Unter Begabungen verstehen Forscher all das, was Menschen gut können: verschiedene messbare Kompetenzen, unter anderem die kognitive Leistungsfähigkeit und emotionale Intelligenz, das räumliche Vorstellungsvermögen oder handwerkliches und künstlerisches Geschick. Doch nicht alles, was sie beherrschen, entspricht zwangsläufig ihren Interessen. Nur weil man etwas gerne und mit Leidenschaft tut, ist man nicht zwangsläufig gut darin.
Deshalb warnt Psychologe Neubauer auch davor, sein Hobby trotz mangelnder Fähigkeit zum Beruf zu machen. Dann bringe man sein Gehirn ständig an die Leistungsgrenzen, wie einen zu schwachen Motor, der ständig auf der Überholspur überlastet wird. „Wer seine Begabung außer Acht lässt, erlebt häufiger Misserfolge, bekommt negatives Feedback und wird im Beruf eher unzufrieden“, sagt der Forscher.
Wer die Jobsuche dagegen an den eigenen Talenten ausrichtet, dem gehen die anstehenden Aufgaben viel leichter von der Hand – und wer nur ein bisschen mehr investiert, kann einen ungleich höheren Ertrag erwarten. Dann erlebt man sich selbst als kompetent – und das ist im Sinne der Selbstbestimmungstheorie einer der wichtigsten Bausteine der Lebenszufriedenheit.
Nun appellieren die Psychologen mitnichten, die Fähigkeiten zur einzigen Priorität bei der Jobsuche auszurufen und die eigenen Interessen völlig auszublenden. Zumal Freude an der Tätigkeit auch die Leistung steigern kann. Dennoch: „Nicht alles im Leben macht immer und überall Spaß“, sagt Aljoscha Neubauer. Das gelte für die Arbeit ebenso wie für das Lernen. Zugunsten des Spaßfaktors etwas zu tun, das man eigentlich nicht so gut kann, sei natürlich auch möglich, sagt Neubauer: „Will man aber hoch hinaus, geht das auf Dauer nicht.“
Diese Erkenntnis trifft einen weiteren Glaubenssatz der heutigen Arbeitswelt: Der beste Beruf ist angeblich der, der auch Berufung ist – unabhängig davon, ob man dafür geeignet ist oder nicht. „Heute ist es für viele sehr wichtig, sich im Job selbst zu verwirklichen“, sagt Andreas Hirschi, „früher war es absurd, dass man seine Arbeit so sehr liebt.“
Der Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern hat sich auf die Erforschung der Berufswahl spezialisiert. Er hält die Idee, eine Berufung zu finden, nicht per se für falsch. Aber bitte nicht übertreiben: „Man muss nicht alle Interessen im Job verwirklichen, das geht auch im Privaten“, so Hirschi.
Gerade die heutige Arbeitswelt sei derart flexibel, dass man es in vielen Jobs schaffen könne, seine Interessen zumindest teilweise abzudecken – und dabei trotzdem seine Stärken einzusetzen. „Es gibt immer mehr Jobs mit immer ungewöhnlicheren Kombinationen“, sagt Hirschi. Analytisch-technische Interessen kann man heute zum Beispiel mit sportlichen Neigungen verbinden: Professionelle Vereine engagieren digitale Datenanalysten, die den Leistungssportlern dabei helfen, besser zu werden. Auch die Kombination aus künstlerischem und unternehmerischem Interesse war früher eher ein Widerspruch – heute können sie sich ergänzen.
Und selbst wenn es die Stellenbeschreibung nicht hergibt: Manchmal reicht es, an der ein oder anderen Stelle nachzujustieren. „Menschen haben heute mehr Kontrolle über ihre Arbeit und können eher gestalten, was sie machen“, sagt der Berner Professor, „So können Leute mit gleichem Jobtitel recht unterschiedliche Interessen ausleben.“
Job Crafting nennen die Amerikaner diese berufliche Erfüllung nach dem Baukastenprinzip. Wer zum Beispiel gerne schreibt, unglücklicherweise aber als Steuerberater arbeitet, könnte zum Beispiel Fachbeiträge für Zeitschriften oder Gutachten für Kunden verfassen. Wer sich als Ingenieur für Musik begeistert, kann sich, wenn schon nicht auf das eigentliche Erschaffen neuer Werke, dann doch wenigstens auf Musiktechnologie konzentrieren.
Im Idealfall wendet man so eben jene Fähigkeiten an, die man am besten beherrscht; sucht sich dabei ein Thema, das zumindest zum Teil den Interessen entspricht, bei dem die Rahmenbedingungen wie Arbeitszeiten und Gehalt stimmen – und man die eigene Persönlichkeit und die eigenen Werte mit der Tätigkeit in Einklang bringen kann.
Der ehemals angehende Lehrer Philipp Apke etwa ist genau so glücklich geworden und versucht, als BWL-studierter Karriereberater seine didaktischen Erfahrungen weiter zu nutzen. „Wenn ein simpler Interessenstest das Problem der Berufswahl lösen würde“, so Apke, „dann hätte ich bald nichts mehr zu tun.“