frage: Wurde das Ziel erreicht? Und falls nicht: Was kann man fürs nächste Mal lernen? „Unsere Erfahrung: Wir achten stärker darauf, wofür wir unsere Arbeitszeit und die unserer Kollegen verwenden“, sagt Heller. „Achtsamkeit steigert nicht nur die Kreativität, sie schafft auch Ressourcenbewusstsein.“

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