Sie spricht einfach zu leise. Und zu monoton. „Noch mal! Sag es noch einmal“, sagt der Trainer mit dem rosa Pullover und dem weißen Kangol-Cap. „Ich heiße Xue Li. Ich spiele gern Badminton“, wiederholt die junge Frau mit der randlosen Brille. Klingt schon besser. Aber noch nicht kräftig genug.
Rund 50 Leute sitzen im 21. Stockwerk eines Hotels in Shanghai auf Yoga-Matten auf dem Boden und hören zu. Die Fensterscheiben auf der einen Seite des Saals sind beschlagen, gegenüber steht eine Spiegelwand. Gerade stellen sich sechs von ihnen mit Namen und Hobby vor.
„Sag es noch lauter. Alle im Saal sollen es hören.“
„Ich heiße Xue Li“, ruft sie. „Ich spiele gerne Badminton.“
Gut. Nächster.
„Meine Name ist Ping Long“, sagt der Junge, die Hände in den Hosentaschen. Auch er spielt gerne Badminton, und um sich besser auf seine Stimme konzentrieren zu können, trägt er eine Schlafbrille.
„Stell dich gerade hin und nimm die Hände aus den Hosentaschen“, raunzt ihn der Trainer an. „Das kommt bei den Mädchen nicht gut an.“
Stimme verändern, um attraktiver zu wirken
Beim Date-Camp geht es an diesem Abend um die Stimme. „Welche hat euch am besten gefallen und warum?“, fragt der Trainer. Die Gruppe stimmt ab. Später wird er den Teilnehmern erklären, wie man seine eigene Stimme verändern kann, um noch attraktiver zu wirken.
An anderen Abenden trainieren die jungen Leute aus Chinas neuer Mittelschicht, überwiegend weiblich, attraktiv und alle so zwischen 25 und 35 Jahre alt, Konversation, Flirten, Tanzen und körperlichen Ausdruck. Letzteres richtet sich vor allem an weibliche Teilnehmer. Viele kommen anfangs mit hängenden Schultern, gesenkten Köpfen und in Tippelschritten daher. Attraktiv wirkt das nicht. Sie alle sind Single und wollen es nicht bleiben. Deswegen üben sie drei Monate lag jede Woche einmal, was für Pubertierende im Westen ganz alltäglich ist: anquatschen, anbandeln, sich verlieben.
Junge Leute in China
„Single-Sein in China bedeutet nicht dasselbe wie im Westen“, sagt Wu Di. Die 45-Jährige muss es wissen. Sie hatte in den Neunzigerjahren in den USA Psychologie studiert und nach ihrer Rückkehr zunächst als Paartherapeutin gearbeitet. Dann häuften sich die Anfragen junger verzweifelter Frauen: Was stimmt nicht mit mir? Warum habe ich keinen Freund? Wie finde ich einen Mann? So gründete sie vor zwei Jahren zusammen mit einem Salsa-Lehrer das Date-Camp. „Die meisten der Kursteilnehmer hatten noch nie eine Beziehung und haben so gut wie keine Erfahrung.“
In ihren Kursen versucht sie, ihren Kunden beizubringen, schneller und leichter zum anderen Geschlecht zu finden. Denn viele junge Chinesen wissen nicht, wie das mit dem Verlieben und Lieben geht. „Alle meine Schüler träumen von einer romantischen Liebe, die sie aus westlichen Filmen kennen“, sagt Wu Di. „Erfahrung mit der Realität aber haben sie keine.“
Gewaltiger Druck auf jungen Chinesen
Auf jungen Chinesen beiderlei Geschlechts, die nach 1980 geboren wurden, lastet ein gewaltiger Druck. Vielen fehlen Zeit und Chancen, Partner kennenzulernen: Auf Schule folgt Universität, dann die Arbeit. Die sozialen Kreise sind klein. Das Leben vieler Mittzwanziger spielt sich zwischen dem Arbeitsplatz und der Wohnung der Eltern ab. Zwar ist der Markt für Dating-Web-Sites auf rund 300 Millionen Dollar angewachsen, doch die sind eher Symptom des Problems als Teil der Lösung: Rund 180 Millionen Singles sind in China auf Partnersuche. Aber der Wettbewerb ist hart. Was vor allem zählt, sind: Einkommen, Ersparnisse, Wohnungseigentum. Dennoch sehnen sich viele junge Chinesen nach mehr.
Li Bing hat auf Weibo, dem chinesischen Kurznachrichtendienst, vom Date-Camp erfahren. „Ich will herausfinden, warum ich noch Single bin“, sagt die 29-jährige Archäologin. Ihren letzten Freund hatte sie vor zwei Jahren, sagt sie. Seitdem laufe nichts. „Ein Problem ist, dass die Männer nicht mehr die Initiative ergreifen“, sagt sie. „Die sitzen nur daheim rum und spielen Online-Games.“
Man braucht vermögende Eltern
Auch junge Männer in China stehen unter Druck. Von ihnen wird erwartet, dass sie eine gesicherte Existenz vorweisen können, wenn sie heiraten wollen. „Wir sollen Haus, Job und Auto haben, bevor wir heiraten können“, klagt der 29-jährige Bell Xiong. Denn traditionell reden die Familien bei der Heirat mit. „Vor allem die Mütter der Frauen sind dabei sehr engagiert. Ohne eigene Wohnung braucht man sich bei ihnen nicht blicken lassen.“
Wer als Mann keine vermögenden Eltern hat, bekommt auch kaum eine Frau. Das Durchschnittsgehalt von Universitätsabsolventen lag 2011 bei etwas mehr als 2700 Yuan (etwa 330 Euro). Das ist weniger als manche ausgebildeten Wanderarbeiter verdienen. Ein 90-Quadratmeter-Apartment in der Innenstadt Shanghais kostet aber bis zu 500.000 Euro. Ist das nicht vorhanden, hilft auch die größte Liebe nichts.
Ein-Kind-Politik
„Das ist eben so, da kann man noch so romantisch sein“, sagt Zhuang Li Jian, ein 33-jähriger IT-Berater. Er gehört zu den Glücklichen, die all das vorweisen können. Seine Freundin will er noch in diesem Jahr heiraten. Aber auch das ist ein finanzieller Kraftakt: Zwischen 200.000 und 300.000 Yuan (rund 24.500 bis 37.000 Euro) kostet eine Feier.
Auch auf dem Heiratsmarkt gilt: Knappheit treibt den Preis. Auf 118 Männer kommen bei den nach 1980 Geborenen 100 Frauen. Besonders auf dem Land führt die Ein-Kind-Politik dazu, dass Eltern sich männliche Nachkommen wünschen, und so trieben viele jahrelang Mädchen ab. Die Geschlechtsbestimmung vor der Geburt ist zwar in China mittlerweile verboten. Trotzdem werden in den nächsten Jahren rund 24 Millionen Männer keine Frau finden. „Männer aus den unteren Schichten leiden darunter am meisten“, sagt Richard Burger, Autor des Buches „Behind the Red Door: Sex in China“.
Viele Eltern legen Geld zurück
Kein Wunder also, dass Eltern männlicher Sprösslinge besonders viel Geld zurücklegen, wie eine Studie der Universität Chicago aus dem Jahr 2011 belegt. Das „kompetitive Sparen“ soll die Chancen des Sohnes erhöhen, eine Frau zu bekommen. So treibt Chinas Bevölkerungspolitik auch die Sparquote in die Höhe. 30 Prozent des verfügbaren Einkommens legt ein chinesischer Stadtbewohner im Schnitt auf die hohe Kante – fast doppelt so viel wie 20 Jahre zuvor.
„Diamond Wedding“, eine Partnerschaftsagentur in Shanghai, verspricht reichen Chinesen, innerhalb eines Monats die passende Frau zu vermitteln. Die Erfolgsquote liegt angeblich bei 85 Prozent. Kunde wird allerdings nur, wer ein Vermögen von fünf Millionen Yuan (gut 600.000 Euro) nachweisen kann. 200 Mitarbeiter sind laut Angaben der Agentur auf der Suche nach „gebildeten Jungfrauen mit weißer Haut“.
Erst nach dem Universitätsabschluss
Leicht haben es aber auch junge Frauen nicht – trotz des Überangebots an Männern. Je attraktiver sie sind, desto mehr erwarten Eltern von ihren Töchtern, einen ordentlich verdienenden Mann zu finden. Allerdings erst nach dem Universitätsabschluss, denn während Schulzeit und Studium sind männliche Freunde tabu. Zudem erwarten Männer von ihren zukünftigen Frauen, jungfräulich in die Ehe zu gehen.
Auf einer Hochzeitsmesse in Shanghai verkauft Lisa Li Pillen und Massagen zur Fruchtbarkeitssteigerung. Ihre Mitarbeiter tragen weiße Kittel und Atemmasken, wohl um dem Unternehmen ein medizinisches Image zu geben. 650 Yuan, knapp 80 Euro, kostet eine Pillenpackung. „Es geht bei der Heirat nicht nur um zwei Menschen, sondern auch darum, Familiennachwuchs zu zeugen“, sagt Li. „Dafür muss die Frau gesund sein.“ Die Behandlung würden meist die Schwiegermütter bezahlen, sagt Li.
Alter, Wohnung, monatliches Einkommen
„Es geht nur um das Materielle“, klagt Miao Meibao. „Ob ich glücklich bin, das interessiert meine Eltern nicht.“ Die 33-Jährige hat eine Zeit lang in London gelebt und fühlt sich in Shanghai „zur Loserin abgestempelt“, obwohl sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Karriere macht. „Meine Mutter, meine Tanten, alle fragen mich ständig: Warum hast du keinen Mann? Was stimmt mit dir nicht?“ Mit ihren 33 Jahren gilt Miao Meibao als „Sheng Nu“ – als übrig Gebliebene.
Für viele Eltern ist die Heirat ein Geschäft, bei dem es vor allem darum geht, materiell möglichst viel herauszuschlagen. Auf dem sonntäglichen Heiratsmarkt im Zentrum Shanghais sitzen Eltern und Großeltern und preisen die Vorzüge ihrer Kinder und Enkel an. Die Stimmung erinnert eher an einen Viehmarkt: Hunderte von Mittfünfzigern drängeln und begutachten die Ware. Auf laminierten Zetteln werden freiwillige und weniger freiwillige Heiratskandidaten angepriesen. Die wichtigsten Kriterien: Alter, Wohnung und monatliches Einkommen. Kommen zwei Eltern ins Geschäft, bringen sie ihre Kinder mit sanften Druck dazu, sich zu treffen.
Hohe Erwartungen der Eltern
Etwas leichter haben es junge Chinesen, die von ihren Eltern entfernt leben. Sie müssen sich den drängenden Fragen der Eltern nur einmal im Jahr stellen, wenn sich während des Frühlingsfestes alle Familien in China treffen. Seit einiger Zeit lässt sich eine Begleitung für diese anstrengende Woche mieten. Auf Taobao, ähnlich dem westlichen Ebay, bieten Männer wie Frauen an, sich gegen Geld als Partner auszugeben. Die Preise sind exakt gestaffelt: Teetrinken mit Oma 30 Yuan (knapp 3,70 Euro), Kinobesuch mit den Eltern das Doppelte, der ganze Tag bis zu 250 Euro. Die Kunden erkaufen sich so Ruhe vor den drängenden Fragen der Eltern.
In China werden Generationen oft nach dem Jahrzehnt ihrer Geburt differenziert. Die Fünfziger und Sechziger verbreiteten während der Kulturrevolution entweder als Teil der Roten Garden Schrecken und verbrannten Bücher – oder sie wurden zu deren Opfern. Die Siebziger profitierten am meisten von der darauffolgenden Öffnung. „Die Achtziger und Neunziger haben es am schwersten“, sagt Wu Di. Es sind ganz überwiegend Einzelkinder, auf denen alle Erwartungen der Eltern ruhen.
Deren Generation hat nicht nur am meisten unter der Kulturrevolution gelitten. Sie kennt auch die Partnerwahl nur als Akt staatlicher Willkür. Damals suchten die Arbeitseinheiten, die „Danwei“, in denen die arbeitende Bevölkerung organisiert war, vermeintlich passende Partner aus. Männer wie Frauen trugen die gleichen Mao-Uniformen. Rendezvous wurden als bourgeois verachtet. „Liebe oder Romantik hat man dieser Generation komplett genommen“, sagt Buchautor Richard Burger. Diesen Eltern fällt es schwer, heute Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Kinder aufzubringen. „Beziehung ohne Heirat wird von den Eltern als Zeitverschwendung betrachtet“, sagt die Psychologin Wu Di.
370 Euro für einen Kurs
Gemessen daran, vollzieht sich in ihrem Date-Camp ein gewaltiger gesellschaftlicher Umbruch. 3000 Yuan (etwa 370 Euro) kostet ein Kurs. Der Markt für solche Angebote boomt. „Aber viele unsere Konkurrenten bieten nur Drei-Tage-Kurse an“, sagt Wu Di. „Wir sind der Meinung, dass es mehr Zeit braucht, um solche Dinge zu lernen.“
Der Trainer fordert jetzt einen Mann und eine Frau auf, sich Rücken an Rücken zu stellen und sich vorzustellen, ein Telefongespräch zu führen und dabei auf ihre Stimme zu achten.
„Hi, ich wollte fragen...“, stottert der junge Mann. „Ich wollte fragen, ob...“
Der Trainer lächelt, das Publikum kichert.
Beim dritten Mal klappt es.
„Ich wollte fragen, ob du mit mir ausgehen möchtest.“
„Ja“, antwortet die junge Frau.
Applaus.
Trotz der Liebeskrise gibt es aber auch Paare, die ohne Kurse, Geld und Eltern zueinanderfinden. Zhang Yi Kaien und Zheng Fan informieren sich auf der Hochzeitsmesse über Flitterwochenangebote. Sie würden gerne auf die Malediven oder nach Europa. Im Oktober will der 29-jährige Arzt seine Freundin heiraten. Nein, eine Wohnung habe er nicht. „Aber du liebst mich trotzdem“, fragt er seine Freundin. „Oder?“
Sie nickt zaghaft.